Die Revolten in Libyen und Marokko

Unser Freund, der König

Dass die Revolte in Libyen zum Bürgerkrieg eskalierte, ist auch die Folge eines Herrschaftssystems, das kein politisches Leben zuließ. Die Monarchie Marokkos ist kompromissbereiter, und sie kann weiterhin auf westliche Unterstützung zählen.

Die französische Staatsführung hat einen Freund weniger, dafür hat die britische Regierung ein Problem mehr. Oder auch eine zusätzliche Informationsquelle. Noch ist nicht ganz klar, welche Konsequenzen die Ankunft des libyschen Außenministers Moussa Koussa in London am Mittwoch vergangener Woche haben wird. Sicher ist, dass die Briten versuchen, von ihrem Gast möglichst viele Informationen über das Innenleben des libyschen Regimes zu erhalten. Seit seiner Ankunft befragt ihn der britische Nachrichtendienst MI6.
Doch gleichzeitig ist die Präsenz des bisherigen Vertrauten Muammar al-Gaddafis auf britischem Boden auch ein Problem. Denn Moussa Koussa wird nicht nur verdächtigt, für die Niederschlagung einer Demonstration in Bengasi im Februar 2006 maßgeblich verantwortlich zu sein, bei der 26 Menschen getötet wurden. Er wird auch vermutet, dass er an der Planung von Terroranschlägen beteiligt war.
Moussa Koussa war seit 2009 Außenminister, hatte aber zuvor 15 Jahre lang die Geheimdienste des Landes geführt. In dieser Funktion knüpfte er in jüngerer Vergangenheit auch freundschaftliche Beziehungen zu Claude Guéant, einem früheren Berater des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, der seit Ende Februar als Innenminister amtiert. Im Juli 2007 war Sarkozy nach Tripolis gereist, um die seit acht Jahren in Libyen wegen der angeblichen Verbreitung des Aids-Virus inhaftierten bulgarischen Krankenschwestern zu »befreien«. Über den Deal, der einer der ersten Profilierungsversuche Sarkozys in der internationalen Politik war, hatte Guéant zuvor mit Moussa Koussa verhandelt.
Doch in den achtziger Jahren arbeitete Moussa Koussa im »Büro für äußere Sicherheit«, das Guerilla- und Terrorgruppen unterstützte. Nun fordern die Hinterbliebenen der 170 Opfer, die der Bombenanschlag auf ein französisches Flugzeug im Jahr 1989 forderte, in London eine Vernehmung Koussas durch die Justiz. Inzwischen meldete sich auch die schottische Justiz zu Wort, die gerne wüsste, was Koussa eventuell mit dem Bombenanschlag auf ein anderes Flugzeug, das 1988 über Lockerbie in Schottland abstürzte, zu tun hatte. Am Montag erörterten die Ermittler diese Angelegenheit mit Vertretern des britischen Außenministeriums.

Ob Moussa Koussa ein Gast oder ein Untersuchungshäftling sein wird, ist noch unklar. Sicher ist, dass seine Flucht, die ihn überstürzt über Tunesien nach London führte, als ein weiteres Anzeichen für den Zerfall des libyschen Regimes gelten kann. Am Sonntag trat auch Gaddafis Berater Ali Triki zurück. Nicht wenige hohe Funktionäre des Regimes, darunter der frühere Innenminister und der langjährige Justizminister Mustafa Abdel Jalel, gehören mittlerweile dem Nationalen Übergangsrat der Rebellen in Bengasi an.
Abdel Jalel hat als Vorsitzender des Berufungsgerichts das Todesurteil gegen die bulgarischen Krankenschwestern unterschrieben. Dennoch genoss er in der libyschen Bevölkerung einen relativ guten Ruf, weil er für die Ausarbeitung einer Verfassung eintrat und sich gegen willkürliche Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren oder Urteil wandte. Im 31köpfigen Nationalen Übergangsrat sitzen die ehemaligen Funktionäre Gaddafis neben Unternehmern, Islamisten und Juristen, aber auch unverschleierten Frauen wie der sehr selbstbewussten Salwa Bougaghis.
In dem heterogen zusammengesetzten Gremium dürfte es auch höchst unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft Libyens geben. Eine erste »realpolitische« Entscheidung wird die europäischen Politiker erfreuen. Der Nationale Übergangsrat kündigte Anfang vergangener Woche an, im Falle eines Machtwechsels in Libyen auch zukünftig unerwünschte Migranten von Europa fern- und entsprechende Vereinbarungen mit Italien einzuhalten.
Dass an der politischen Führung der Rebellion ehemalige Funktionäre des Regimes beteiligt sind, spiegelt den Zustand der libyschen Gesellschaft ebenso wider wie das telegene, aber planlose militärische Vorgehen. Die libysche Opposition reflektiert die Situation eines Landes, in dem sich kaum nennenswerte Ansätze einer Arbeiterbewegung herausgebildet haben, anders als in Marokko, Algerien, Tunesien oder Ägypten. Unter Gaddafi gab es eine politische Instrumentalisierung tribaler Strukturen, aber keinerlei politisches Leben und eine nur schwache Institutionalisierung staatlicher Herrschaft. Auch deswegen wurden aus den Demonstrationen schnell bewaffnete Aufstände, zumal sich die Armee in Ostlibyen rasch spaltete.

