Marc Nickel im Gespräch über die deutsche Hardcore-Szene

»Außenseiter unter Außenseitern«

Marc Nickel hat die Anfänge der Straight-Edge-Bewegung miterlebt. Er war einer der ersten in der deutschen Hardcore-Szene, die sich Anfang der achtziger Jahre dazu entschlossen, drogenfrei zu leben. Nickel betreibt seit den neunziger Jahren die Berliner Booking-Agentur MAD, die Konzerte und Tourneen von international ­bekannten Hardcore-, Punk- und Metal-Bands veranstaltet.

Wann hast du das letzte Mal eine Wurst gegessen oder ein Bier getrunken?
Bier so Anfang der achtziger Jahre. An Wurst kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Bei mir fing es auf jeden Fall erst mit dem Vegetarismus an. Ich wurde relativ bald zum Veganer, das bin ich schon seit fast 30 Jahren.
Was waren die Gründe dafür?
Dafür muss man zurückgehen in die Siebziger. Das war eine Zeit des Aufbruchs und es gab diese Protesthaltung. So war das auch bei mir: 1978 habe ich mit zwölf Jahren angefangen, Punk zu hören, und wollte Veränderung. Mir wurde schnell klar, dass Tiere nicht mein Nahrungsmittel sind.
Welche Bands haben dich beeinflusst?
Von Sex Pistols bis Sham 69, von The Clash bis Crass. Jede hatte eine unterschiedliche Ansicht, und diese unterschiedlichen Aussagen habe ich meiner Lebenssituation angepasst.
Wie hast du die Entstehung von Straight Edge erlebt, die dieser Lebenssituation einen Namen gegeben hat, und wie ist diese Subkultur dann nach Deutschland gekommen?
Man muss da zwischen Amerika und hier unterscheiden, das waren unterschiedliche Situationen. In Amerika durften die Kids einfach nicht trinken bei Konzerten, wenn sie jünger als 21 waren. In Berlin hingegen hat jeder 15jährige in Clubs Bier getrunken. Das ging in Amerika nicht, da gab es dann für diejenigen unter 21 das X auf dem Handrücken als Markierung, an der sie der Barkeeper erkennen konnte. Daraus haben Leute in New York, Boston und Washington eine Ideologie gebastelt, die etwas später, 1982 und 1983, mit Bands wie Minor Threat, SS Decontrol oder DYS rüberschwappte. SS Decontrol habe ich das erste Mal bei John Peel gehört, da wurde Straight Edge eher nebenbei erwähnt.
Was waren für dich die Gründe, rauschfrei zu leben?
In den siebziger Jahren waren die Frauen klassisch hinter dem Herd, der Mann war betrunken, Alkoholismus ein Massenphänomen. Außerdem mochte ich es nie, dass die Leute sich entschuldigten und alles auf den Rausch schoben, nachdem sie Mist gebaut hatten. Ich habe damals in Berlin bereits in jungen Jahren zu viel Drogen­elend erlebt, und so habe ich mir recht früh, wenn wir zum Beispiel zum Fußball gegangen sind, einen Kakao gekauft, wenn die anderen Bier und Apfelkorn gesoffen haben. Das war dann einfach ein plakatives Label für mich, als ich jung war.
Wie ging es weiter, als Straight Edge etablierter war?
In Deutschland hat es sich zunächst gar nicht richtig etabliert. Du warst mit Straight Edge der Außenseiter unter den Außenseitern. Das habe ich geliebt, da konnte ich mich innerhalb der Hardcore-Szene noch einmal abgrenzen, auch weil sich Ende der Achtziger dort so eine Ballermann-Mentalität entwickelte und der Sexismus zunahm.
Und wann kam die Tendenz auf, vermeintliche Szene-Verräter auszumachen und anzuklagen, die es gewagt hatten, wieder zu trinken oder zu rauchen?
Damals war das nicht vorhanden, denn es ging um persönliche Freiheit und Entfaltung. Das kam erst mit der zweiten Welle des Hardcore, als die Fanzines auftauchten und sich alles ausdifferenzierte. Am Anfang gab es das nicht.
Ärgert es dich, wenn ehemalige Straight-Edge-Anhänger wieder Drogen nehmen und der Szene den Rücken zukehren?
Ja, das ärgert mich persönlich, weil ich es als Verlust ansehe. Aber ich finde das nicht schlimm. Schlimm finde ich es, wenn Alkoholismus daraus wird, wenn man die Leute trifft und ab einer bestimmten Uhrzeit die gleichen Geschichten hört, die man schon zehn Jahre zuvor gehört hat. Außerdem kann man nicht kreativ sein, wenn man ab morgens um zehn Uhr säuft und sich dann auch noch abends in der Kneipe ins Koma schießt.
Wie hoch ist die Aussteigerquote in der Szene?
