Die Flüchtlinge aus Nordafrika überfordern Italien

Aussitzen und abschieben

Tausende Flüchtlinge aus Nordafrika ­sitzen seit Tagen unter unmenschlichen Bedingungen auf der Insel Lampedusa fest. Die italienische Regierung hat offenbar keinen Plan, um mit der Situation umzugehen. Ihre einzige Lösung lautet: abschieben.

Ein »Gefängnis unter freiem Himmel« sei Lampedusa in den vergangenen Wochen geworden, sagte der Bürgermeister Bernardino de Rubeis in einem Fernsehinterview. Übertrieben hat er möglicherweise nur wenig. Im vergangenen Monat hat sich die Bevölkerung auf der Insel, die rund 4 500 Einwohner zählt, mehr als verdoppelt. Es gibt Tage, an denen innerhalb von 24 Stunden bis zu 2 000 Migranten ankommen, und das seit Wochen. Derzeit befinden sich auf Lampedusa mehr als 6 000 Migranten, meist junge Männer aus Tunesien und Ägypten. Hinzu kommen mehrere hundert Sicherheitsbeamte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Am frühen Sonntagmorgen erreichte erstmals ein Boot aus Libyen die kleinere Nebeninsel von Lampedusa, Linosa. Unter den 300 Flüchtlingen befand sich auch eine Frau, die auf der Überfahrt entbunden hatte.
Im einzigen, für rund 850 Personen ausgelegten Aufnahmezentrum von Lampedusa sind derzeit rund 2 000 Menschen untergebracht. Den anderen bleibt nur die Straße. Und auf den Straßen ist die Lage schon lange nicht mehr auzuhalten. Mehr als 2 000 Menschen sind gezwungen, unter LKW oder am Strand unter Plastikplanen zu übernachten. Andere haben sich auf den Hügeln oberhalb des Hafens Zelte zusammengebastelt. Seit Tagen sitzen sie auf der Insel fest und warten auf eine Möglichkeit, Sizilien oder das italienische Festland zu erreichen. Für die meisten von ihnen ist Italien nur ein Transitland, sie wollen nach Nordeuropa, vor allem nach Frankreich, wo viele von ihnen Verwandte oder Freunde haben.

Der italienische Staat scheint von diesem neuen Notstand völlig überfordert zu sein. Die Entlastung der Insel durch die Evakuierung der Migranten und ihre Verteilung in Aufnahmeeinrichtungen auf dem Festland verläuft nur schleppend und offenbar ziemlich planlos. Die Unterbringung, die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten ist nur minimal gewährleistet und meist ehernamtlichen oder kirchlichen Organisationen überlassen. Die lokalen Behörden haben bereits vor Tagen auf die Gefahr hingewiesen, dass Trinkwasser auf der Insel bald knapp werden könnte, und warnten vor einer akuten Epidemiegefahr.
Das sind Zustände, wie sie nicht einmal in Japan nach einem schweren Erdbeben, einem Tsunami und einer drohenden Atomkatastrophe eingetreten sind. Noch unglaublicher erscheint diese Entwicklung, wenn man sie mit der Lage in Tunesien vergleicht. Dort kamen in den vergangenen Wochen Hunderttausende Flüchtlinge aus Libyen an. In einem von internationalen Organisationen errichteten Flüchtlingscamp in Shousha, an der Grenze zu Libyen, warten derzeit mehr als 6 000 Menschen darauf, in ihre Herkunftsländer ausgeflogen zu werden. Angaben des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen zufolge waren bis zum 20. März insgesamt mehr als 30 000 Menschen vor dem Bürgerkrieg in Libyen geflohen. Über 16 000 von ihnen flohen nach Tunesien, rund 14 000 nach Ägypten. An der Grenze zu Libyen, in einem Land, wo noch nicht einmal eine gewählte Regierung an der Macht ist, werden trotz des Notstands die humanitären Standards eingehalten, Lampedusa hingegen bricht zusammen.
Anfang der Woche eskalierte die Situation auf der sizilianischen Insel, nachdem eine Gruppe tunesischer Flüchtlinge, die im Aufnahmezentrum untergebracht sind, gegen ihre geplante Repatriierung in den Hungerstreik getreten war und die Inselbewohner versucht hatten, den Hafen mit ihren Fischerbooten zu blockieren. Sie wollten weitere Landungen von barconi, wie man die Flüchtlingsboote aus Nordafrika nennt, verhindern. Erst dann beschloss die Regierung die Entsendung von sechs Passagierschiffen, die Platz für 10 000 Personen haben, um die Migranten von Lampedusa zu schaffen.

Doch ihre Verteilung gestaltet sich nicht nur logistisch als schwierig. Das viel größere Problem ist ein politisches. Denn die italienische Regierung und viele von Rechtskoalitionen regierten Regionen betrachten diese Menschen nicht als Flüchtlinge, sondern als »Illegale«, die sofort nach Tunesien zurückgeschafft gehören. Dort herrsche kein Krieg, argumentieren italienische Regierungsvertreter. Diesen Menschen die Möglichkeit zu geben, einen Asylantrag zu stellen, käme in dieser Logik einer »Einladung« gleich, und das kann sich eine Regierungskoalition, in der eine rechtspopulistische Partei wie die Lega Nord den Innenminister stellt, selbstverständlich nicht leisten. Man sei gerne bereit, Kriegsflüchtlinge aus Libyen aufzunehmen, sagte der Innenminister Roberto Maroni in einem Interview, die Regierung habe einen Plan ausgearbeitet, um bis zu 50 000 Menschen unterzubringen. Viel glaubwürdiger klang der Minister allerdings, als er ankündigte, Italien sei bereit, die Zwangsabschiebungen durchzuführen, um die Tunesier in ihr Herkunftsland zurückzuschicken.
Inzwischen werden nicht nur in der linken Opposition Stimmen laut, die der Regierung vorwerfen, sie habe die Situation in Lampedusa bewusst eskalieren lassen. Einerseits, um in der Öffentlichkeit Angst vor der »Invasion« der Migranten zu schüren, aber auch, um die Migranten selbst davon abschrecken, sich überhaupt auf dem Weg zu machen. Besonders erfolgreich war diese Strategie bislang nicht.