Bei den Damen

Ein Besuch in einem Sexkino im Berliner Bezirk Neukölln.

Wer von der Karl-Marx-Straße am Magdalenenkirchhof in Richtung des Richardplatzes abbiegt, wird gleich zweifach an die Geschichte Rixdorfs erinnert. Der Blick auf den Böhmischen Gottesacker mag einem in Erinnerung rufen, dass der Kiez auf eine Ansiedlung böhmischer Exilevangelen durch Wilhelm I. etwa Mitte des 18. Jahrhunderts zurückgeht. Gleich neben dem Friedhof, auf dem in Tradition der Herrnhuter Brüdergemeinde die Leichname noch nach Geschlechtern getrennt bestattet wurden, kann einem beim Anblick der roten Laterne einfallen, dass jenes Böhmisch-Rixdorf sich in nur wenigen Jahrzehnten zum Zentrum frivoler Unterhaltung entwickelt hatte, so dass Wilhelm II. es 1912 kurzerhand in »Neukölln« umbenannte, um mit dem neuen Namen alte Unsitten abzuschaffen.
Tatsächlich hängt die rote Laterne heute eher unvermittelt in einer verkehrsberuhigten Zone, umgeben von Mietshäusern, die zum Großteil von Familien bewohnt werden. Ein eher unauffälliges Schild verrät, dass es sich bei »Judy’s Kinobar« um ein Sexkino handelt.
Sexkinos sind mittlerweile ein Anachronismus. Was im Pornoboom der sechziger und siebziger Jahre seinen Höhepunkt fand, ist seit dem Aufkommen der Videotheken in den achtziger Jahren im Niedergang begriffen. Spätestens seit der Verbreitung von Internetpornographie, die alles, was zuvor schwer zu bekommen war, grenzen- und mühelos verfügbar macht, gehen die einschlägigen Kinos reihenweise ein. Wer in Zeiten von Youporn noch ein Pornokino aufsucht, muss einen besonderen Grund haben. Oder einer Generation angehören, die nie mit dem Internet vertraut geworden ist. In den übrig gebliebenen Läden sucht die Zuschauerschaft weniger das Neue – die Filmauswahl ist zuhause am Computer ohnehin größer – als vielmehr das Alte, den Nervenkitzel des halböffentlichen Zusehens, den Ausnahmecharakter des Ortes, das spezifische Flair der Umgebung.
Im Vergleich zu den nüchternen, gefliesten und mit Navigationsleiste ausgestatteten Videokabinen der modernisierten Sexkinos ist das Judy’s eine unfreiwillige Trashhöhle mit einem einzigen Kinosaal von liebevoller Heimwerkerhand, in dessen fünf Abteilungen jeweils zwei bis maximal drei Personen Platz nehmen können. Der Weg dorthin führt durch ein Interieur aus Plastikblumenbouquets, humorigen Details, Erotikkalenderpostern und einem Münzfernsprecher – einem Relikt aus einer Zeit, in der die Kundschaft noch nicht per Handy daheim anrief, um zu sagen, dass es heute später würde im Büro.
Dem Kinogeschäft ist ein Puffbetrieb angeschlossen. Eine der Frauen, die hier arbeiten und heute Mandie*, Anja* und Ina* heißen, wird jedem Gast ins Kino folgen, um zu fragen, ob gewünscht sei, dass sie etwas Gesellschaft leiste. Die Leistung beginnt bei »Hand« und kann bei Bedarf in einem der drei Separees auf verschiedene Arten und mehrere Stunden ausgedehnt werden. Gesellschaft gibt es gegen ein Freigetränk an der Bar. Es besteht kein Zwang, eine Leistung in Anspruch zu nehmen.
»Im Judy’s kann man einfach nur sitzen und erzählen«, sagt Udo*. Seit fünf Jahren kommt er, eine Zeit lang dreimal die Woche, meist nachmittags und am frühen Abend, die Firma ist nicht weit und die Ehefrau weiterhin ahnungslos. Im Kino war er noch nie, die Filme mit ihren »unrealistischen Körpern und Handlungen« findet er wenn nicht abstoßend, so mindestens uninteressant. Die Gesellschaft der Damen hingegen nicht. »Dufte Freundschaft« habe er hier gefunden, zu einer Frau ganz besonders, »Ansprache« bei allen. Bezahlt habe er die eine, damit sie keine anderen Männer empfangen müsse. Mandie fragt ihn nach der Zahnoperation seiner Frau.
Die meisten Männer sind Stammkunden, der Großteil ist älter, und viele kommen aus den Gründen, die der Hausverwalter, Wolfgang K., gern zur Verteidigung der Prostitution anführt: aus Angst vor der Zurückweisung, die sie beispielsweise in Kneipen erfahren könnten. Im Gegensatz dazu ist eine Kontaktaufnahme im Bordell garantiert. K. ist auch der Ansicht, es ginge nicht nur um rein sexuelle Dienstleistungen. Er vergleicht die Prostitution mit dem Friseurwesen; als Beispiel dient ihm die Aussage einer alleinstehenden alten Dame, sie ginge vor allem zum Friseur, weil dies der einzige Ort sei, wo sie überhaupt noch körperlich berührt werde. So gesehen erscheint das Bordell als soziale Einrichtung, in der ältere oder auch behinderte Menschen von »gestandenen Hausfrauen« betreut werden. Der älteste Kunde der Kinobar ist über achtzig.
