Über die Entstehung und die Entwicklung der Straight-Edge-Bewegung

Abstinenz plus Politik

Seitdem im Juni 1981 die Debütsingle der Band Minor Threat mit dem Song »Straight Edge« erschien, hat sich eine Bewegung entwickelt, die teilweise obskure Formen annahm und auch Anhänger in der linken Szene fand.

Am Anfang war das Nein. Ein Nein zum Alkohol. Ein Nein zur Zigarette. Ein Nein zum Joint, den Pillen und den Pilzen. Vor genau 30 Jahren stieg der Punkrocker und notorische Nein-Sager Ian MacKaye (siehe Interview Seite 5) auf die Bühne und brüllte den Geburtsschrei der drogenfreien Hardcorepunks: »I’ve got the straight edge!« Ein Punkrocksong gegen Drogen. »I don’t smoke, don’t drink, don’t fuck – at least I can fucking think«, legte er später im Song »Out of Step« nach und formulierte damit den Kodex einer Szene. Ein kürzlich erschienenes Büchlein aus dem Unrast-Verlag, »Straight Edge – Geschichte und ­Politik einer Bewegung«, gibt einen kurzen, aber auch für Außenstehende verständlichen Überblick über die Entwicklung dieser Szene und ihrer zum Teil höchst obskuren Auswüchse. Der Autor Gabriel Kuhn hat die Chronologie der Bewegung aufgezeichnet und untersucht ihren politischen Gehalt.
Bemerkenswert ist, dass die Straight-Edge-Bewegung zu einem Zeitpunkt enstand, als Punkrock noch neu, gefährlich und wichtig war. Ronald Reagan war Präsident der USA und rief den »War on Drugs« aus, seine Frau Nancy versuchte mit der Kampagne »Just Say No« die Kinder von Dealern fernhalten. Christliche Fundamentalisten hetzten gegen Abtreibung, Promiskuität und Homosexualität. Ausgerechnet in dieser Zeit entstand eine Szene, die durch ihr gemeinsames Interesse an lauter, schneller Punkmusik und den Verzicht auf Drogen zusammengehalten wurde.
Im Buch »Sober Living for the Revolution« erklärt Ian MacKaye: »In den siebziger Jahren machten sich meine MitschülerInnen und FreundInnen darüber lustig, dass ich keinen Alkohol trank. Als ich in die Punk-Szene eintauchte, war es genau dasselbe.« Zu dem berühmten Song schreibt er: »Die Textstelle ›don’t fuck‹ führte zu den schwerwiegendsten Missverständnissen. Bei ›don’t drink‹ denken alle an Alkohol. Aber bei ›dont’t fuck‹ denken alle: ›Kein Sex‹ (…) Es war doch klar, dass es um Missbrauch, Manipulation und Eroberung ging, also um die Instrumenta­lisierung von Sex, die auf Befindlichkeiten von Menschen keine Rücksicht nimmt.«

Die Hardcoremusik vermittelte ein Lebensgefühl, mit viel Wut und Aggression – aber ohne die ­nihilistische »No Future«-Attitüde der Punks. Zur Selbstinszenierung der Punks gehörte die symbolische Zurschaustellung der eigenen Beschädigungen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse. Entsprechend stylten sich die Punks in abgerissenen Klamotten. Die optische Selbststigmatisierung als gesellschaftlicher Außenseiter und Karriereverweigerer wurde durch extensiven Drogenkonsum ergänzt. Dem ästhetischen Ausstieg aus der bürgerlichen Normierung folgte der mentale. Der Weigerung zu funktionieren folgte die Unfähigkeit zu funktionieren. »No Future« wurde zum persönlichen Lebenskonzept echter Punks.
Hardcore entwickelte sich als Protestbewegung innerhalb einer Protestbewegung. Kernelement war dabei die Beschwörung der ominösen »positiven Werte«, die dem negativen, selbstzerstörerischen Punk gegenübergestellt wurden. So fand eine Rückbesinnung auf traditionelle, männlich konnotierte Tugenden wie Härte, Durchsetzungsfähigkeit und Disziplin statt. Den Grundprinzipien eines Männerbundes folgend wurde es in der Straight-Edge-Szene karg, asketisch und zölibatär.

