Über die indische Atompolitik. Teil 3 einer Serie über die internationalen Atomdebatten

Indien spaltet weiter

Die indische Regierung sieht keinen Grund, die Pläne für den Ausbau der Atomenergie zu überdenken. Eine politisch bedeutsame Anti-AKW-Bewegung existiert in Indien nicht. Teil 3 einer Serie über die internationalen Debatten zum Thema Atompolitik.

Nichts deutet darauf hin, dass die Katastrophe von Fukushima die Pläne der indischen Regierung zum Ausbau der Atomenergie ändern könnte. Die ersten Reaktionen der staatlichen Atomenergie-Kommission und der Atomlobby wenige Tage nach dem Tsunami waren noch dilettantische, dreiste Versuche, die Öffentlichkeit zu beschwichtigen. So meinte S.K. Jain, Vorsitzender des größten Verbandes der indischen Atomindustrie, es habe keinen atomaren Unfall in Fukushima gegeben, und sagte, dass »es sich um gut geplante Notfallsimulation handelt«. Srikumar Banerjee, Sprecher der staatlichen Atombehörde, pflichtete ihm bei und ließ wissen, dass es sich um rein chemische Reaktionen handle und nicht um einen atomaren Notfall.
Indische Massenmedien, die in anderen Fällen gerne Lügen von Politikern skandalisieren, schenkten den Äußerungen auffällig wenig Beachtung. Selbst über die andauernde Katastrophe in Japan berichten indische Zeitungen an wenig prominenter Stelle. Premierminister Manmohan Singh kündigte im indischen Unterhaus an, die Sicherheitsstandards der bestehenden AKW überprüfen zu lassen. Ansonsten sieht Singh, ein überzeugter Anhänger der Atomenergie, keinen Grund, die Pläne für den Ausbau des Atomsektors zu überdenken.

Ausreichend Grund zur Sorge besteht allerdings. In den vergangenen 20 Jahren kam es zu mehreren Störfällen in verschiedenen indischen AKW. Im März 1993 führte ein Brand im Reaktor in der Stadt Narora im Bundesstaat Uttar Pradesh beinahe zu einem schweren atomaren Unfall. Das AKW Kalpakkam in Tamil Nadu entließ wiederholt radioaktives Wasser in die Umwelt. Insgesamt listet Greenpeace zehn relevante Störfälle in indischen AKW auf. Die Reaktion der Betreiber folgt dabei altbekannten Mustern: vertuschen, beschwichtigen und dementieren.
Derzeit decken 20 Atommeiler knapp drei Prozent des nationalen Stromverbrauchs. Bis zum Jahr 2020 soll dieser Anteil auf über zehn Prozent gesteigert werden, mindestens acht weitere AKW mit weitaus größerem Leistungsvolumen sind geplant. Neben indischen Eigenbau-AKW sollen Reaktoren der internationalen Atomkonzerne Rosatom, Areva und Westinghouse insgesamt 43 000 Megawatt produzieren. Vorige Woche unterzeichnete der französische Konzern Areva eine Absichtserklärung mit dem indischen Unternehmen NPCIL über die Lieferung bis zu sechs europäischer Druckwasserreaktoren. Pro Stück wird Areva bis fünf Millarden Euro berechnen. Nicolas Sarkozy hatte den Handel freundlicherweise eingefädelt und gemeinsam mit der Chefin von Areva, Anne Lauvergeon, erklärt, man wolle helfen, Indiens gewaltigen Energiebedarf zu decken.

