Die Regierung macht der Protestbewegung in Israel unzureichende Angebote

Sollen sie doch siedeln gehen

Die Sozialproteste in Israel weiten sich aus. Mit einer Wohungsbaureform versuchte die Regierung den Protestierenden entgegenzukommen. Doch die bestehenden Probleme kann sie damit nicht lösen.

In Israel findet ein Aufruhr statt, den es in dieser Form noch nie zuvor gab. Mit dem Zeltcamp auf dem Rothschild Boulevard im Zentrum Tel Avivs ist eine breite Protestbewegung entstanden. (Jungle World 31/11) Am Samstag nahmen etwa 300 000 Personen an der größten Demonstra­tion für soziale Gerechtigkeit in der Geschichte des Landes teil. Dabei kam es erneut zu Straßenblockaden und Verhaftungen. Inzwischen wurden auch in Jerusalem, Haifa und in anderen Bezirken Tel Avivs Zeltcamps errichtet. Die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin »Bibi« Netanyahu steht weiterhin unter Druck.
Der von der Regierung angestrebte Dialog mit der Führung der Protestbewegung hat bisher nicht stattgefunden. Professor Manuel Trachtenberg ist Vorsitzender des sogenannten Sozialteams, eines Expertenkomitees, das im Auftrag Netanyahus die Forderungen der Protestbewegung prüfen und verhandeln soll. Trachtenberg und andere Spezialisten des Teams, wie Professor Eugene Kandel, der derzeitige Vorsitzende des Wirtschaftsbeirats, teilten Netanyahus wirtschaftsliberales Programm und nähmen den Kampf um sozialen Wandel nicht wirklich ernst, so der Vorwurf vieler Protestierender. Nach Informationen von Ynet, einer der größten Nachrichtenplattformen Israels, besteht Trachtenbergs erster Vorschlag zur Entschärfung der Situation darin, die seit Netanyahus Amtsantritt 2009 stetig fallenden Körperschafts- und die Einkommenssteuern anzuheben.
Wegen der Verringerung dieser Steuersätze musste die Regierung mehr Geld durch indirekte Steuern einnehmen, es kam zu Preiserhöhungen insbesondere bei Konsumartikeln. Mit seinem Vorschlag setzt Trachtenberg am Ausgangspunkt der Proteste an, denn die richteten sich zu Beginn vor allem gegen Preiserhöhungen im Konsumsektor, etwa beim beliebten israelischen Hüttenkäse. Mit der Besetzung des Rothschild Boulevard Mitte Juli kamen Forderungen nach Wohnrechten und bezahlbaren Mieten in die Diskussion, der Protest wurde populär. Mittlerweile geht es auch um Verteilungsgerechtigkeit, die israelische Sicherheitspolitik und Kritik am Kapitalismus.
Yonatan Levi, ein 26jähriger Student und Aktivist, lässt sich von Trachtenbergs Vorschlägen nicht beeindrucken. »Wir werden keine Verhandlungen eingehen, die uns in einem Sumpf aus weiteren Klauseln und Artikeln ertränken«, sagte er am Dienstagabend vergangener Woche, am Tisha-B’Av-Feiertag, auf einem informellen Treffen von etwa 50 Personen aus verschiedenen Bereichen der israelischen Gesellschaft, wo unter anderem Akademiker, Architekten und Vertreter kultureller und sozialer Institutionen diskutierten. Zusammen mit Daphne Leef, Stav Shaffir und anderen Aktivisten und Aktivistinnen repräsentiert Yonatan einen Teil der überwiegend jungen Protestleitung. Zweck des Treffens war es, eine Verhandlungsstrategie gegenüber Netanyahus Expertenkomitee zu erarbeiten, Ziele zu konkretisieren und sich darüber klar zu werden, wo­rin die gemeinsame »Vision« besteht, von der in den vergangenen Wochen überall in Israel die Rede war. Für Yonatan stärkte die Debatte seine bereits bestehenden Zweifel, ob Ne­tanyahus Vorschlag ein ernsthaftes Entgegenkommen darstelle. Dem Expertenteam fehle es an Transparenz, es handele sich lediglich um eine Verzögerungstaktik der Regierung, so lautet sein Resümee nach der Diskussion mit Joseph Zeira, Avia Spivak und anderen Wirtschaftsprofessoren.
Diese Einschätzung hat gute Gründe, immerhin beginnt Ende der Woche die Sommerpause der Knesset. Sofern die Lage im Land stabil bleibt, muss das israelische Parlament sich nur noch bis dahin mit den Sozialprotesten auseinandersetzen. Die Oppositionsführerin Tzipi Livni, Vorsitzende der Kadima-Partei, hatte gegen die Sommerpause votiert, denn die Beschäftigung mit den neu aufgeworfenen sozialen Fragen sei dringend. Ihr Einspruch blieb jedoch unbeachtet. Das Parlament wird seine Arbeit offiziell kurz vor der geplanten einseitigen Ausrufung eines palästinensischen Staats wiederaufnehmen, dieses Thema dürfte dann die politischen Debatten in Israel bestimmen.

