Die Türkei und die Proteste in Syrien

Die Repression tobt vor der Haustür

Zehntausende syrische Flüchtlinge leben mittlerweile in Zeltstädten an der türkischen Grenze. Die Türkei wird zwar international für die humanitäre Versorgung gelobt. Doch die Flüchtlinge auf der türkischen Seite der Grenze werden abgeschirmt und dürfen keine Besucher oder Journalisten empfangen. In der Provinz Hatay ist ihre Anwesenheit ohnehin nicht gern gesehen.

Ein Paket voller Babywindeln und Handtücher ist für Mahir L. ein großes Geschenk. Seine beiden Schwestern haben Kleinkinder zu versorgen und warten sehnlichst auf die Hygieneartikel. Er bedankt sich immer wieder bei der jungen Frau, die das Paket mit den dringend benötigten Dingen für ihn zusammengepackt hat. Das Dorf Güvecci liegt nur 500 Meter von der syrischen Grenze entfernt in der südtürkischen Provinz Hatay. Täglich kommt der 24jährige Syrer Mahir L. aus der Zeltstadt auf der syrischen Seite durch die hügelige Berglandschaft bis hierher. Die Bewohner Güveccis gehören der arabischen Minderheit in der Türkei an, haben oft Verwandte in Syrien und kennen die Probleme dort gut.

L. gehört zu den Flüchtlingen, die erst vor einigen Tagen an der syrisch-türkischen Grenze angekommen sind. Sein Heimatdorf Sirmaniyeh, nahe der nordwestsyrischen Stadt Dschisr al-Schughur, liegt lediglich zehn Kilometer von der Grenze zur Türkei entfernt. Vor einer Woche war der junge Mann mit seiner Familie von der Militäroffensive der syrischen Armee überrascht worden. »Ich bin ein einfacher Handwerker«, sagt er sichtlich erschöpft, »und habe nichts mit Politik zu tun.« In seinem Dorf hatte er sich mit seiner Familie sicher gefühlt. Das war offensichtlich ein Irrtum. Denn Dschisr al-Schughur ist einer der Orte, in denen der Protest gegen den syrischen Staatspräsidenten Bashar al-Assad und sein Regime besonders groß ist. Die Kleinstadt war bereits tagelang belagert worden und auch die umliegenden Dörfer blieben nicht von der brutalen Offensive verschont.
Als die Hubschrauber über die Dächer gedonnert seien, sei Abdullah, sein 15jähriger Cousin, vom Balkon gestürzt, erzählt Mahir L. Er sei mit einem gezielten Kopfschuss in die Stirn getötet worden. Mit den Eltern und den beiden Schwestern samt ihren Kindern habe sich L. wie Tausende andere vor ihnen auf den Weg zur türkischen Grenze gemacht. Dort leben etwa 10 000 syrische Flüchtlinge aus der ganzen Region in Zelten. Obwohl sie sich auf syrischem Boden befinden, versorgt die türkische Armee sie mit Wasser und Grundnahrungsmitteln. »Die Türkei ist das einzige Land, das uns hilft«, betont der 24jährige und macht sich auf den Weg zurück in das Zeltlager. Angst vor syrischem Militär muss er an dieser Stelle nicht haben. Bei Güvecci hat sich der syrische Grenzschutz vollständig zurückgezogen. Die türkischen Grenzsoldaten beobachten das Geschehen, verhindern die Grenzübertritte aber nicht.
Majid und Mustafa sind jeweils 17 Jahre alt und sitzen verloren auf der Mauer des leeren Hofes der türkischen Dorfschule von Güvecci. Hier haben gerade die Ferien begonnen, doch das interessiert die beiden syrischen Jugendlichen nicht. Sie haben an einigen Demonstrationen in Dschisr al-Schughur teilgenommen und gesehen, wie die Sicherheitskräfte auf Gleichaltrige schossen. Polizei und Militär machten offenbar nicht vor Jugendlichen, Frauen oder Kindern halt. »Jetzt behaupten sie, die Opfer seien alle nur kriminelle Banditen«, empört sich Mustafa.

