Arbeiterkämpfe am Suez-Kanal

Die Generäle sollen gehen

Straßenfest in Kairo, Straßenschlachten in Suez – während die Demonstranten in der ägyptischen Hauptstadt unbehelligt blieben, wurde in der Arbeiterstadt am Kanal gekämpft. Die Demokratiebewegung wendet sich nun offen gegen die Militärherrscher.

Am Freitag, dem Tag der großen Demonstrati­onen, sind die Menschen in allen großen und vielen kleinen Städten auf der Straße, unter anderem in Kairo, Suez, Alexandria, Ismailiya, Assuan, Luxor, Sharm al-Sheik und Mansoura. Sie besetzen Plätze, errichten Camps und blockieren Fernstraßen. Die Protestierenden fordern den Rücktritt des Regimes und versichern, nicht zu gehen, ehe ihre Forderungen erfüllt sind.
Was da auf dem Tahrir-Platz in Kairo und auf unzähligen Plätzen im Land passiert, ist in den Augen der Protestierenden eine weitere Revolution. Fassungslos muss die Übergangsregierung mit ansehen, wie eine zweite Welle des Aufstands ihre Macht bedroht. Anders als während der ersten Revolution im Januar und Februar wenden sich die Demonstranten nun auch direkt gegen das Militär, das seit knapp 50 Jahren über Politik und Wirtschaft des Landes bestimmt und seit dem Rücktritt Hosni Mubaraks das Land regiert.

Ihren guten Ruf in der Bevölkerung hat die Militärregierung in den Monaten seit der Revolution verspielt. Zunächst bei der Protestbewegung und den Arbeitern, gegen die die Armee mit willkürlichen Verurteilungen und Folter hart vorgeht. Doch die Popularität der Offiziere schwindet auch bei anderen Bevölkerungsgruppen. Zu offensichtlich ist, dass das Militär Angehörige des alten Regimes protegiert und kein Interesse daran hat, folternde und mordende Polizisten zur Rechenschaft zu ziehen. »Hau ab, Tantawi!« steht auf einem Plakat auf dem Tahrir-Platz über dem Bild General Mohammed Hussein Tantawis, des Vorsitzenden des herrschenden Militärrats. »Du kannst Mubarak folgen. Merkt ihr es endlich, wir lassen uns nicht mehr verarschen!«
Am 29. Mai brachen in Kairo spontane Proteste aus, mehr als 1 100 Menschen wurden nach offiziellen Angaben verletzt, die Polizei musste nach 20 Stunden heftiger Straßenschlachten fliehen. In Suez blockierten Protestierende die Hauptstraße nach Kairo, nachdem zehn Polizisten freigelassen worden waren, die dort während der Revolution viele Menschen erschossen hatten. Später besetzen die Demons­tranten dort den zentralen Arbeen-Platz. Auch der Tahrir-Platz in Kairo wurde erneut besetzt.
Für Freitag voriger Woche war von den Jugendbewegungen und einigen kleineren Parteien eine weitere Großdemonstration angekündigt worden. Die Stimmung hatte sich so stark gegen die Regierung gewendet, dass sich letztlich auch jene zur Teilnahme gezwungen sahen, die zuvor gegen die Demonstration gewettert hatten. Sogar die Muslimbrüder schlossen sich an, selbst die konservativen Präsidentschaftskandidaten kündigten an, auf dem Tahrir-Platz zu erscheinen.

Tatsächlich sind am 8. Juli wieder Millionen Menschen auf der Straße. In Kairo herrschen über 40 Grad, Aktivisten spannen große Sonnensegel aus weißen Stoffbahnen über den Platz. Freiwillige füllen Wasser in Flaschen, die Menschen halten sich Bücher, Zeitungen und Sonnenschirme über den Kopf, die fliegenden Händler geben schweiß­überströmt Glas um Glas Mangosaft aus. Um die Mittagszeit hallt der Gebetsruf von den Bühnen, der Platz verwandelt sich in ein Meer von bunten Rücken. Die Stimmung ist entspannt, doch manche tragen noch eine Gasmaske um den Hals. »Bis Mitternacht ist es sicher«, sagt Rana. »Aber dann gehen die Muslimbrüder und viele andere. Wer weiß, was dann passiert.« Den Angriff bezahlter Schläger in der Woche zuvor hat hier niemand vergessen, viele tragen noch immer Verbände oder gehen an Krücken. »Wir bleiben«, kündigt Ramy an. »Wir haben es mit Reden versucht, nichts ist passiert. Wir müssen zurück auf den Platz, wenn wir die Forderungen der Revolution durchsetzen wollen.«
Aber die Feststimmung bleibt, und in den folgenden Nächten strömen immer mehr Protestierende auf den Platz. »Unglaublich!« sagt Rana und sieht in der dritten Nacht um zwölf Uhr zu, wie Abertausende über den Platz ziehen, Familien mit Kindern, Junge und Alte. Die Menschen umarmen sich und strahlen, singen und klatschen zu den Liedern, die auf mehreren Bühnen zugleich gegen die Regierung gesungen werden.

