Muslimbrüder in Ägypten kritisieren den islamischen Staat

Regieren ohne Gott

In Ägypten stellen sunnitische Kleriker und unzufriedene Muslimbrüder das traditionelle Konzept des islamischen Staats in Frage.

Ausgerechnet von der al-Azhar-Universität kam kürzlich eine erstaunliche Stellungnahme. Ihr Elf-Punkte-Programm fordert die Schaffung eines demokratischen und zivilen Staats in Ägypten. Gesetze sollen von einem gewählten Parlament verabschiedet werden, Gewaltenteilung und Bürgerrechte garantiert sein. Der Koran soll zwar die wichtigste, aber nicht die einzige Quelle der Gesetzgebung sein, Kleriker sollen nicht regieren, sondern nur beratende Funktion haben. Damit erteilt die al-Azhar-Universität, die als oberste Autorität des sunnitischen Islam gilt, traditionellen islamistischen Staatsvorstellungen eine überraschend deutliche Absage.
Obgleich sie keineswegs einem säkularen Staat das Wort redet, stärkt sie doch jene Gruppierungen unter den islamistischen Parteien in Ägypten, die inzwischen offen gegen die mögliche Etablierung eines islamischen Staats opponieren. Über die Frage, ob das künftige Parlament die alleinige Befugnis zur Gesetzbegung haben soll, ob alle Ägypter zuerst Staatsbürger seien und ungeachtet von Konfession und Geschlecht in jedes politische Amt gewählt werden könnten, hatten bereits kurz nach dem Sturz Hosni Mubaraks heftige Auseinandersetzungen in der Muslimbruderschaft begonnen.
Weil sie mit der dogmatischen Haltung vor allem der älteren Führungsriege nicht übereinstimmten, haben verschiedene ehemals hochrangige Mitglieder der Muslimbruderschaft Parteien gegründet. Besonders schmerzlich dürfte für die Führung der offene Bruch mit ihrer Jugendorganisation sein, die kürzlich ebenfalls eine eigene Partei gegründet hat und inzwischen nicht nur einen »zivilen Staat«, sondern sogar die Trennung von Staat und Religion fordert.
Wie bedeutend diese Entwicklung ist, zeigt sich, wenn man die traditionelle islamistische Haltung betrachtet. Für Kleriker wie den in Saudi- Arabien lehrenden Sheikh Anwar al-Awlaki ist Demokratie, wie er jüngst erklärte, schlicht »ein unislamisches System«. Im islamischen Staat regiere der Kalif im Auftrag Gottes die Umma, die Gemeinschaft der Gläubigen. Der Souverän ist Gott, dessen im Koran niedergelegte Gesetze wortgetreu angewendet werden müssen und von keinem Parlament geändert werden können.
Kein Geringerer als Gamal al-Banna, Bruder des Gründers der Muslimbruderschaft, wies kürzlich darauf hin, dass es entweder einen islamischen Staat, in dem alleine die Sharia gelte, oder einen zivilen Staat mit einem Parlament und von Menschen gemachten Gesetzen geben könne. Eine Mischform dagegen sei nicht denkbar. Denn auch wenn die Muslimbrüder Zugeständnisse machen, gilt weiter ihr traditionell islamistischer Leitspruch: »Allah ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unser Gesetz. Der Jihad ist unser Weg.« Erst jüngst sagte der Muslimbruder Ahmad Gad, die Einführung der Sharia sei die einzige Lösung für Ägypten.
Dass nun Angehörige islamistischer Gruppen und muslimischer Kleriker dieses traditionelle Konzept so deutlich kritisieren, ja offen in Frage stellen, könnte, falls dieser Trend sich fortsetzen sollte, der Beginn einer Entwicklung in Teilen des religiösen Establishments sein, die zur Akzeptanz säkularer Staaten in der islamischen Welt führt. Die Mehrheit der Muslimbrüder allerdings wird alles versuchen, um dies zu verhindern.