Ohne Nerdbrille beim Erfinder

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»Samstag Demo, Sonntag Descendents«, notierte ich mir für das Wochenende im Kalender. Das hätte dort auch schon 1985 geschrieben stehen können. Ich musste Jahre warten, um die Band live sehen zu können. Ende der Siebziger hatten sich Bill Stevenson, Tony Lombardo und Frank Navetta im kalifornischen Hermosa Beach zusammengetan und den melodischen Hardcore-Punk erfunden, der mein Soundtrack der Achtziger wurde. Als der Sänger Milo Auckermann, Erfinder des noch ungeschriebenen Nerdbrillentrends dazu stieß, veröffentlichten sie 1982 ihr erstes Album »Milo goes to College«, ein feiner Mix mit Quatschtexten und traurigen Liebesliedern einsamer Jungs. Ihr Album »Everything sucks« erschien bei Epitaph, einem Label, das von Bad Religion-Gitarrist Brett Gurewitz vermutlich mit der Intention gegründet worden war, Bands so langweilig wie möglich klingen zu lassen. So wie in der elektronischen Musik eine Art »Humanizer« eingesetzt wurde, um glatten Rhythmen künstliche Fehlerquellen hinzuzufügen, musste es bei Epitaph den »Gurewitzer« geben, eine Maschine, die den Sound einzigartiger Bands zu einer aalglatten Suppe machte. Bei den Descendents gelang das nicht. Completely underdressed, ohne Band-T-Shirt, begab ich mich am Ostersonntag zum »Monster Bash«-Festival in die Berliner Columbia-Halle. »Went to the Punkrock Show, nobody that I know did go« – wobei der Punkfaktor gleich zero war. Zwischen tausenden Nerdbrillenträgern und frischtätowierten Bankangestellten, die vermutlich für Schlagerbands wie Millencollin und NOFX angereist waren, wartete ich auf die Descendents. Und endlich: Bill Stevenson ließ sich samt seinem Schlagzeug auf die Bühne rollen, und es ging ab. Meine Band war großartig, beim Song »Rotting out« kam dann auch der Punkfaktor: Ein kleiner Junge nutzte die Unachtsamkeit der kahlrasierten Bouncer und sprang über die Absperrung auf die Bühne und in den Mob! Für diese Aktion benötigt man mindestens so viel Mut wie zum Überwinden der Berliner Mauer.