Libyen ist in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht eine Ausnahme unter den nordafrikanischen Staaten. Dort hat die »tunesische Welle« mittlerweile Marokko erreicht, dessen Regime weiterhin gute Beziehungen zum Westen, vor allem zu Frankreich unterhält. In Marokko verbrachte Nicolas Sarkozy zwischen Weihnachten und Neujahr seinen Urlaub. Sein Amtsvorgänger Jacques Chirac hatte dort oftmals kostenlose Ferien auf Einladung der Monarchenfamilie gemacht. Die Beziehungen sind noch enger, als es jene zum alten Regime in Tunesien waren.
Marokko wird oft als konstitutionelle Monarchie dargestellt, doch hat König Mohammed VI. noch immer erhebliche Macht. Zwar führte sein Vater Hassan II., der bis zu seinem Tod 1999 das Land 38 Jahre lang mit harter Hand beherrscht hatte, in seinen letzten Lebensjahren noch eine Verfassung ein, die auch das Amt eines vom Parlament gewählten Premierministers vorsieht. Allerdings definiert der Verfassungstext zwar dessen Vollmachten und jene seiner Regierung, aber keineswegs die des Königs selbst. So kann der Monarch ohne Beteiligung des Parlaments politische Entscheidungen treffen.
Das Regime zeigt Kompromissbereitschaft, auch Demonstrationen werden bis zu einem gewissen Grade zugelassen. Doch die Reformen sollen der Stabilisierung der Monarchie dienen. So hatte Hassan II. eine Verfassung erstellen lassen, um die damals stärkste Oppositionspartei, die sozialdemokratische USFP (Sozialistische Union der Volkskräfte), einzubinden. Zwei Jahre vor seinem Ableben akzeptierte die USFP es denn auch, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen und sich in das politische System zu integrieren.
Doch auch in Marokko werden die Proteste stärker. Ermutigt von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten riefen Oppositionelle per Facebook zu Demonstrationen auf. Der erste Protesttag fand am 20. Februar statt. Gefordert wurden eine demokratische Verfassung, die Zurückdrängung der Korruption, ein Ende des Autoritarismus und vor allem der seit einiger Zeit wieder häufigeren Folterungen, höhere Löhne, mehr Arbeitsplätze sowie eine Anerkennung der Berbersprache Tamazight.
Die Proteste führten zum Streit in den etablierten Parteien, der stärksten Islamistenpartei PJD, die eine eher moderate und staatstragende Strategie ähnlich der türkischen AKP verfolgt, und der USFP. Während die alten Parteiführer die Proteste ablehnten, wollten die jungen Mitglieder sich beteiligen. Drei Führungsmitglieder des PJD traten zurück, möglicherweise wird Generalsekretär Abdelilah Benkirane, der eine Unterstützung der Demonstrationen explizit abgelehnt hatte, abgelöst werden.

Einhellige Unterstützung finden die Demons­tran­ten hingegen bei der Linken, sei es bei der undogmatischen linken Partei Demokratischer Weg, den Trotzkisten von El-Mounadhil-a oder der linkssozialistischen Partei PSU. Allein die ehemals kommunistische Partei PPS lehnt die Proteste ab, die sie als Werk von Unruhestiftern bezeichnete.
Anfangs war die Beteiligung an den Protesten noch etwas zögerlich. Die Veranstalter sprachen von 500 000 Protestierenden, doch Attac Marokko kam in einer wohl realistischen internen Analyse auf eine Beteiligung von landesweit 110 000 Menschen.
Einen Monat später, am 20. März, waren es bereits dreimal so viele. Es wurde nicht nur in den Metropolen Rabat und Casablanca protestiert, sondern auch in zahlreichen Provinzstädten wie Khourigba, Chouchène, Agadir und auch in al-Ayoun in der Westsahara. Überdies fanden zwischen den beiden Protesttagen Streiks von erheblichem Umfang in verschiedenen Bereichen statt, beispielsweise in der Phosphatindustrie, bei den Kommunalbediensteten und im Schulwesen.
Gegen Streiks und Demonstrationen der Lehrer in der letzten Märzwoche ging die Polizei in der Hauptstadt Rabat hart vor. Zunächst war von einem Todesopfer die Rede, ein Video zeigt einen am Boden liegenden Demons­tranten, der schwer aus einer Kopfwunde blutet. Inzwischen ist dessen Tod jedoch dementiert worden.
Bestätigt ist indessen, dass am 20. Februar in der Hauptstadt des Rif-Gebirges, einer von Berbern bewohnten peripheren Region, fünf Menschen getötet wurden. Dort war es im Anschluss an die ersten Demonstrationen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Protestierenden und der Polizei gekommen. Am 20. März stellten die Veranstalter eigene Ordnerdienste, um die Kontrolle über die Situation zu behalten. Überdies versuchen sie, eine Vereinnahmung durch politische Parteien zu verhindern. Örtliche Vorbereitungskomitees mit je 50 Personen sollen die Proteste dezentral organisieren.
König Mohammed VI. reagierte auf die Proteste, indem er in einer Thronrede Anfang März in Aussicht stellte, eine weniger autoritäre Verfassung ausarbeiten zu lassen. Doch die Überarbeitung des bestehenden Textes soll unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgen, beauftragt wird eine Kommission, die weitgehend aus der Monarchie nahestehenden Juristen besteht. Über das Ergebnis soll dann in einem Referendum abgestimmt werden. Die Protestierenden fordern eine demokratische Debatte über die neue Verfassung.
Zufrieden ist hingegen der französische Außenminister Alain Juppé, der Mohammed VI. »Mut« und »Weitblick« attestierte. Ihm antworteten schnell Demonstranten, die in Rabat ein Sit-in vor der französischen Botschaft abhielten und sich »Einmischung« seitens der früheren Protektoratsmacht verbaten.