Das Ende des Gaddafi-Regimes

Endspiel in Tripolis

Libyen scheint das Gaddafi-Regime endlich loszuwerden. Das gefällt nicht allen. Die Regimetreuen verhielten sich jedoch äußerst widersprüchlich.

Es war eine Sternstunde des Journalismus. Während die Rebellen am Wochenende die libysche Hauptstadt Tripolis überrannten, hatte es sich der englischsprachige Nachrichtenkanal Russia Today zur Aufgabe gemacht, zu beweisen, wie unterschiedlich Realität konstruiert werden kann. Eine Reporterin erklärte in ihren Beiträgen aus Tripolis, dass das Krachen im Hintergrund ein Freudenfeuerwerk der Bewohner der Hauptstadt sei, die feierten, weil Muammar al-Gaddafis Soldaten gerade die Rebellen vertrieben hätten. Und ein »Experte« des Senders behauptete ebenfalls an Ort und Stelle, dass es sich beim Einmarsch der Rebellen nur um ein fehlgeschlagenes Propagandamanöver der Nato handele. Die Anhänger des »libyschen Obersts« – darunter die NPD, Verschwörungstheoretiker und viele Antiimperialisten – waren überzeugt davon, dass die libyschen Aufständischen auch mit Hilfe der Nato keine Chance gegen Gaddafi haben könnten oder sogar dürften, und verbreiteten diese fixe Idee auf ihren Web­sites. Noch am nächsten Tag, als sich der größte Teil der Hauptstadt längst unter Kontrolle der Rebellen befand, behauptete Russia Today stoisch, vor dem Hotel lauerten Scharfschützen der Nato, die Chaos verbreiten wollten, während die Aufständischen in die Hauptstadt zu locken ein genialer Schachzug der Armee Gaddafis gewesen sei, die ihre Gegner nun endlich stellen und vernichtend schlagen könne. Falls das der Plan gewesen sein sollte, ist er gescheitert.

Da halfen auch die Telefoneinspielungen des »Revolutionsführers« nicht mehr, der über das Staatsfernsehen noch am Sonntag verkündet hatte, die »Ratten«, wie er die im Verlauf des Vortages in Tripolis in Erscheinung getretenen Aufständischen bezeichnete, seien »eliminiert« und die »Feuerwerke lauter als der Krach der von den Flugzeugen abgeworfenen Bomben«. Vielleicht hatte der libysche Oberst an diesem Tag ja auch die Nachrichten von Russia Today gesehen. Nach seinen letzten telefonischen Appellen an das libysche Volk tauchte Gaddafi jedoch lieber ab. Viele Einwohner der Hauptstadt hatten sich zwar bewaffnet und waren auf die Straßen geströmt, ganz so, wie der »Revolutionsführer« das vorgeschlagen hatte, aber offensichtlich mit einem anderen Ziel: ihn endlich loszuwerden.
Es oblag einer Journalistin von Sky News, Alex Crawford, angetan mit Splitterweste und Stahlhelm, die nächtliche Durchfahrt des Rebellenkonvois zum »Green Square« in Tripolis, der in Zukunft »Platz der Märtyrer« heißen soll, als wichtiges mediales Ereignis zu dokumentieren. Es waren tödliche Bilder für das Gaddafi-Regime und dessen Anhänger, die Bewohner von Tripolis umringten die Jeeps der Aufständischen und brüllten wie von Sinnen »Freedom«, als sie die Journalistin sahen.
Allem Anschein nach war das Regime auf den Vormarsch der Rebellen, der sich binnen weniger Tage und schließlich Stunden zu einem regelrechten Sturmangriff entwickelte, nicht vorbereitet. Der Zusammenbruch kam wohl sehr plötzlich. Die Aufständischen konnten so den politisch eher unbedeutenden Gaddafi-Sohn Mohammed festnehmen und vermutlich auch seinen Bruder Saadi, den bei Interviews schon länger sehr elegisch wirkenden »ehemaligen Fußballprofi«.

