Über die Londoner »Last Tuesday Society«

Einen Gin auf den Puma

Die »Last Tuesday Society« in London ist Club, Volkshochschule, Galerie und Museum. Die merkwürdigsten Dinge werden hier ­ausgestellt, und der Betreiber verkauft Pralinen in Form seines Afters.

Die »Last Tuesday Society« residiert im Arbeiterbezirk Hackney im Nordosten Londons in einem kleinen Ladengeschäft. Der Club veranstaltet Maskenbälle, Kostümfeste und Landpartien. Vierteljährlich finden Séancen statt, unregelmäßig wird zu der Veranstaltung »Loss – an evening of exquisite misery« geladen, auf der Menschen mit gebrochenem Herzen Zwiebeln schneiden und Gin aus Porzellantassen trinken. Angeboten werden Kurse in Zeichnen, Maskenmodellage oder Kürbisschnitzen. Außerdem gibt es Vorträge über Hypochondrie und Syphilis, es geht um Bataille und Vodoo, die erotischen Provokationen des japanischen Surrealismus, um Beckett, Borroughs, Caravaggio, die Kunst, ein Gentlemen zu sein, und alles, was die beiden Betreiber Viktor Wynd und Suzette Field sonst noch interessant finden.
Das Ganze wirkt wie eine Schule der Dekadenz mit den Fächern »Dandytum« und »Boheme«. Doch der selbsternannte »Chancellor« der Gesellschaft, Viktor Wynd, will weder Dandy noch Bohemien sein: »Ich bin ex­trem konventionell – abgesehen davon, dass ich stundenlang über meine Darmbewegungen und Masturbationsgewohnheiten sprechen kann.« Tatsächlich ist er ein höflicher Gastgeber und kultivierter Ironiker, der genau weiß, dass die Gesellschaft heute weder mit Extravaganz noch mit Konventionsbrüchen zu schockieren ist. Schließlich gehören die antipuritanischen Möchtegern-Aristokraten wie die radikalen Künstlerexistenzen der bürgerlichen Vergangenheit an. Exzentrizität, kreative Freiheit und Selbstverwirklichung sind in einer Zeit, in der Leute ihr »Profil« pflegen und verwalten, längst zur Pflicht geworden. Viktor Wynd, Mitte Dreißig, arbeitet erfolgreich als Veranstaltungsmanager, Galerist, Kurator, Locationscout und Künstler. Seine Aktivitäten werden von »Hendrick’s Gin« gesponsort, weil Viktors Extravaganz gut zum Image der Traditionsmarke passt. Gesellschaftliches Außenseitertum sieht anders aus. Ist die Society also ein modernes Kreativunternehmen? »Dekadenz«, sagt Viktor, »kommt vom lateinischen Wort für ›fallen‹, und fallen ist eine schöne Art der Bewegung.« Er weist eine kleine Treppe hinunter und fügt hinzu: »Fast wie ein kleiner Selbstmord«. Spricht’s und verschwindet zwischen einer ausgestopften Riesenschildkröte und einem halben Puma.
In den Kellerräumen regiert der Künstler über sein Kuriositätenkabinett. Es erinnert an die Wunderkammern der Spätrenaissance und des Barock, in denen Objekte unterschiedlichster Herkunft und Bestimmung in schönstem Durcheinander ausgestellt wurden. In Viktor Wynds Sammlung finden sich neben einem eingefassten Straußenei, einer 100 Jahre alten Beinprothese und vielen Tierpräparaten auch eine Reihe zeitgenössischer Kitschobjekte. Neben islamischer Keramik der frühen Neuzeit liegt das Kartenspiel »Playing cards with transvestites«, die Wände werden von Kupferstichen aus dem 16. Jahrhundert ebenso bedeckt wie von Bildern zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen. Bücher mit Titeln wie »What to say when you talk to yourself« oder »People who don’t know they are dead« füllen die Regale. Man meint, eine gewisse Faszination für den Analbereich zu erkennen. Jedenfalls verkauft Wynd den Schokoladenabdruck seines Afters als Praliné an die interessierte Kundschaft. Seine Wunderkammer ist weniger Ausdruck von Nos­talgie, sondern eine echte Obsession. Das Anhäufen von Objekten sei für ihn so wichtig »wie das Atmen«, erklärt er sein Verständnis von Dekadenz: den Dingen zu verfallen und in ihnen zu verschwinden. Als »Hendrick’s« ihm anbot, seinen Laden zu finanzieren, habe er nur einen Gedanken gehabt: »Noch mehr Platz zum Sammeln!«
Wie sieht eigentlich seine Privatwohnung aus? »Genauso.« Verkauft er auch Sachen? »Fast alle Sachen sind käuflich. Viele sind ganz besonders teuer. Die Dinge erzählen eine Geschichte, aber das ist eben meine Geschichte. Es geht mir nicht darum, aus welcher Zeit oder woher sie stammen, sondern wie sie aussehen.« Klingt das nicht alles sehr nach dem Ästhetizismus des Dandy? Und ist der Rausch der hemmungslosen Sammelleidenschaft ungeachtet aller konventionellen ästhetischen Gesetzmäßigkeit nicht sehr bohemienhaft? Seit wann gibt es die »Last Tuesday Society« eigentlich? »Es ist eine ›Pataphysical Organization‹, die William James 1878 in Harvard gegründet hat«, behauptet Viktor Wynd. Das stimmt nicht ganz, denn die Gruppe um den amerikanischen Psychologen und Philosophen nannte sich »Metaphysical Club«. Auch wenn der Name dies nicht vermuten lässt, ging aus dieser Gruppierung der »Pragmatismus« hervor, der die menschliche Praxis als Grundlage allen Wissens ansieht und daraus folgert, dass alles Denken sich nach den bekannten Fakten zu richten und an den Methoden der Naturwissenschaft zu orientieren habe. Das Panoptikum der »Last Tuesday Society« orientiert sich dann aber doch eher an Wynds aufgeklärter Esoterik.
Die »Pataphysik« ist eine Erfindung des französischen Schriftstellers Alfred Jarry und wurde als die nonsensische Variante moderner Wissenschaft propagiert. Das absurde Theoriekonzept wurde beispielsweise von Marcel Duchamp, den Surrealisten oder John Cage aufgegriffen. Während Museen die Fundstücke und Schätze der Welt in spezialisierte Abteilungen sperren und die wissenschaftliche Arbeitsteilung alle Phänomene in bestehende Kategorien ordnet, lässt Viktor Wynd den Dingen ihr Eigenleben. Das pataphysische Prinzip des »gezielten Zufalls« etwa passt zu seiner Kollektion. Seine Sammlung hat etwas Zufälliges, aber nichts Beliebiges. »Du kannst es als ein kleines Paralleluniversum sehen«, sagt Viktor, »to make the world a better place.«