Über die Frühaufsteherdiktatur

Wider die Diktatur der Frühaufsteher!

Frühaufsteher sind ein Problem, denn sie nötigen den anderen ihren Lebensrhythmus auf. Widerstand ist notwendig!

Doch, doch, so ein Sommermorgen ist wirklich toll – das Beste daran aber ist, dass man nicht früh aufstehen muss, um ihn zu genießen, denn Sonnenaufgang plus Tautropfen, erstes Vogelgezwitscher und sich öffnende Blütenkelche sind auch dann schön mitzuerleben, wenn man gleich anschließend schlafen geht.
Und so könnte alles in Ordnung sein – nämlich indem jeder macht, was er will –, wäre da nicht die Frühaufsteherdiktatur. Frühaufsteherdiktatur geht so: Da kann die Wissenschaft sich noch so auf den Kopf stellen und ständig neu beweisen, dass es Menschen mit unabänderlich unterschiedlichen Schlaf-/Wachrhythmen gibt (fortan hier Früh- und Spätaufsteher genannt) – es wird früh aufgestanden, und zwar immer und alle und basta.

Woraus folgt, dass wir Spätaufsteher in einer Welt leben müssen, die diese andere Fraktion sich kuschelig-gemütlich eingerichtet hat und die für uns größtenteils die Hölle ist. Weil eben zu den Zeiten, in denen wir aktiv sind, nichts funktioniert. Kein Amt, keine Praxis, kaum eine Hotline ist besetzt, nur ein paar Notdienste stehen zur Verfügung, das war’s auch schon. Der öffentliche Nahverkehr ist weitgehend eingestellt (wir sind die Leute, die notgedrungen das Taxi-Gewerbe am Leben halten), im Fernsehen laufen lauter Wiederholungen, und zum Ausgleich werden wir mitten in der Tiefschlafphase von der Müllabfuhr dem Straßenverkehr und lauten Radios geweckt – also genau von jenen Frühaufstehern, die gleich die Polizei rufen, wenn wir nachts nur mal kurz husten müssen.

Erinnert sich noch wer an das Drama rund um die geänderten Ladenschlusszeiten? Als all diese Gewerkschaftsortsgruppen sich vor lauter Entrüstung darüber, dass das Verkaufspersonal gezwungen werden würde, abends und damit zu un-er-hör-ten Zeiten zu arbeiten und damit hinterrücks die Lebensrhythmen kaputt gemacht bekäme, kaum halten konnten und ständig lärmend auf die Straße gingen und in Talkshows saßen, um diese ungeheuerliche Ungerechtigkeit in flammenden Reden anzuprangern? Wo sind die eigentlich, wenn wir uns morgens aus dem Bett quälen, hä?
Wahrscheinlich sind diese Handlanger der Frühaufsteherdiktatur dann damit beschäftigt, das zu tun, was alle Ignoranten tun, wenn sie einen unausgeschlafenen Menschen vor sich haben, nämlich zu sagen: »Geh’ halt früher schlafen!« Öh, warum stehen die anderen eigentlich nicht später auf? Weil sie nicht können, klar, denn sie sind ja abends so schnell müde – und wir können zwar nicht früh aufstehen, weil wir eben nachts länger wach sind, aber das ist bei uns ja alles bloß Charakter- oder Willensschwäche, glaubt man der unverschämten, rücksichtslosen Frühaufsteherpest. Immerhin, es gibt Widerstand. Es folgt ein Auszug aus dem Manifest gegen die Frühaufsteherdiktatur des Blogs der Linkshirnextremisten:
»§1 Linkshirnextremisten halten den Normalarbeitstag nicht für normal. §2 Niemand hat das Recht, anderen Menschen seinen Biorhythmus aufzuzwingen. §2.1 Oder ihn überhaupt für normal zu halten. §2.2 Zuwiderhandlung gehört mit Schlafentzug nicht unter drei Stunden pro Nacht bestraft. §3 Jeder Mensch hat das Recht, aufzustehen und schlafen zu gehen, wann es ihm oder ihr passt. §4 Die Frühaufsteherdiktatur ist der perfide Versuch, die tendenziell höhere Lebenserwartung von Nachtmenschen herabzusetzen. (Wissenschaftlich belegt: Die Zellen von Nachtmenschen haben einen langsameren Rhythmus als die von Frühaufstehern – die biologische Grundausstattung für ein tendenziell längeres Leben. Dennoch ist ihre Lebenserwartung geringer, was auf den chronischen Schlafmangel und dadurch bedingte Krankheiten zurückzuführen sein dürfte.) §5 Ausschlafen ist Menschenrecht. §5.1 Ebenso wie das Recht, seine Abende und Wochenenden sinnvoller zu füllen als nur mit Schlaf nachholen. §6 Frühaufstehen ist doof. §7 Erdbeben, die die Tageslänge herabsetzen, lehnen wir prinzipiell ab.«

Wie das Menschenrecht auf Ausschlafen erkämpft werden kann, ist unklar. Einfach im Bett zu bleiben, könnte ein Ansatz sein, oder vielleicht ein Generalstreik der Spätaufsteher. Oder organisiert nachts viel Lärm zu machen, damit die anderen sehen, wie das ist, wenn man nach nur wenigen Stunden Schlaf schon wieder aufstehen muss.
Auf die Revolution sollten wir jedenfalls nicht hoffen. Warum? Wahrscheinlich würden wir Spätaufsteher auch die Revolution verschlafen, sollte sie je stattfinden. Was aber eigentlich auch nicht so schlimm wäre, denn so wie man den linken Laden kennt, wäre der Umsturzzeitplan sowieso unzumutbar: Punkt 7 antreten und durchzählen, 7 Uhr 30 Fingernagelkontrolle mit Gesine, 7 Uhr 45 loslaufen (ordentlich). Bäh!