Über Franz Brhezytsky, den letzten Überlebenden des KZ Majdanek

Die unerzählten Geschichten

Franz Brzhezytsky gilt als der letzte Überlebende des KZ Majdanek. Christoph Villinger hat ihn in einem Dorf in der Ukraine getroffen

So viele Fotos hat zuletzt der sowjetische Geheimdienst von mir gemacht«, lacht Franz Brzhezytsky, während er vor den Kameras einer Gruppe deutscher Journalisten posiert. Er ist sichtlich erfreut, dass sich jemand für seine Lebensgeschichte interessiert. Geduldig hat der 86jährige den Deutschen seine Biografie erzählt. Der in der Kleinstadt Zhytomir etwa 180 Kilometer westlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew lebende Mann gilt als der letzte Überlebende des deutschen KZ Majdanek. Dorthin verschleppten ihn die Nazis 1942 als Zwangsarbeiter. Später schickten die Sowjets den angelernten Bäcker und Bauarbeiter wegen einer politisch nicht genehmen Bemerkung zu den Morden an polnischen Offizieren in Katyn für fünf Jahre nach Sibirien in den Gulag.
Am 22. Juni 2011 jährt sich der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion zum 70. Mal, in dessen Folge zwischen 1941 und 1945 rund 27 Millionen Menschen ums Leben kamen, allein 18 Millionen Zivilisten und neun Millionen sowjetische Soldaten starben. Noch heute wirken die Folgen des Krieges nach. Auch die Debatten um die Deutung historischer Fakten dauern in der Ukraine an. Die Kriegsveteranen standen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion stets im Zentrum der Erinnerungen und Ehrungen. Die Situation der Opfer dagegen ist bis heute geprägt durch Armut, Isolation und das Trauma, allein mit den Erinnerungen zu sein.
Auf Einladung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« (EVZ) trafen sich Anfang Mai deutsche Journalisten mit ehemaligen Zwangsarbeitern in der Ukraine. Gemeinsam mit den ukrainischen Schriftstellern Andrej Kurkow und Anatolij Dimarow sprach man über die ukrainische Geschichtsaufarbeitung und Erinnerungspolitik. Diskutiert wurde auch über die Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter, zu denen sich Deutschland nach langwierigen internationalen Verhandlungen bereit erklärt hatte.
Ende der neunziger Jahre hatten Opferverbände mit Entschädigungsklagen vor Gerichten in den USA gedroht. Um dem zuvor zu kommen, gründete die Bundesregierung im Jahr 2000 die sogenannte Zwangsarbeiterstiftung, die mit einem Kapital von rund fünf Milliarden Euro ausgestattet wurde, um die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus finanziell zu entschädigen und Klagen abzuwenden. Wer die streng definierten Kriterien erfüllte, bekam zwischen 2000 und 2007 eine einmalige Zahlung von 7 500 Euro zugesprochen. Mehr als 1,66 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter, die meisten aus Osteuropa, wurden auf diese Weise »entschädigt«. Die Summe entspricht in der Ukraine einem guten Jahresgehalt. »Gefordert hatten wir damals knapp 20 Milliarden Euro«, berichtet Markian Demidov, Leiter des Ukrainischen Verbands der Opfer des Nationalsozialismus, in einem Empfangsraum des Kriegsmuseums in Kiew.
Vor dem Museum ragt die Kolossalstatue »Mutter Heimat« mit gezücktem Schwert weithin sichtbar in den Himmel, um an den Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« und seine Opfer zu erinnern. Auf den Straßen hängen in diesen Tagen die Plakate der Regierung, nach deren Darstellung der Krieg am 22. Juni 1941 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion begann und am 9. Mai 1945 endete, als die deutsche Wehrmacht vor der Roten Armee kapitulierte. Im Museum wird die Geschichte dagegen differenzierter dargestellt. Der »Hitler-Stalin-Pakt« und die dazugehörende Landkarte werden ebenso erwähnt wie der sowjetische Einmarsch in Ostpolen im Herbst 1939. »Die Deutschen brauchten eben zwei Jahre durch die ukrainischen Grenz- und Zollkontrollen«, witzelt dazu einer der Dolmetscher. Nur die sporadische Zusammenarbeit von nationalistischen Gruppen wie der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) um Stefan Banderas mit den Nazis oder Kollaborationen wie im Fall von Ivan Demjanjuk werden noch nicht thematisiert. »So weit sind wir noch nicht«, kommentiert die Museumsführerin. Immerhin wird die Vernichtung der Juden inzwischen in einem eigenen Raum dokumentiert, und dem Schicksal der Zwangsarbeiter, die den Sowjets lange als »Kollaborateure« galten, ist ebenfalls viel Platz gewidmet.