Riesig! Straight Edge gilt oft als eine Jugendsünde, so wie Punkrock. Daher kommen und gehen die Leute. Sie finden eben eine Band gut, die ­gerade darüber singt, und sagen: »Das bin ich auch.« Wie es zwei Jahre später aussieht, ist offen, weil sich ja jeder erst einmal finden muss und sich entwickelt.
Es gibt auch intolerante Leute, die im Namen von Straight Edge nicht so verständnisvoll sind.
Darum geht es aber nicht. Der alte Straight-Edge-Gedanke war es, keine Abhängigkeiten zu haben, egal ob von Alkohol, Drogen oder Sex, also gegen Sexismus zu sein, dagegen, dass eine Frau nur als Sexobjekt gesehen wird. Es ging um Gleichheit, aber nicht darum, dass ich jemanden hauen sollte, der trinkt. Die Aggressivität richtet sich ja immer gegen die Schwächeren, nicht gegen die großen, volltätowierten Skinheads am Tresen. Man schnappt sich die Kleineren, das ist die typische Mentalität der Leute, die nach unten treten. Da wird Straight Edge nur zum Anlass genommen.
Wie beinahe alle Subkulturen hat sich Straight Edge ausdifferenziert. Inzwischen wird das Konzept selbst von »Autonomen Nationalisten« adaptiert, die das Ideal des gesunden und wehrhaften »Volkskörpers« befürworten.
Aber das ist ja nur Bauernfängerei, um Jugend­liche für die Sache zu interessieren. Damit bekommen die Nazis nicht die Masse an Leuten zusammen.
Muss aber nicht dennoch mehr Abgrenzung gegenüber solchen Entwicklungen stattfinden? Immerhin wurde Hatecore als ursprünglich nicht-rechter Musikstil von Nazis erfolgreich besetzt.
Die Abgrenzung muss klar sein, das ist keine Frage. Hatecore ist aber Teil des Hardcore und steht somit links. Hatecore ist jahrelang als Machokultur stiefmütterlich behandelt, als proletenhaft bezeichnet und auch innerhalb der Hardcore-Szene ausgegrenzt worden. Das haben aufmerksame rechte Demagogen genutzt.
Was hältst du von der ausdifferenzierten Straight-Edge-Szene, die es heutzutage gibt?
Es hat sich entspannt. Das Aggressive ist etwas weniger geworden. Ich würde auch nicht sagen wollen, dass ich Teil dieser Bewegung wäre, die Toleranz predigt, wenn sich im Endeffekt Gewalt gegen Andersdenkende richtet.
Wie verhält es sich mit der Toleranz gegenüber Fleischessern?
Straight Edge hat nichts mit Vegetarismus oder Veganismus zu tun. Du kannst auch Bier trinken. Es geht um die Abhängigkeit beziehungsweise Unabhängigkeit.
Die geringe Zahl an Alkoholisierten wirkt sich für Frauen positiv aus, in einer solchen Atmosphäre kommt es nur selten zu Übergriffen. Andererseits ist die Szene sehr testosterongeladen, es gibt kaum weibliche Hardcore-Bands und vor der Bühne geht es teilweise sehr gewalttätig zu. Wie hat sich die Rolle der Frauen in der Szene verändert?
Sie hat sich simultan zur Hardcore-Szene verändert. Als wir damals angefangen haben, gab es diese Frage gar nicht, wir waren alle gleich. Frauen haben gesungen, Männer haben gesungen. Das war kein Thema, aber 1988 war das Ende der Toleranz. Als die zweite Straight-Edge-Welle mit den Gorilla Biscuits kam, die Doc Martens weggelegt und Turnschuhe und Markenklamotten angezogen wurden, hat sich die Szene verändert. Da waren plötzlich nicht mehr nur die Leute, die die Schnauze voll hatten vom Staat. Auf einmal kamen die Sportstudenten und Karrieremenschen. Diese Leute haben den Sexismus zurückgebracht.
Also in Form der klassischen Rollenbilder, die du angesprochen hast?
Ja, die hatte der Punkrock vernichtet. Aber ab 1988 wurde es wieder krasser. Heutzutage ist die Szene immer noch sehr sexistisch geprägt. Das ist katastrophal. Aber was soll man erwarten, wenn man auf der Bühne bei Hardcore-Konzerten die Ballermann-Urlauber von morgen sieht?
Das klingt eher negativ. Bist du doch pessimistisch, was die Zukunft von Straight Edge angeht?
Es ist schwer, weil man den Leuten den Ballermann-Unterhaltungsfaktor nicht wegnehmen kann. Manche Berliner Bands stehen auf der Bühne und machen einen auf Hardcore, gehen sonst aber ihren normalen Jobs nach und lassen sich nie in der Subkultur sehen.
Aber ein Student oder Bankkaufmann könnte doch glaubwürdig eine Straight-Edge-Band betreiben.
Ja. Aber seit sich die Szene geöffnet hat, sind die Möglichkeiten der Ausgrenzung wieder größer – weil einer nicht schreiben kann, weil er nicht den nötigen Bildungsgrad hat, weil er nicht trinkt, weil er trinkt. Damit macht man alles kaputt.