Als in das Ladenlokal, das bis Anfang der achtziger Jahre einen Fleischerladen beherbergte, ein Sexkino einzog, wehrten sich die Mieter des Hauses zunächst dagegen. Mittlerweile hat sich K. mit seiner kundenorientierten Darstellung (»Anlaufstelle sein«, »regelmäßige Besuche«) bei der Hausgemeinschaft durchgesetzt. Die Belegschaft vom Judy’s wird zu Sommerfesten und Weihnachtsfeiern eingeladen. Die Nachbarn über dem Laden stören sich nicht am gelegentlichen Geräuschpegel, schließlich übt der Sohn täglich Klavier für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule. Einen Versuch der stadtbekannten Unterweltgröße Chinesenkalle, das Geschäft zu übernehmen, hat K. zu Beginn der neunziger Jahre verhindert.
Judy’s Kinobar gehört zu keiner Halbwelt, sie ist ein eigenes Paralleluniversum. Die vergangenen sechs Jahre wurde die Bar als Familienunternehmen geführt, heute betreibt der alleinerziehende Vater sie mit einem Jugendfreund. Neben der Aufsicht über das älteste Gewerbe geht er – wie zufällig auch schon der Vorbesitzer – einem der ältesten Handwerkerberufe nach: Er ist Fleischer. Sein Geschäftspartner arbeitet hingegen als Binnenschiffer. Entsprechend sind die Frauen meist unter sich.
Die Atmosphäre ist freundschaftlich, die Stimmung untereinander gut. Alle Frauen sind angemeldet, es gelten die branchenüblichen Preise und Regeln. Ina hat bereits hier gearbeitet, als das Etablissement noch »Rote Laterne. Chambre Separée« hieß. Anja und Mandie haben sich vor zirka 20 Jahren in einem anderen Laden kennen gelernt. Die Kaffeetassenkollektion scheint ebenfalls über Jahre zusammengewachsen zu sein, »Für die liebste Mama der Welt« ist zum Beispiel auf einer zu lesen. Gesprächsthemen sind Anekdoten von Feierlichkeiten oder der Liebeskummer von Inas 16jähriger Tochter. Diese Tochter weiß ebenso wenig, womit die Mutter Geld verdient, wie die von Anja, auch Mandies drei Kinder sollen nichts wissen. Die Frauen verstehen sich nicht als Sozialarbeiterinnen und ihren Job nicht als ehrbaren Beruf. Keine der Frauen würde sich je öffentlich zu ihrer Arbeit bekennen. Prostituierte zu sein, sei eben eine »Schande«, sagt Mandie, genauer kann sie es nicht erklären. Dass sie hier alle freiwillig arbeiten, heißt nicht, dass sie das gerne tun: »Keine sitzt glücklich hier.« Mandie und Anja deuten eine für diese Hurengeneration typische Erfahrung an; sie sind durch die Abhängigkeit von einem Mann und aus finanzieller Not ins Geschäft gekommen. Mitte der achtziger Jahre gab es in Edelbordellen nicht nur an »Prominenten und Geschäftsleuten« große Summen zu verdienen, die in einem solchen Umfeld allerdings auch schnell wieder ausgegeben waren. Seit Ende der neunziger Jahre sind die Verdienstmöglichkeiten insgesamt geschrumpft, die Preise trotz gestiegener Lebenshaltungskosten gleich geblieben. Mandie hat immer wieder andere Jobs gemacht, das sei auch harte Arbeit gewesen, dazu schlechter bezahlt, und habe vor allem »weniger Anerkennung« bedeutet. Gegenüber solcher Anonymisierung sei man in den Nightclubs »eine Dame«. Die Kinobar empfindet sie für sich als Abstieg, andererseits sei der Betrieb unaufgeregt und gemütlich, eine solche Überschaubarkeit habe durchaus Vorteile.
Judy’s Kinobar erscheint als eine Art Fossil unter den Freudenhäusern, die Geschäftsmodelle der Laufhäuser und Flatratebordelle sowie die Konzentration von Großbetrieben und Ketten sind an ihm ebenso vorbeigegangen wie die Veränderung des Prostituiertengesetzes und das Selbstbewusstsein postmoderner Sexworker. Mit der Enttabuisierung von Pornographie und Prostitution wird auch eine Grenze eingeebnet, die im Judy’s als Exzentrik einer Gegenwelt aufrechterhalten bleibt. Wer mit dem Läuten der Mittagskirchenglocken durch die Türschleuse tritt, gerät in ein von jedem Tageslicht und Luftzug unerreichtes Rotdunkel, das von verlebten und herzlichen Gestalten, tristen und rührenden Figuren belebt wird. Das darf einen nicht nostalgisch stimmen, als gäbe es hier eine bessere Vergangenheit zu betrauern. Dennoch könnte dieses übriggebliebene Pornokino Berlins heute heißen wie das allererste Lichtspieltheater seiner Art 1899: »Abnormitäten- und Biographtheater« – denn wenn auch die Beschädigungen und das Elend der Welt draußen notwendig im skurrilen Hausinnern wiederkehren, bleibt der schrullige Sonderbereich doch der Realität fremd.

* Namen von der Redaktion geändert