Im Jahr 2007 gelang es Manmohan Singh mit seiner Minderheitsregierung, die damals umstrittenen Pläne für den Neubau der AKW erfolgreich im Parlament zur Abstimmung zu stellen. Kontrovers diskutiert wurden damals jedoch nicht die potentiellen Gefahren der Atomkraft, sondern die Frage der nationalen Souveränität. Denn Indiens zivile Atomanlagen werden gemäß dem mit den USA ausgehandelten Vertrag von der Internationalen Atomenergiebehörde kontrolliert. Darauf bestanden die USA, da Indien Atomraketen besitzt, aber nie den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet hat und deshalb eigentlich vom internationalen Atomhandel ausgeschlossen ist. Trotz der Gegenstimmen der Kommunistischen Parteien stimmte die Parlamentsmehrheit damals für den Vertrag.
Angesichts der verheerenden Situation in Japan bekräftigt die Kommunistische Partei Indiens derzeit ihre Ablehnung erneut, doch klare Gegner von Atomenergie sind die indischen Parteikommunisten nicht. Allerdings existiert auch keine relevante außerparlamentarische Bewegung. Selbst die indischen Atomwaffentests in den achtziger und neunziger Jahren riefen keine größeren Proteste im Land hervor, ging es doch vor allem darum, gegenüber dem ungeliebten Nachbarn Pakistan ein Zeichen zu setzen. An dem Ausbau der zivilen Nutzung von Atomenergie stören sich allenthalben die direkten Anwohner der betroffenen Gegenden. Zwar demonstrierten in den vergangenen Wochen in New Delhi, Hyderabad, Kalkutta und Mumbai einige hundert Menschen, meist Studierende sowie Aktivistinnen und Aktivisten von NGO aus linken sozialen Gruppen, aber nichts deutet auf das Entstehen einer Bewegung hin. Auch die Facebook-Seiten verschiedener Anti-AKW-Gruppen fristen mit wenigen hundert Freunden eher ein Schattendasein.
»In Indien gibt es vereinzelt starke soziale Bewegungen, doch das Thema Atomenergie wird die Menschen nicht mobilisieren«, sagt David Sudhakar, der bei mehreren NGO aktiv ist, die sich für die Rechte von Unberührbaren und Indigenen einsetzen. »Lediglich die Maoisten könnten in einigen Regionen den Bau von AKW gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung verhindern.« Doch ein Programm für alternative Energiequellen hat die Guerilla auch nicht.
Derzeit gibt es nur in wenigen Regionen Protestbewegungen, einige davon in den Gebieten der Maoisten. Wie auch bei anderen großen Infrastrukturprojekten macht der Bau neuer Atommeiler das Umsiedeln von Kleinbauern, manchmal von ganzen Dörfern, notwendig. Dagegen formierte sich beispielsweise in Jaitapur, im Bundesstaat Maharashtra, breiterer Widerstand. Der Atommeiler soll in einem Küstengebiet errichtet werden, das mittelstark erdbebengefährdet ist. Anwohner fürchten nicht nur einen Unfall wie in Fukushima, sondern Auswirkungen des AKW auf Fischerei und Landwirtschaft. Gemeinsam mit Umweltschutzorganisationen besetzten Bauern und Fischer wiederholt das Gelände und demonstrierten gegen das Projekt. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Im Dezember vergangenen Jahres fiel die endgültige Entscheidung für den Bau des Atommeilers. Immerhin schreckten der Protest und die Öffentlichkeitsarbeit der NGO einige Investoren ab. So zogen die Deutsche Bank und die Commerzbank ihre Zusage, das Projekt mitzufinanzieren, wieder zurück. Am Bau anderer Atommeiler Indiens wollen deutsche und europäische Kreditinstitute dennoch weiterhin mitverdienen.
Diesen lukrativen Markt wollen auch die mehr als 50 Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik nicht völlig abschreiben, die gemeinsam ein Memorandum unterzeichneten, das »eine radikale Überprüfung der Atomenergie, insbesondere hinsichtlich der Risiken, Kosten und öffentlichen Unterstützung« fordert. Von einem Atomausstieg ist nicht die Rede. Dafür herrscht in Indien ein zu starker Konsens über die Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum und die dafür erforderliche Energieversorgung. Gerade die Regierung Singhs zeichnet erfolgreich das Bild der Supermacht Indien, die sich mit modernen Technologien international positioniert und im Innern die Armut überwindet. Tatsächlich sind fast alle Teile der Gesellschaft auf zuverlässige Stromversorgung angewiesen, die IT-Branche ebenso wie die Schwerindustrie und die Kleinbauern. Ohne Strom können diese kein Grundwasser abpumpen, um ihre Felder zu bewässern. Potentielle Risiken der Atomenergie erscheinen angesichts des Primats von Wirtschaftswachstum, Steigerung des eigenen Lebensstandards und internationaler Absicherung Indiens den meisten Inderinnen und Indern als unbedeutend.