Hat den Lady-Gaga-Gipfel in Frankfurt besucht

Avantgarde für alle

Ihre Karriere läuft noch keine drei Jahre und schon ist Lady Gaga zum Gegenstand kulturwissenschaflicher Seminare und Bücher geworden. In Frankfurt tagte am Wochenende der Gaga-Gipfel.

Sie sei »eine Künstlerin, die sich ständig neu erfindet« und die »das Artifizielle ihrer Performance nicht verdeckt, sondern herausstellt«. Erkenntnisse über Madonna? Nein, im Frankfurter Club Orange Peel ging es am Wochenende um Lady Gaga. Zwei Kulturvereine hatten zum Gaga-Gipfel geladen, weil spätestens jetzt, zweieinhalb Jahre nach dem Beginn ihrer beispiellos rasanten Karriere, das Gesamtkunstwerk Stefani Germanotta alias Lady Gaga nicht mehr ignoriert werden könne – frei nach den Residents, die konstatierten: »Ignorance of your culture is not considered cool.« Auf Gaga bezogen heißt das: Sie jetzt zu ignorieren, wird sich später als uncool erweisen, weil alle Welt schon immer gewusst haben wird, wie wichtig Gaga ist. Eine Milliarde Youtube-Klicks, neun Millionen Follower bei Twitter und etliche Awards sprechen für sich. Oder?
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Lady Gaga begann schon früh, und der Frankfurter Gaga-Gipfel ist nur einer von zahlreichen Versuchen, sich dem derzeit größten Popstar der Welt intellektuell zu nähern. Bereits 2010 schrieb die Musikjournalistin Maureen Callahan eine Gaga-Biographie, eine amerikanische Universität bietet den Kurs »Lady Gaga and the sociology of fame« an. Die Begründung lautet: »Die Berühmtheit von Lady Gaga ist ein aktu­elles Phänomen und lässt sich mit den Interessen der Studenten verbinden.«
Schon seit einiger Zeit drängt sich der Eindruck auf, als scheuten Kritiker und Wissenschaftler sich zuzugeben, Gagas Musik nicht zu mögen oder von ihrer medialen Omnipräsenz genervt zu sein. Man flüchtet sich in vage Zuschreibungen: Sie sei eine Mode-Ikone und ihre Performance sei »interessant«, postfeministisch und hypersexuell. Die US-amerikanische Medienwissenschaftlerin Camille Paglia nennt Gaga »das erschöpfte Ende der sexuellen Revolution«. Könnte es nicht doch sein, dass hinter der sich permanent verändernden Hochglanzoberfläche eine Philosophie steckt, wenigstens aber Kritik am Kapitalismus und den USA? Gaga selbst sagt, dass man ihre Erscheinung nie zu ernst nehmen sollte – schon morgen sei sie wieder etwas/jemand anderes. Deshalb muss sofort gehandelt werden, denn Lady Gaga ist vor allem eines: schnell. Wie der Comicvogel Roadrunner wirbelt sie ihren Verfolgern Staub in die Augen. Bis die lahmen Schreiberlinge wieder gucken können, ist sie längst weitergerannt.
Es geht nicht darum, ob das, was Lady Gaga zeigt und tut, schon vor Jahren von Madonna, Peaches und anderen Künstlerinnen abgehandelt wurde, oder ob Beth Ditto die bessere, weil authentische Queer-Ikone ist. Die Frage ist, ob Lady Gaga für etwas anderes steht als für sich selbst.
Die aktuelle Ausgabe des Magazins i-D präsentiert Gaga in einer Mode-Fotostrecke. Die Bloggerin Verena von Pfetten kritisiert: »Models sollen Kleider präsentieren, und Gaga kann nur sich selbst präsentieren.«
Gagas Auftritt in einem überdimensionalen Pappmaché-Ei und ihr Kleid aus Steaks, das sie zu den MTV-Awards im vergangenen Herbst trug, taugen nicht zur Nachahmung , es sind Statements. Nur wofür oder wogegen? TV-Serien-Fans haben das Vorbild für das Fleischkleid schnell gefunden: Ende der achtziger Jahre nötigt der Außerirdische Alf seine Gastfamilie zum rituellen Tragen von Wurstketten und Fleischhemden. Ist Lady Gaga also eine Komödiantin? Wohl kaum.