»Das letzte Mal waren die Proteste spontan«, sagt Ramy. »Alles hat sich erst auf dem Platz organisiert.« Jetzt gibt es unzählige neu entstandene Gruppen. Sie haben die weißen Zelte aufgestellt, in die sich nachts alle legen, in manchen Zelten Männer und Frauen zusammen trotz misstrauischer Blicke von außen, in anderen getrennt. Immer bringt irgendwer Essen für alle und Saft, überall stehen Flaschen mit Wasser bereit. Immer wieder finden sich neue Gruppen zusammen, rufen Parolen gegen General Mohammed Hussein Tantawi oder stimmen Songs der Ultras Zamalek gegen die Polizei an. Fast scheint es, als ob alle nur darauf gewartet hätten, wieder hier zu sein und das berauschende Gefühl zu spüren, dass ein anderes Zusammenleben möglich ist und man gemeinsam etwas erreichen kann.
Die Regierung hat die Staatsmedien angewiesen, nicht über die Proteste zu berichten, ansonsten ist die erste politische Reaktion eine nichts­sagende Rede des blassen und übermüdeten Premierministers Essam Sharaf am Samstagabend. Man wolle mit den Protestierenden reden, sagt Sharaf, er wiederholt vage Reformversprechen. »Wenn er mit uns reden will, soll er auf den Platz kommen«, bloggen Aktivisten. Wenig später meldet sich Innenminister Mansour al-Essawy zu Wort: Er denke nicht daran, Polizisten zu entlassen. Dann schweigen Regierung und Militärrat wieder. »Das macht mir Angst«, sagt eine Aktivistin. »Wenn sie mit uns reden wollten, hätten sie sich längst gemeldet. Was bereiten die vor?«
Eine erste Antwort gibt es am Sonntag. In Suez waren die Proteste bereits in den Tagen zuvor am heftigsten, mehr als 6 000 Menschen campten auf dem zentralen Platz, ihnen schlossen sich 10 000 streikende Hafen- und Fabrikarbeiter an. Suez, die Stadt am Kanal, ist eine arme Arbeiterstadt, hier war die Revolution im Januar am heftigsten, Hunderte sind umgekommen. Die Lage hat sich seither nie mehr wirklich beruhigt, die Polizei war kaum noch zu sehen. Jetzt verschwindet sie vollkommen, die Demonstranten drohten, jeden Polizisten, den sie in Uniform erwischen, totzuprügeln. Dann erklärte sich Suez für unabhängig von der Militärregierung und die Hafenarbeiter kündigten an, den Kanal zu blockieren, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt würden.
Der Suez-Kanal bringt Ägypten Milliarden ein, er ist entscheidend für das Militär, dem manchen Schätzungen zufolge 25 bis 40 Prozent der Unternehmen gehören. Am Sonntagabend griff das Militär ein und begann, den Arbeen-Platz gewaltsam zu räumen. Verstärkung rückte an, um den Kanal um jeden Preis zu sichern. Die Schlacht um die Stadt begann.
In Kairo blieb es ruhig, in Suez wurde die ganze Nacht lang gekämpft, es wurden mehrere Todesopfer gemeldet. Die Bloggerin Lilian Wagdy fuhr nach Suez und berichtete: Eine Geisterstadt, weder Autos noch Menschen auf den Straßen, ausgebrannte Polizeistationen, immer wieder spontane Blockaden.
Die Menschen haben den Arbeen-Platz erneut besetzt. Ein Arbeiter der staatlichen Ölfirma hat sich mit Benzin übergossen und angezündet, er starb. Am Montagabend kündigt Sharaf an, er werde zwölf Minister entlassen. Die Reaktion auf dem Tahrir-Platz: »Wir gehen nicht!« Die Protestierenden in Suez haben weitere Demonstrationen angekündigt, in Kairo und anderen Städte wird dazu aufgerufen, sie zu unterstützen. Der Fortgang der zweiten Revolution, das ist allen Aktivisten klar, wird nicht zuletzt in Suez entschieden werden.