Stefanie Kron, Deniz Yücel, Wolf-Dieter Vogel und Bernd Beier im Gespräch über die Anschläge 11. September und die internationale Linke

»Ein Teil der Linken hat komplett versagt«

Von Ivo Bozic

Was änderte sich nach dem 11. September 2001 für linke Bewegungen in Deutschland und weltweit? Ein Gespräch unter ehe­maligen und derzeitigen Kolleginnen und Kollegen der Jungle World über zehn Jahre linke Debatten, den globalen Jihadismus und Orte, an denen Geschichte geschrieben wird.

Als am 11. September 2001 die Twin Towers zusammenbrachen, was habt ihr damals gedacht, welche politische Bedeutung das haben würde?
Deniz Yücel: Ich hatte fünf Tage am Stück »Civilization« gespielt und die Chinesen hatten mich gerade mit Atomwaffen angegriffen. Als es passierte, rief mich meine Mitbewohnerin zum Fernseher, ich sah mir die Bilder aus New York an und dachte: Ach, was sind schon zwei Hochhäuser, wenn meine Städte gerade mit Atomwaffen angegriffen werden? Ich ging also zurück zum Spiel, machte die Chinesen mit Atomwaffen fertig und kam dann zwei Stunden später ins Wohnzimmer, wo der Fernseher noch lief. Erst dann realisierte ich, dass das die echte Welt war. An einen meiner ersten Gedanken kann ich mich sehr gut erinnern. Im Juli 2001 war ich in Genua bei den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel gewesen. Ich hatte zwar nicht auf den Beginn der Weltrevolution gehofft, aber in Genua war etwas Neues entstanden. Ich dachte sofort, dass das neue Kapitel, das dort aufgeschlagen wurde, mit den Anschlägen vom 11. September auch beendet sein würde. Die Agenda war jetzt mit ganz anderen Themen besetzt. Was die Bewegung betrifft, die in Genua entstanden war, hat sich mein Eindruck von damals bestätigt.
Stefanie Kron: Mir ging es ähnlich, nur habe ich nicht »Civilization«, sondern Doppelkopf gespielt. Im ersten Moment wirkten die Bilder irreal. Erst später realisierte ich, was passiert war. Ich habe mich damals sofort gefragt, was das für Israel bedeuten würde, und gedacht, dass es auch für die globalisierungskritische Bewegung schwierig werden könnte. Ich war auch in Genua gewesen. Schon damals fand ich das Bündnis, das sich dort zusammengefunden hatte, höchst prekär und auch das Verhältnis von der globalisierungskritischen Bewegung zur Jungle World, wo wir damals gearbeitet haben, war gespalten. Es gab aber immer noch Spielraum für Verhandlungen, Auseinandersetzungen und Diskussionen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass mit 9/11 linke Politik zu Ende sei, aber den, dass es nun immer schwieriger werden würde, globalisierungskritische Positionen erscheinen zu lassen.
Wolf-Dieter Vogel: Ich war unterwegs in Stuttgart und bekam einen Anruf, in New York würden die Twin Towers brennen. Ich war in der Fußgängerzone und blieb vor dem ersten Fernsehladen stehen, wo schon viele Leute standen. Mein erster Gedanke, ohne zu wissen, wer dahinter steckt, war: Das gibt Krieg. Dieser erste Eindruck hat sich mindestens zweimal bestätigt, zuerst in Afghanistan und zwei Jahre später im Irak. Beide Kriege resultierten aus 9/11, zumindest in ihrer Begründung. Kurz darauf wanderte ich für mehr als sechs Jahre aus Deutschland aus und konnte die Konsequenzen von 9/11 aus Lateinamerika beobachten. Für mich war es ziemlich erschreckend zu sehen, wie sich die Anschläge auf die Diskurse der globalisierungskritischen Bewegung ausgewirkt haben, die in Lateinamerika immerhin den undogmatischen Teil der Linken stellte.
Bernd Beier: Ich war am Abend des 11. September 2001 im Café Advena in Berlin-Kreuzberg. Ein Freund kam auf mich zu, er hatte schon ein wenig gebechert und johlte: »Geile Linkskurve, oder?« Kurz danach traf ich ein weiteren Freund, der ­stockaggressiv etwas von »Islamfaschisten« und »Krieg« murmelte. Das waren zwei etwas unterschiedliche, aber symptomatische Reaktionen in dem politischen Spektrum, mit dem ich damals zu tun hatte. Aber was 9/11 für die globalisierungskritische Bewegung heißt, war mir zunächst völlig egal.
Dass die globalisierungskritische Bewegung nach 9/11 ihre Bedeutung verloren hat, ist offensichtlich. Nach den Anschlägen verschärfte sich der Antiamerikanismus in der Linken, darin gab es immer mehr Schnittmengen mit dem Jihadismus. War 9/11 die Geburtsstunde eines neuen globalen Antiimperialismus?