Mit dem Modeschöpfer Thierry Mugler verbindet Gaga eine Win-Win-Beziehung. Anfang März eröffnete sie als Laufstegmodel Muglers Fashion­show in Paris, dazu lief – ihre Musik. Auch für andere Künstler und Designer, vom verstorbenen Alexander McQueen bis zu Damien Hirst, ist Gaga der Jackpot. Gagas grenzenloser Fame (Titel ihres ersten Albums) garantiert die größtmögliche Verbreitung von Labels und Firmennamen. Beim Gaga-Gipfel fiel die Bezeichnung »Litfasssäule für Thierry Mugler«. Und Gaga kann, gedresst in futuristische Haute Couture, stets von sich behaupten, subversiv und avantgardistisch zu sein. Trotz ihres unkopierbaren und exklusiven Auftretens ist Lady Gaga eine Identifikationsfigur. Cyndi Lauper meint, dass Gaga und ihre Musik unsere moderne Welt spiegeln, die sich in ständiger Veränderung befindet. Paradoxie als Normalzustand. Künstlichkeit und Authentizität sind bei Gaga nicht zu trennen, die Botschaft für Fans ist: Seht in mir, was immer ihr wollt. Zeichen haben keine Bedeutung.
Mit ihrem aktuellen Hit »Born This Way« signalisiert Gaga: »Ich bin eine von euch« und gleichzeitig »außergewöhnlich, deshalb bin ich in diesem von Nick Knight gedrehten Video!« Dem janusköpfigen Popstarmodell setzt Gaga die Designerkrone auf.
Für »Born This Way« – ein Rip-Off von Madonnas Hits »Express Yourself« und »Vogue« – streicht sie Lob von berufener Seite ein: Musikkritiker Jon Savage nennt den Song »nothing less than a contemporary LGBT call-to-arms«, Elton John prophezeit, dass das Stück Gloria Gaynors »I Will Survive« als Schwulenhymne ablösen wird.
Das genau ist aber auch der Punkt, an dem »Born This Way« den Ruch des Anbiedern hat: Wie schon Madonna erklärt sich Gaga zur Sprecherin von Subkulturen. Sie reklamiert eine Freakyness für sich, die sie eben nicht durch Geburt und Herkunft besitzt, sondern die mit spektakulären Kostümen erst hergestellt wird. Der Radiomoderator Klaus Walter nennt Gagas Strategien den »Extremismus der Mitte«, die Verwandlung von Avantgarde und Subkultur in Mainstream, was z.B. Peaches nicht gelungen sei, da diese nur einem eingeweihten Publikum bekannt sei. Gaga bezeichnet sich als den »vorurteilsfreisten Menschen des Planeten«, ähnlich wie ihr erklärtes Vorbild Andy Warhol, der alles schön und gut fand – und alles vereinnahmte, sich einverleibte, zum Warhol-Produkt machte. Wenn aber alles gleich wichtig ist, wird alles beliebig. Gagas leidenschaftlich vorgetragenes Engagement für Schwule und Lesben in der US-Army genauso wie die Solidarisierung mit Außenseitern in »Born This Way«.
Ohne Zweifel ist Gaga mutiger als Christina Aguilera, Rihanna und Madonna, die bei aller Ver- und Entkleidungslust doch niemals ihre Weiblichkeit in Frage stellen. Gaga inszeniert sich als Alien, wirkt mit ihren Überzeichnungen des Femininen wie eine Drag Queen und ist mit den eckigen Bewegungen ihres dünnen Körpers Marilyn Manson näher als Beyoncé. Hässlich ist das neue Schön. Bis Gaga wieder weiterzieht.
Übertreibung bis zur Groteske ist ihre einzige Chance, bigger zu werden als Madonna, und bei allem Mut zur Hässlichkeit: Es gibt Grenzen, auch für Lady Gaga. Am Ende tanzt sie doch in Unterwäsche ihre Softporno-Gruppenchoreographien. Ähnlich verhält es sich mit ihrer Musik: Die meisten Gaga-Songs sind Sample-Collagen im Eurodisco-Sound. Auf ihren Konzerten demonstriert sie am Klavier, dass sie sehr wohl eine »richtige« Musikerin ist. Klaus Walter erklärt auf dem Gaga-Gipfel, dass maximale Reichweite nur mit globalem Einheitsbrei zu erreichen sei. Trash als Überwältigungstaktik, Avantgarde für alle.
Beim Frankfurter Kongress blieb manche Frage offen. Zum Beispiel, welche Funktion all die Zitate in Gagas Songs und Videos haben – sind es Hommagen, Plagiate, popkulturelle Positionierungen? Die Filmwissenschaftlerin Karola Gramann zog das so schlichte wie zutreffende Fazit, dass man das von Jonas Akerlund gedrehte Video zu »Telephone« auch mögen könne, wenn man die Verweise auf »Kill Bill«, »Thelma und Louise« und andere Filme nicht kapiert.
Ein Lady-Gaga-Werbeaufsteller aus Pappe war der Hauptgewinn beim Gaga-Gipfel-Quiz in Frankfurt. Der Körper der Puppe ist mit Slogans beklebt, an Bauch und Armen sieht man auf­gemalte Schrammen. Auch das noch, möchte man ausrufen, jetzt müssen auch noch verzweifelte Selbstverstümmler dem House of Gaga dienen! Der Blick dahinter beweist: Dort ist – nichts. Sollte die Gaga-Philosophie tatsächlich so platt und banal sein? Das können, das wollen wir dann auch nicht glauben. Und hecheln dem Phänomen Lady Gaga weiter hinterher.