Das Koordinationstreffen der Protestierenden brachte neben Bekundungen des Misstrauens gegenüber der Regierung auch Neues und Kons­truktives zustande, etwa die Bildung autonomer Gremien. Diese sollen sich verstärkt und professioneller mit Wohnrechten, der Gesundheitsversorgung und Fragen der ökonomischen Verteilung auseinandersetzen. Diese Entwicklung kommt spät. Nach der letzten großen Demonstration haben die Protestierenden die Mehrheit der Bevölkerung zwar auf ihrer Seite. Kaum jemand stellt die Frage, wer dabei war – gefragt wird, wer zu Hause blieb. Die Demonstration war ein gesamtisraelisches Spektakel und weckte ein euphorisches Aufbruchsgefühl. Der gemeinsame Nenner aber, der Ruf der Demonstrierenden nach sozialer Gerechtigkeit, bleibt eine bloße Parole, die sich mit fast jeder Forderung oder ideologischen Position verbinden lässt.
Innerhalb der Protestleitung ist das politische Profil ebenfalls noch recht unbestimmt, auch wenn sich sozialistische Tendenzen ausmachen lassen. Im Verbund mit der Histadrut, dem Dachverband der Gewerkschaften Israels, ist ein Generalstreik geplant. Es gibt aber auch Aktivisten, die die Vagheit des erwachten Ungerechtigkeitsempfindens als größte Stärke des Protests beschreiben, offensichtlich aus strategischen Gründen. Man solle zu konkrete Forderungen und Positionierungen vermeiden, nur so nehme man der Regierung die Möglichkeit, den Protest durch ein, zwei Schönheitskorrekturen zum Verstummen zu bringen.

