Kenan Malik im Gespräch über die Riots und den Unterschied zu klassischen sozialen Revolten

»Es ist ein Generationenproblem«

Der britische Publizist Kenan Malik gilt als linker Kritiker des Multikulturalismus. In seinem neuesten Buch »From Fatwa to ­Jihad. The Rushdie Affair and its Legacy« beschäftigt er sich mit den Folgen der Rushdie-Affäre. Vergangene Woche hat er auf seinem Blog »Pandaemonium« einige Anmerkungen zu den Ausschreitungen in Großbritannien veröffentlicht.

Sie haben geschrieben, dass die Riots in Großbritannien keine Herausforderung für die bestehende soziale Ordnung darstellten, anders als die Unruhen in den achtziger Jahren. Wo sehen Sie die Unterschiede?
Die Unruhen der achtziger Jahre waren eine Reaktion auf Massenarbeitslosigkeit und auf die repressive Politik des britischen Staats. Diese Riots waren nicht politisch organisiert, konnten aber als kollektive Reaktion auf den Rassismus und die Repression der Polizei gedeutet werden. Sie entstanden aus der sozialen Ungerechtigkeit und aus einem Wunsch nach sozialer Veränderung. Die Riots von vergangener Woche sind in meinen Augen ganz anderer Natur, weil unter den an ihnen Beteiligten kein Bewusstsein erkennbar war, Teil einer kollektiven Bewegung zu sein, und kein Wunsch, die Gesellschaft zu verändern. Es handelte sich nicht um Proteste, sondern um eine Mischung aus Gang-Gewalt und pubertärer Zerstörungswut. Während der Riots in den siebziger und achtziger Jahren gab es auch Plünderungen, aber sie waren eher nebensächlich, wichtig war damals die Auseinandersetzung mit der Polizei. Die Krawalle der vergangenen Woche waren dagegen nur durch das Kaputtmachen und die Plünderungen charakterisiert. Ein weiterer Unterschied ist, dass in den achtziger Jahren die Bewohnerinnen und Bewohner von Brixton, Tottenham oder Handsworth, den Bezirken, die direkt von den Krawallen betroffen waren, die Randalierer unterstützten. Die Bevölkerung in diesen Stadtteilen hatte offenbar verstanden, dass die Gewalt und die Zerstörung kein Selbtszweck waren, dass sie als Teil einer notwendigen Auseinandersetzung mit einem repressiven System zu verstehen waren. Vergangene Woche hingegen wehrten sich die Bewohnerinnen und Bewohner der betroffenen Bezirke gegen die Randalierer.
Kann die britische Politik der urbanen Segregation mit der Einrichtung von Estates am Rande der Großstädte, wo die arme britische und migrantische Bevölkerung lebt, mit der Situation in den französischen Banlieues verglichen werden?
In einem gewissen Sinne kann man das vergleichen. Die Aufstände in den Banlieues im Jahr 2005 waren allerdings, anders als die Ausschreitungen der vergangenen Woche, politisch motiviert. Auch dort kam es zu blinder Gewalt, diese entstand aber aus der Empörung und der Verzweiflung angesichts der brutalen Politik der französischen Polizei gegen eine ethnisch definierte soziale Minderheit. In diesem Sinne kann man die Aufstände in den Banlieues eher mit den britischen Riots der achtziger Jahre vergleichen als mit den Krawallen der vorigen Woche. Ich denke, dass in bei den Unruhen in den Banlieues das Bewusstsein, Teil einer Community zu sein, eine viel stärkere Rolle gespielt hat als bei den jüngsten Riots in den britischen Städten. In Großbritannien ist dieses Bewusstsein in den vergangenen 20 bis 30 Jahren verschwunden.
Spielt die kommunitaristische Politik von Labour in London und anderen britischen Städten eine Rolle für die Entwicklung der sozialen Dynamik, die zu den Ausschreitungen führte?
Ich würde das nicht als zentralen Aspekt betrachten. Die Gewalt und die Plünderungen zeigten vielmehr das Scheitern der kommunitaristischen Politik in bestimmten Stadtteilen der britischen Großstädte. Die Riots waren eher eine Reaktion auf die Fragmentierung der Gesellschaft, auf das Verschwinden eines breiten kollektiven Gefühls und der Chancen für einen sozialen Wandel. Es gab Gegenden, in denen asiatische oder türkische Ladenbesitzer gegen Plünderer vorgingen. Insofern kann man sagen, dass die Riots längst vorhandene Spannungen innerhalb der Communities sichtbar gemacht haben.
Was bedeutet es, wenn migrantische Ladenbesitzer sich bewaffnen, um ihr Eigentum vor ihren eigenen Kindern zu schützen? Findet ein Konflikt innerhalb der Communities statt?
Ja, das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Der Generationenkonflikt ist wichtiger als ethnische oder religiöse Unterschiede. Ich würde fast nur von einem Generationenkonflikt sprechen. Es ist beeindruckend, wie wenig die Randalierer sich um ihre Communities zu sorgen scheinen. Sie scheinen nicht einmal ein Bewusstsein dafür zu haben, dass sie in einer Community leben. Es handelt sich um eine Generation, die sich sowohl von den Communities als auch von der Politik gelöst hat und die ihre Wut nicht kanalisieren kann.
Außerdem sollte man mit bestimmten Begriffen auch vorsichtig umgehen. Mehrfach habe ich darauf hingewiesen, dass das, was wir heute unter »Community« verstehen, keine richtigen Communities sind. Es handelt sich um Fiktionen, die vom Staat geschaffen worden sind. Und diejenigen, die sich community leaders nennen, vertreten niemanden von den Menschen, die in diesen Communities leben, sondern haben ihre Rolle aufgrund ihrer Beziehung zum Staat.