Knapp drei Millionen Menschen aus dem sowjetischen Machtbereich wurden während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt, fast jeder zehnte Zwangsarbeiter kam dabei ums Leben. Insgesamt starben rund 27 Millionen Sowjetbürger als Soldaten und Zivilisten. Demidov wurde als Achtjähriger ins KZ deportiert, weil die Deutschen in seinem Dorf gegen die »sehr aktiven Partisanen« eine »Strafaktion« durchführten.
Demidovs Verband vertritt knapp vier Fünftel der rund 250 000 noch lebenden Opfer des Nationalsozialismus in der heutigen Ulkraine. Er war bei den Verhandlungen um die Entschädigungen dabei und kritisiert den Umgang der Deutschen mit den Opfern. »Das waren keine Verhandlungen auf Augenhöhe. Am Ende waren alle, die in der deutschen Landwirtschaft arbeiteten, von den Entschädigungszahlungen ausgeschlossen. Und wer in den Jahren 1942 und 1943 für die Nationalsozialisten in den Kohlegruben des Donez schuften musste, ging ebenfalls leer aus.«
Demidov musste über 40 Jahre warten, bis er öffentlich über sein Schicksal reden konnte. Erst ab dem Jahr 1988 war es ehemaligen KZ-Häftlingen im sowjetischen Machtbereich erlaubt, sich zu organisieren und zu treffen. Alle, die den Deutschen in die Hände gefallen waren, galten den sowjetischen Machthabern als suspekt. Für sie gab es nur »Sieg oder Tod«.
Mit dem Tod konfrontiert war Franz Brzhezytsky aber nicht erst mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie die meisten jungen Leute, die auf dem Land groß geworden sind, erlebte er seine Jugendjahre inmitten der durch die Zwangskollektivierungen der Bolschewisten verursachten »Großen Hungersnot« in den Jahren 1932/33. Nach seriösen wissenschaftlichen Schätzungen fielen ihr allein auf dem Gebiet der heutigen Ukraine etwa 3,4 Millionen Menschen zum Opfer. Doch Brzhezytsky betont in seinen Erzählungen immer auch den Widerstand gegen die Anmaßungen der jeweils Mächtigen. 1933 wird seine Mutter vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und verschwindet in Sibirien, 1937 wird sein Vater erschossen. Er wächst »auf der Straße« auf, lernt bei Freunden seines Vaters den Beruf des Bäckers. 1942, er ist damals gerade 18 Jahre alt, verschleppen die Deutschen 1 200 junge Männer aus seinem Landkreis ins KZ Majdanek zur Zwangsarbeit. Mit einem frechen Lächeln unterstreicht Brzhezytsky, dass »die Verschleppungen stattfanden, weil wir uns der Macht nicht unterwerfen wollten«. Von den Menschen in »meinem Zug überlebten 20 den Krieg, sieben kehrten in die Heimat zurück, die anderen 13 gingen lieber nach Frankreich und in die USA«.
Noch immer kann er seine Häftlingsnummer aus dem KZ Majdanek »Hundertsieben Einundvierzig!!« auf Deutsch brüllen. Brzhezytsky war bereits der dritte Inhaber dieser Nummer, »zuvor war es ein Jude«. Eingesetzt wurde er beim Straßenbau. »Sehr viele sind dort verrückt geworden, viele haben Selbstmord begangen. Ich habe immer zur ›Gottesmutter‹ gebetet, wie mystisch das auch klingen mag, das hat geholfen«, erzählt er.
Er hat überlebt, »auch wenn mein Krieg erst 1955 zu Ende war«. Kaum war er aus dem Lager befreit worden, wurde er in die Rote Armee eingezogen. Eingesetzt wurde er bei Dresden, »aber immerhin hat man uns dort zu essen gegeben«. Als er Brot an deutsche Kinder gibt, bekommt er Ärger mit »Stalins Leuten«. Aber sein Kommandant rettet ihn vor dem Geheimdienst und sagt: »Gut gemacht, Soldat, diese Kinder werden sich an uns erinnern!« Doch als er 1946 in der Ukraine erneut vom NKWD verhaftet wird, findet sich die Geschichte in seiner Akte. Inzwischen 22 Jahre alt, kann er fliehen und lebt vier Jahre in seiner Heimat in der Illegalität, »die Nacht wurde für mich zum Tag, da konnte ich ausgehen«, bevor ihn der NKWD doch noch erwischt und bis weit nach Stalins Tod in ein »Speziallager bei Omsk in Sibirien« schickt. »Dort traf ich viele alte Freunde«, erzählt er. Nach seiner Freilassung forderte der Geheimdienst ihn auf, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen, »nur dann würde es mir besser gehen«. Zurück in seinem Dorf heiratete er »eine sehr schöne und gutmütige Frau, zusammen haben wir zwei Söhne und eine Tochter«. Erst 1989 »konnten wir uns als ehemalige KZ-Häftlinge organisieren«. Mit Unverständnis reagiert Brzhezytsky auf die Frage deutscher Journalisten, was denn nun schlimmer war, das KZ oder der Gulag. »Für mich sind das Stiefel von einem Schnitt, die Gestapo prügelte mehr, das NKWD schickte mich länger in die Verbannung.« Man hat den Eindruck, dass er sich durch die Entschädigungen aus Deutschland und durch die Arbeit der Stiftung EVZ innerlich ausgesöhnt hat mit seinem Schicksal als Zwangsarbeiter, echauffieren kann er sich dagegen über die, wie er sie nennt, »Stalin-Leute«. Aus Deutschland »habe ich 15 000 Mark bekommen, von den Russen einen Coupon im Wert von drei Streich­­­­holzschachteln«.