Ein derartiger Versuch war vorige Woche die Verabschiedung des neuen Wohnungsbaugesetzes. Danach wird pro Bezirk ein aus neun Mitgliedern bestehendes Komitee eingesetzt, das örtliche Bauvorhaben diskutieren und durchsetzen soll. Sieben Mitglieder werden von der Regierung gestellt, zwei kommen aus der israelischen Öffentlichkeit. Diese Komitees, die jeweils für etwa 200 Baueinheiten zuständig sind, konzentrieren sich auf staatlichen Landbesitz, denn mehr als 80 Prozent des Landes unterliegen der Verwaltung der Israel Land Administration und sind damit in öffentlicher Hand. Deshalb muss nicht mehr mit privaten Landeignern verhandelt werden, was Bewilligungsanträge vereinfachen und Bauprozesse beschleunigen soll. So weit die Theorie, in der Praxis sind die Befugnisse der Komitees vage. Wird der auf höchstens sechs Wochen angesetzte Bewilligungszeitraum überschritten, ist automatisch der Ministerpräsident zuständig, nicht wie zuvor das Innenministerium.
Die Reform vergrößert damit nicht nur Netan­yahus Zuständigkeitsbereich, sie ändert auch wenig an der Preislage. Damit bewirkte die Verabschiedung des Gesetzes eher eine Verschärfung des Widerstands. Das Gesetz verstärke existierende Gegensätze und schaffe neue Privilegien, sagt Yigal Rambam, der ebenfalls in der Protestleitung aktiv ist, der Jungle World. »Wohnungen können jetzt zwar schneller gebaut werden, das durchschnittliche Lohnniveau liegt aber noch immer weit unter dem Standard, der für den Kauf notwendig ist. Netanyahu untergräbt dadurch die Bedürfnisse der Mittelklasse.« Tatsächlich wurden erst im letzten Moment zwei Klauseln in die Reform eingefügt, die den Bau von Apartments und Mieteinheiten miteinbeziehen, sonst wäre es nur um den privaten Hausbau gegangen – in Israel ein absoluter Luxus.
Doch nicht nur unbezahlbares Wohnen ist das Problem. »Das Gesetz beschleunigt den Hausbau, ohne notwendige Fragen wie Rechte der Bürger und Anwohner miteinzubeziehen. Es übergeht bestehende Sozialstrukturen und definiert überhaupt keine Kriterien für den Hausbau«, erklärt Gil Gan-Mor, Anwalt und Leiter der Affordable Housing Coalition. Die Gesetzesreform zieht zudem den Ärger von Umweltgruppen auf sich, die schützenswerte Naturgebiete gefährdet sehen.
Zusätzlich zur Gesetzesreform hat das Innenministerium den Bau von knapp 900 Häusern im Siedlungsgebiet Har Homa in Ost-Jerusalem bewilligt. Der Beschluss wirkt wie ein höhnischer Wink an die Protestierenden, gemäß dem Motto: Kein Geld für Miete? Siedlungsgebiete! Zwar ist das Projekt, wie der zuständige Ministeriumssprecher Efrat Orbach bestätigt, seit zwei Jahren beschlossene Sache. Dass es gerade jetzt vom Innenministerium bewilligt wurde, ist aber offenbar kein Zufall. Innenminister Eli Yishai verteidigt den Neubau gegenüber Ynet, indem er auf die Krise im Immobiliensektor verweist. Yishai habe sein Personal angewiesen, vor allem kleine Häuser in den Siedlungen zu bewerben, »als ein Bemühen, das es allen israelischen Bürgern ermöglicht, ein Apartment zu erwerben«. Har Homa liegt zwischen zwei Gemeindegrenzen in der Westbank und neben der palästinensischen Stadt Bethlehem. Die Besiedlung von Gebieten wie Har Homa wird von vielen Israelis als Hindernis für die zur Debatte stehende Zwei-Staaten-Lösung gesehen. Zu den Kritikern gehört Hagit Ofran von Peace Now, die die Besiedlung als »dramatische Entwicklung« beschreibt.

Dass die Regierung die Protestbewegung auf diese Weise zu beschwichtigen versucht, ist in zwei­facher Hinsicht interessant. Was die Siedler der Westbank mit den Campern des Rothschild Bou­levard gemeinsam haben, ist die gesicherte politische Aufmerksamkeit. Jene werden sie spätestens in einem Monat erlangen, diese ziehen sie zurzeit auf sich. Das Verhältnis der Protestierenden zur Frage eines palästinensischen Staats und zur Sicherheitspolitik ist noch unklar. Diese Punkte könnten entscheidend sein, falls der Protest im September noch erfolgreich sein will. Sie könnten auch zu einer Spaltung führen. Innerhalb der Protestleitung und in autonomen Gremien sprechen sich viele vehement gegen die Siedlungspolitik aus. Das arabisch-jüdische Zelt im Camp in der Lewinski-Straße, in einem ärmeren Viertel im Süden Tel Avivs, deutete bereits etwaige Spannungen an. Vor der Demonstration forderte der arabische Teil der Zeltgruppe, ganz auf Israelflaggen verzichten. Schließlich einigte sich die Gruppe darauf, nur eine einzige Israelflagge mitzuführen.
Politische Maßnahmen mit hohem Symbolwert erwägt auch Netanyahu. Angeblich will er den von der Hamas entführten Soldaten Gilad Shalit freibekommen und so sein Image aufpolieren. Dass »Bibi« seinen Ruf retten kann, ist zweifelhaft. Dass die Protestleitung weitgehende politische Veränderungen erwirken kann, ebenfalls. Doch auch wenn die Ökonomie- und Kapitalismuskritik vieler Potestierender verkürzt ist, zeigen die seit dem Beginn der Proteste entstandene Partizipations- und Redekultur, die nicht-hierarchische Organisationsstruktur und der persönliche Einsatz der Protestierenden sowie deren Eingriff in den öffentlichen Raum und andere Sphären des Alltags, dass Israel in Bewegung bleibt.