Für Überraschung sorgte aber Saif al-Islam. Am Sonntag hieß es, er sei ebenfalls in Hand der Rebellen, aber Montagnacht zeigte er sich offensichtlich sehr aufgeregt mit einer bewaffneten Kolonne vor dem Hotel Rixos, wo das Regime immer noch die in Tripolis akkreditierten Journalisten festhielt. Auch wenn die Zahl der Bewacher, Übersetzer und Regimeoffiziellen den Journalisten zufolge dramatisch gesunken war, liegt das Hotel in der kleinen Zone rund um das zerbombte Residenzgelände Gaddafis, das sich nach dem Wochenende noch in der Hand des Regimes befand. Saif al-Islam ist, neben seinem schon vielfach totgesagten Bruder Khamis, dem Kommandeur einer wichtigen Eliteeinheit des Regimes, der politisch wichtigste familiäre Unterstützer seines Vaters. Er galt als dessen designierter Nachfolger, auf dem Wiener Opernball glänzte er schon im Frack, ihm war es auch zugefallen, in einer letzten Rochade gaddafiesker Diplomatie noch im August der New York Times als Islamist kostümiert ein Interview zu geben, in dem er dem Westen gedroht hatte, man werde nun mit den Islamisten zusammenarbeiten und aus Libyen ein Land wie Saudi-Arabien oder Iran machen. Nun erklärte ein strahlender Saif den Journalisten, dass das Regime kurz vor dem Sieg stehe. Schließlich habe es die Aufständischen in die Stadt gelockt, um sie zu stellen. Aber vielleicht hat Saif al-Islam ja auch nur zuviel Russia Today geschaut.
Der Sturm auf die Hauptstadt war von einigen bizarren Momenten begleitet, die entweder vom Fatalismus oder der Hysterie der Regimegetreuen zeugten. So konnte das Publikum von al-Jazeera Mohammed Gaddafis Verhaftung live verfolgen. Er telefonierte nämlich gerade mit dem Satellitensender, um wortreich zu erklären, wie sehr er sich nach Frieden sehne und wie schlimm er das gegenseitige Morden unter Muslimen fände. Er vergaß nicht zu erwähnen, dass er selbst ja nie eine offizielle Position in den Sicherheitskräften oder der Regierung innegehabt habe. Dann waren nur noch Maschinengewehrsalven zu hören und Mohammeds Bemerkung, die Aufständischen seien nun in seinem Haus. Vor dem Tuten nach Abbruch der Verbindung war noch eine Reihe von Salven zu hören. Die Aufständischen meldeten umgehend, der Sohn Gaddafis sei wie seine Familie unverletzt und man garantiere für sein Leben. Einen Tag später hieß es plötzlich, er sei mit Hilfe regimetreuer Soldaten aus dem Hausarrest geflohen.

Auch das Medienpersonal des Regimes sorgte für bemerkenswerte Momente. Der Regierungssprecher bot noch schnell einen Waffenstillstand an, während er von den Tausenden von professionellen Soldaten schwärmte, die Tripolis vor jeder Invasion schützen würden. Eine Nachrichtenmoderatorin bekräftigte mit einer Pistole in der Hand, sie und ihre Kollegen würden den staatlichen Fernsehsender als Märtyrer verteidigen. Sie sei, so ein Rebellensprecher auf Nachfrage von CNN, allerdings wohlbehalten in Obhut der Aufständischen gelandet, nachdem das Staatsfernsehen im Laufe des Montags eingenommen worden war.
Mit diesem scheinbar plötzlichen Vormarsch der Aufständischen und dem nun greifbaren Sieg über Gaddafi hatte das Regime nicht gerechnet. Die meisten westlichen Beobachter jedoch ebenso wenig. Noch vor kurzem war allenthalben von Stillstand und einer Pattsituation die Rede, Analysten meinten, etwa im britischen Guardian, Gaddafi sei so mächtig wie nie zuvor, und nannten Libyen als Beispiel dafür, dass die Nato keinen bewaffneten Konflikt gewinnen könne. Doch zeichnete sich mit dem steten Vormarsch der Rebellen aus den an der Grenze zu Tunesien gelegenen Bergen in Richtung Tripolis schon länger ab, dass Gefahr für Gaddafi nicht nur in Bengasi oder dem ebenfalls befreiten Misrata lauerte, sondern längst im Hinterland der Hauptstadt. Das Ende war absehbar nach der Einnahme Zawiyas Mitte August, einer lange umkämpften Stadt, mit deren Verlust der letzte Nachschubweg Gaddafis abgeschnitten war.
Mächtig über das Timing des definitiven Endes von Gaddafis Herrschaft geärgert haben dürfte sich der syrische Präsident Bashar al-Assad. Just als die ersten Rebellen durch Tripolis fuhren, hielt Assad mal wieder eine Reformrede, der man nun nicht einmal mehr im Westen zuhörte. Und die Familie Assad, das wird man spätestens am nächsten Protestfreitag aus Syrien zu hören bekommen, ist ein Jahr nach Gaddafi an die Macht gekommen. Die Ereignisse und Bilder aus Tripolis werden wirken.