Die beiden Jugendlichen zieht es regelmäßig über die Grenze in die Türkei, um sich mit ihren Mobiltelefonen bei Facebook einzuloggen und den Nachrichten der oppositionellen Blogger-Szene zu folgen. Auf der syrischen Seite funktioniert das Internet nicht, so wie in der gesamten Krisenregion. Die Jugendlichen besitzen mittlerweile türkische Sim-Karten. Doch das türkische Netz sei trotz der geringen Entfernung zum Zeltlager zu schwach, um Videos oder Fotos herunterzuladen, berichten sie. Zugleich haben sie Bekanntschaft mit den Gleichaltrigen in Güvecci gemacht, die nur zu gern auch einen Teil der plötzlichen medialen Aufmerksamkeit erhalten würden.
Der Freitag hat sich im gesamten Nahen Osten als Tag des Protestes etabliert, dessen schnellste Plattform das Internet ist. In einem Blog wird eine traurige Bilanz der Opfer der Proteste am vergangenen Freitag gezogen: zwei Todesopfer in der Stadt Homs in Zentrum Syriens, mindestens ein Todesopfer gab es in der östlichen Stadt Deir al-Sor, ein weiteres in der Hauptstadt Damaskus und zwei in Dael in der südlichen Provinz Deraa.
Die fehlenden Nachrichten aus Dschisr al-Schughur bedeuteten nicht, dass sich dort nichts mehr ereigne, sagen Mustafa und Majid. Auf einigen Dächern in Güvecci flattern Fahnen mit dem Porträt des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Majid ist eigentlich einer seiner syrischen Anhänger, vor allem auch wegen Erdogans Politik Israel und die Palästinenser betreffend. »Warum sagt er jetzt nicht dasselbe zu Bashar al-Assad?« brummt er nun bitter.
Fast ebenso viele Flüchtlinge wie auf der syrischen Seite sind in der Grenzregion der türkischen Provinz Hatay in drei Lagern des türkischen Roten Halbmonds untergebracht. Nach Angaben des türkischen Außenministeriums werden dort momentan mehr als 9 600 Menschen versorgt. Das größte, 5 000 Flüchtlinge fassende Zeltlager liegt am Rand des Dorfes Boynuboyun inmitten einer paradiesischen Landschaft. Der Fluss Asi schlängelt sich durch Olivenhaine, Tabakfelder und Obstplantagen.
Einheiten der paramilitärischen türkischen Jandarma, die für den Grenzschutz zuständig ist, unterbinden jedoch penibel Kontakte zwischen den Flüchtlingen und der Außenwelt. Der humanitäre Einsatz der Türkei wird sowohl von der Uno als auch von der EU für seine Professionalität bei der Versorgung der Flüchtlinge gelobt. Trotzdem traten 100 Flüchtlinge in der vergangenen Woche in einen demonstrativen Hungerstreik, als die Botschafterin des Uno-Flüchtlingshilfswerks, Angelina Jolie, das Zeltlager besuchte und die gesamte Aufmerksamkeit der Medien auf sich zog. Während die Hollywood-Schauspielerin Spielzeug an Flüchtlingskinder verteilte, protestierten Männer und Frauen hinter Stacheldraht und Planen dagegen, vollkommen abgeschirmt zu werden. Die etwa 100 Hungerstreikenden fordern, Besucher empfangen, unkontrollierte Medienkontakte unterhalten und öffentlich gegen das Assad-Regime protestieren zu dürfen. Ihre Nachrichten übermitteln sie telefonisch an die Blogger-Szene.

Rosh Abdelfatah, ein aus Syrien stammender Kurde, lebt mittlerweile mit einem niederländischen Pass in Rotterdam. Der Filmemacher sammelt seit Monaten Material zur »syrischen Revolution« und ist auf Facebook sehr umtriebig. Nun ist er in die Provinz Hatay gekommen, um von der medialen Aufmerksamkeit zu profitieren. Er bietet Journalisten seine Hilfe als Übersetzer an und betätigt sich so als Mittelsmann zu den an die Grenze kommenden Oppositionellen. »Das Problem ist der Propaganda-Apparat von Assad«, sagt er. Der müsse umgangen werden.
In Antakya, der Provinzhauptstadt von Hatay, werden die Vorgänge generell mit Skepsis betrachtet, vor allem von örtlichen Wirtschaftstreibenden. Der kleine Grenzverkehr mit von den Protesten nicht betroffenen Städten wie Aleppo, einer der touristischen Attraktionen Syriens, hat hier große wirtschaftliche Bedeutung. Selbst der für die Flüchtlinge und ihre Belange eintretende Vorsitzende des Menschenrechtsvereins von Antakya, Mikhat Can, hat Verständnis für die Vorbehalte aus der Tourismusbranche. Eine relativ stabile Diktatur sei momentan vielen in der Türkei lieber als eine nicht einschätzbare Protestbewegung, sagt er lakonisch. Der Tourismus-Experte Ertugrul T. ist auf die Flüchtlinge nicht gut zu sprechen. »Die meisten sind Habenichtse, die die Situation ausnutzen«, meckert er – als sei es ein Vergnügen, eingesperrt in einem türkischen Flüchtlingslager zu leben.