Aus einer klassischen linken Perspektive sind die Ausschreitungen eine natürliche Antwort auf die Brutalität von Armut und ein Angriff auf die neoliberale Politik im Allgemeinen und auf die Sparmaßnahmen der britischen Regierung im Besonderen. Was denken Sie darüber?
Wir haben in Großbritannien eine polarisierte Debatte über die Auseinandersetzungen der vergangenen Woche. Auf der einen Seite wird behauptet, Armut, Arbeitslosigkeit und die Sparmaßnahmen der Regierung seien für die Wutexplosion verantwortlich. Auf der anderen Seite ist von »reiner Kriminalität« die Rede. Ich denke, beide Positionen sind falsch. Diese Polarisierung in der Debatte ist ein Teil des Problems. Denn dass es sich bei den Krawallen um deutlich mehr als »reine Kriminalität« handelte, liegt auf der Hand. Und wenn es nur Kriminalität gewesen wäre, würde diese Debatte auch nicht stattfinden.
Die Riots als Revolte gegen Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeit zu verklären, ist aus meiner Sicht allerdings genauso falsch. Das ist irreführend, wenn man die Dynamik hinter den Riots verstehen will, denn diese Faktoren können nicht als »Ursache« bezeichnet werden. Natürlich sind Armut, Arbeitslosigkeit und Entmündigung derzeit sehr verbreitet in der britischen Gesellschaft. Von den verheerenden Einschnitten bei den Sozialausgaben sind Tausende von Briten betroffen, nicht nur die Bewohner der ärmeren Bezirke. Das ist die bittere Realität in Großbritannien, wo in den vergangenen Jahrzehnten die sozialen Ungerechtigkeiten in Hinblick auf Löhne, Gesundheit und Lebensperspektiven enorm zugenommen haben.
Es handelte sich also weder um race riots noch um eine soziale Revolte. Als einfache Hooligans darf man die Beteiligten aber auch nicht bezeichnen …
Nein, um ethnisch motivierte Ausschreitungen geht es nicht, und es ist in der Tat schwierig, die Riots als eine Revolte der Unterklasse zu bezeichnen. Unter den Angeklagten, die wegen der Krawalle Anfang dieser Woche vor Gericht saßen, befanden sich unter anderem Grafikdesigner, Sozialarbeiter, Friseure, Lehrer und so weiter. Daraus entsteht nicht das Bild einer klassischen sozialen Revolte, deren Protagonisten nur die Unterdrückten und Ausgeschlossenen sind. Der soziale Hintergrund der Personen, die sich an den Riots beteiligten, ist nicht homogen. Was diese Menschen gemeinsam haben, ist nicht, dass sie keinen Job haben oder vom Konsum ausgeschlossen sind, sondern ihre Verweigerungshaltung, die daraus entsteht, dass sie sich nicht mehr als Teil ihrer Communities begreifen und dass sie sich vom politischen Prozess gelöst haben. Ich würde in dieser Hinsicht von einer zweiten Art von Armut sprechen, die sich neben der ökonomischen Armut in bestimmten Teilen der britischen Gesellschaft verbreitet hat: Es handelt sich um die moralische Armut einer Generation, die keine Verantwortung für ihre Handlungen mehr übernimmt.
Nur weil die Beteiligten an den Riots keine direkten politischen Ziele verfolgen, heißt das noch nicht, dass die Gründe für diese Ausschreitungen nicht in der Politik gesucht werden sollten.
Das sage ich auch nicht. Ich sage nur, dass mich die Interpretation eines Teils der Linken, der die Krawalle reflexartig als Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise deutet, nicht überzeugt. Hinsichtlich der jüngsten Sparmaßnahmen der britischen Regierung muss man sagen, dass sie noch nicht einmal realisiert worden sind. Wir haben in den vergangenen Tagen viel über die Schließung von Jugendzentren und ähnliche Maßnahmen gelesen, aber die gravierenden Einschnitte, die beschlossen worden sind, müssen erst noch kommen.
Der andere Aspekt, der in linken Analysen vorkommt, nämlich die Kritik am Neoliberalismus, erscheint mir wichtiger. Denn das neoliberale Wirtschafts- und Lebensmodell hat die britische Gesellschaft in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten nicht nur ökonomisch, sondern auch moralisch geprägt, indem es soziale Bündnisse aufgelöst und die Gesellschaft extrem fragmentiert hat. Und wichtig ist, nochmals zu betonen: Diese Entwicklung betrifft nicht die eine oder die andere Community, es ist vielmehr ein Generationenproblem. In der aktuellen Debatte sehe ich die Gefahr, dass dieser Aspekt ausgeblendet wird. Derzeit kann man nämlich beobachten, dass vor allem konservative Politiker und Kommentatoren moralisch argumentieren. Dies erlaubt ihnen, soziale Fragen zu individualisieren und auf dieser Art bestimmte Individuen oder Gruppen für Probleme verantwortlich zu machen, die strukturell sind. Die Rechte hat sich die Rhetorik der Moralität angeignet, und das ist gefährlich.
Nicht nur Konservative, sondern auch ein Teil der Linken scheinen eine repressive Politik gegen die an den Riots Beteiligten zu befürworten. Was denken Sie darüber?
Die Reaktion war ziemlich repressiv. Jemand, der ein Flasche Wasser gestohlen hat, bekam sechs Monate Haft, es wird gerade diskutiert, verurteilte Randalierer aus Sozialwohnungen zu räumen. Während der Riots wurde sogar erwogen, die Armee auf die Straßen zu schicken. All dies ist sehr besorgniserregend in Hinblick auf individuelle Rechte und Freiheiten. Wir werden künftig eine repressivere Politik in Großbritannien erleben.