Als sein Sohn in dem von der Stiftung EVZ unterstützten Projekt Mission der Samariten in dem kleinen Dorf bei Zhytomir vorbeikommt, um ihn abzuholen, ist Brzhezytsky sichtlich stolz auf seinen Nachwuchs. Und darauf, es geschafft zu haben, eine Familie gegründet zu haben – und darauf, dass er ein Leben nach dem Lager hat führen können.
Am Vorabend des 9. Mai, des »Tags des Sieges«, findet im Dorf ein Fackelumzug zur Erinnerung an die Opfer des Krieges statt. Fragen nach den jüdischen Mitbewohnern werden von den Dorfbewohnern eher nebenbei beantwortet. »Die Deutschen trieben die Juden des Dorfes zuerst ins Nachbardorf, und dann erschossen sie alle gemeinsam.« Die Stelle liege mitten im Wald, sei aber völlig unmarkiert, nichts erinnere an das Massaker.
»All diese unerzählten Geschichten, die erst jetzt im Alter hochkommen, sind unsere große Aufgabe«, berichtet Ihor Rishko, Psychologe und Leiter des Internationalen Medizinischen Reha-Zentrums inmitten einer Plattenbausiedlung in Kiew. Das Projekt für Kriegsopfer und Opfer der totalitären Regime betreut rund 2 500 Patienten im Jahr. »1946 durfte man auf keinen Fall erzählen, dass man in Deutschland war«, erzählt Inessa Mirchevskaya, die 1943 als Zehnjährige zusammen mit ihrer Mutter ins Ruhrgebiet verschleppt wurde, »dann wäre man nur von einem KZ ins nächste Lager gekommen.« Selbst engste Freunde waren überrascht, als die heute 78jährige zu Beginn der neunziger Jahre erzählte, dass sie mal in Deutschland war. »Viele Alte leben oft ganz allein«, berichtet Rishko, »es ist ihnen nicht mehr gelungen, neues Vertrauen zu jemandem aufzubauen.« Karg ist die Ausstattung der Praxis.
Der ukrainische Staat hat kein Geld für eine medizinische Versorgung der Bevölkerung. »80 Prozent der Leute behandeln sich selbst aus der Apotheke, wo fast alles ohne Rezept verkauft wird«, berichtet Rishko, »wir finanzieren unseren Etat in Höhe von 60 000 bis 100 000 Euro im Jahr nur aus Spenden.« Der wichtigste Geldgeber ist die Stiftung EVZ. Die Zahlungen aus Deutschland werden mit ambivalenten Gefühlen angenommen. »Wie will man uns je dafür entschädigen, dass wir wie Vieh behandelt und mit Nummern gestempelt wurden?« fragt sich Anastasia Kuley, die in Auschwitz und in Bergen-Belsen inhaftiert war. Zunächst war sie in einem Arbeitslager inhaftiert worden, nach zwei Fluchtversuchen wurde sie ins KZ deportiert. »Das Geld rettete unsere Familie, als wirtschaftlich in der Ukraine alles zusammenbrach«, sagt die 85jährige, »und im Gegensatz zu Leuten, die im Gulag waren, haben wir wenigsten was bekommen.« Ihr Hass richtet sich auf »die Bolschewiken«, das NKWD und Stalin. Fast nie ist von »den Russen« die Rede. Es sind vor allem die großen und kleinen Widerstandsaktionen, die ihr bis heute im Gedächtnis geblieben sind, die Erinnerung an das Lager wurde verdrängt. Kraft und Zuversicht geben ihr bis heute die Erinnerungen an die Flucht aus dem Lager. Doch es fehlen inzwischen oft die Zuhörer für ihre Geschichten. So beklagt sich Franz Brzhezytsky bitter, dass sich »die ukrainischen Jugendlichen für nichts interessieren, nur für Geld!« Doch genau dies sieht der Schriftsteller Andrej Kurkow positiv. »Sie streiten sich zum Glück nicht mehr um rote Fahnen, sondern entwickeln gemeinsame Geschäftsideen.«