Zum wichtigsten Thema wurde die Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe und dem Lebensstil. Der »edgebreak«, der Bruch mit der Abstinenz, wurde als Schwäche und Verrat begriffen. In ritualisierter Form besangen zahllose Bands auf ­ihren Konzerten die »unity« und die »positive mental attitude«. Gleichzeitig hetzten sie gegen die »edgebreaker« und die »sellouts«, die der Szene den Rücken gekehrt haben. Doch wuchs bei vielen gelangweilt von der eigenen Nabelschau das Bedürfnis, sich verstärkt mit gesellschaftlichen Problemen zu beschäftigen. Bedeutete Straight Edge zunächst vor allem die individuelle Entscheidung, keine Drogen zu nehmen, entwickelte sich im Laufe der Jahre der Anspruch, eine Bewegung zu sein, die einen umfassenden Lebensentwurf bietet. Da das bloße Bekenntnis zur Abstinenz diesem Anspruch nicht gerecht wurde, versuchten Anfang der neunziger Jahre verschiedene Fraktionen dieses ideologische Vakuum zu füllen.
Eine dieser Fraktionen war der Krishnacore, der zeitweise recht erfolgreich in der Szene war. Krishnacore orientierte sich an der ebenfalls drogenfreien und vegetarischen hinduistischen Hare-Krishna-Bewegung. Weniger erfolgreich als die Hare-Krishnas waren diverse christliche Jugendliche, die versuchten, durch Straight Edge irgendwie cool, hart und rebellisch zu wirken, gleichzeitig die sittlichen Gebote der Kirche zu erfüllen und so nicht Gefahr zu laufen, die Eltern oder die Gemeinde zu verärgern.
Den größten Erfolg bei der Neubestimmung der Szene konnte der Vegan Straight Edge Hardcore in den neunziger Jahren verbuchen. Veganismus wurde als logische Erweiterung der sozialen Prinzipien des Straight Edge begriffen. Dabei gelang es einigen sich anarchistisch gerierenden, tatsächlich aber reaktionären Gruppen, sich in der Hardcore-Szene zu verankern. Neben dem biozentristischen Netzwerk »Earth First!« konnte sich die tiefenökologische Hardline-Bewegung in der Szene etablieren. Im »Hardline Manifesto« heißt es: »Die Zeit ist gekommen für eine Ideologie und für eine Bewegung, die physisch und moralisch stark genug sind, um gegen die Kräfte des Bösen zu kämpfen, die die Welt und all ihre Lebensformen zerstören. Wir sprechen von einer Bewegung, die nicht korrumpiert oder durch Versuchungen von ihren Ziel abgelenkt werden kann, von einer Bewegung, die von allen Lastern, die Geist und Körper schwächen, frei ist (…) die rein und rechtschaffen ist und keine Widersprüche oder Inkonsistenzen kennt.« Das Hardline-Netzwerk sah sich als moralische Avantgarde der Menschheit und nahm bis zu seiner Auflösung immer sektenhaftere Züge an.
Das Image der Straight-Edge-Szene leidet heute aber nicht mehr unter elitären Ökofaschisten, sondern vor allem unter russischen Nazis. Die betreiben seit einigen Jahren eine explizit faschis­tische Adaption des Straight Edge im Rahmen des »National Socialist Hardcore« (NSHC). Am 4. November 2008 marschierten hunderte vermummte Nazis als »NS Straight Edge Block« durch Moskau. Auf ihren Transparenten stand »Nein zu Drogen! Nein zur Zuwanderung!«, »Straight Edge, halte dein Blut rein!«

Im Gegensatz dazu versuchen linke Straight Edger, eine antifaschistische, emanzipatorische und drogenfreie Alltagskultur ohne repressive Momente zu entwickeln. Drogenfreiheit wird als individueller und symbolischer Akt des Widerstands begriffen, als Ausdruck des Unwillens, »äußeren Kräften zu erlauben, dein Leben zu kontrollieren«, wie es im »Antifa-Straight-Edge-Manifest« von 2001 voller Pathos heißt. Und das gelte »nicht nur für Drogen, sondern auch für Konzerne, PolitikerInnen, Bullen, deine Eltern – was auch immer sich in den Weg eines selbstbestimmten Lebens stellt. Es ist ein Ausdruck dafür, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen.« Selbstbestimmung, das klingt sympathisch, suggeriert aber, dass der Rausch kein selbstgewählter Zustand sei. Rausch und Selbstbestimmung sind keine Gegensätze. Die Entscheidung, drogenfrei zu leben, ist, anders als beim Veganismus, eine rein persönliche Geschmacksfrage und keine politische Entscheidung.

Gabriel Kuhn: »Straight Edge – Geschichte und Politik einer Bewegung«, Unrast-Verlag, Münster 2010, »unrast transparent: linker alltag«, Taschenbuch, 71 Seiten, 7,80 Euro