Wolf-Dieter Vogel: Ich bezweifle, dass diese Bewegung auf globaler Ebene damals ihre Bedeutung verloren hat. Ich war auf Weltsozialforen in Porto Alegre und Venezuela, und diese Veranstaltungen hatten zumindest für die Linken des sogenannten globalen Südens eine große Bedeutung. Der dort präsente Antiimperialismus, der sich teilweise sogar positiv auf die Anschläge bezog, war von seiner Denkstruktur her nicht neu. Es handelte sich lediglich um die zugespitzte Form eines Denkmusters, eines manichäischen Weltbildes, das den Globus nur in zwei Kategorien aufzuteilen weiß: in die ausbeutenden »Erste« und die ausgebeutete »Dritte« Welt. Alle anderen Widersprüche verschwinden. Dieses im kolonialistischen Befreiungskampf verhaftete Denken eines Teils der Linken hat sich einfach nur fortgesetzt. Der Jihad wurde als Kampf sogenannter Völker, die sich gegen den Imperialismus wehren, interpretiert. Aber auch vor 9/11 hat man den politischen Islam als Partner im Kampf gegen das »Imperium« wahrgenommen, als die vermeintlich »eigene Kultur« der Völker, die sich gegen das Fremde, gegen Fremdbestimmung auflehnt.
Stefanie Kron: Ich denke auch nicht, dass die globalisierungskritische Bewegung mit 9/11 am Ende war. Es gab eine Polarisierung, es gab Spaltungen, einige Gruppen haben sich institutionalisiert. Aber wie ich schon sagte, das Bündnis war prekär und die verschiedenen Meinungen darüber, was 9/11 bedeute, prallten aufeinander, wie man etwa beim Buko (Bundeskoordination Internationalismus) im selben Jahr beobachten konnte. Da waren die Antinationalen bzw. Antideutsche, die Antiimperialisten und das ganze Spektrum aller minoritären Politiken zwischendrin, die Frauen- und die pro-migrantischen Bewegung sowie das noch nicht institutionalisierte Attac-Spektrum. Die Jungle World hat damals auf jeden Fall zu der Polarisierung in der Linken beigetragen. 9/11 war auch nicht die Geburtsstunde eines neuen Antiimperialismus. 9/11 führte dazu, dass ein Teil der Linken sich von staatskritischen und antikapitalistischen Positionen im Namen eines sehr fragwürdigen Verständnisses von Fortschritt und Moderne verabschiedete. Die Ansicht, dass sich die Linke nach 9/11 in eine neue pro-islamistische, pro-jihadistische Bewegung verwandelte, kann ich nicht teilen.
Bernd Beier: Aber dieses Massaker ließ die schlechten Seiten in der globalisierungskritischen Bewegung immer stärker hervortreten. Zu diesen schlechten Seiten zähle ich dieses antiimperialistische Erbe. Zur Erinnerung: Es waren die Zeiten, in denen Horst Mahler sagte, er begrüße es aufs Schärfste, wenn das zionistische anglo-amerikanische Imperium angegriffen wird. Der deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen beschrieb die Anschläge in Manhattan als das »größte Kunstwerk«, das es jemals gegeben habe, während von der Süddeutschen Zeitung bis zum Gegenstandpunkt vom »Feindbild Islam« gefaselt wurde, als wäre das das Problem. Ein paar sich offensichtlich an dem Slogan der spanischen Faschisten »Viva la muerte« orientierende Jihadisten hatten gerade einen Massenmord begangen, und das nahmen viele zum Anlass, über Frieden und Religion zu diskutieren.
Stefanie Kron: Es geht jetzt aber um die Reaktionen in der Linken. Horst Mahler war doch damals kein Linker mehr, und die Süddeutsche ist auch keine linke Zeitung.
Bernd, meinst du damit, dass das Rechts-Links-Schema an der Stelle nicht funktioniert hat?
Bernd Beier: In der Analyse dessen, was am 11. September passiert ist, hat ein großer Teil der Linken komplett versagt, und dieser Teil ist in der Folge nach rechts gewandert. Das hat sich auch in der globalisierungskritischen Bewegung manifestiert. Anders kann ich mir nicht erklären, warum nach 9/11, einem Ereignis, das de facto ein kriegerischer Angriff auf einen Staat war, eine Friedensbewegung gegen die US-amerikanische Politik entstand. Dabei kann es sich kein souveräner Staat leisten, ungestraft 3 000 seiner Staatsbürger umbringen zu lassen, schon gar nicht eine Weltmacht wie die USA. Ein Großteil der globalisierungskritischen Bewegung argumentierte zunächst, es sei doch gar nicht bewiesen, dass al-Qaida hinter den Anschlägen stecke. Vielleicht, so meinten viele, waren es die Amerikaner selbst, oder auch der Mossad. Man fing an, gemütlich herumzuhalluzinieren. Das war die Stimmung damals.
Stefanie Kron: Wer sprach in dieser Weise für die globalisierungskritische Bewegung?
Bernd Beier: Da braucht man sich nur die damaligen Reaktionen von Noam Chomsky, Gayatri Spivak oder Arundhati Roy anschauen.
Wolf-Dieter Vogel: Tatsächlich hat die Linke, wenn überhaupt, nur gegen die folgenden Kriege mobilisiert. Auch ich bezweifle stark, dass die Interventionen in Afghanistan und im Irak den Kampf gegen den islamistischen Terror vorangebracht haben. Dennoch ist es auffällig, dass für viele die Auseinandersetzung mit einer Organisation, die 3 000 Leute umgebracht hatte, keine Rolle spielte. Niemand ging damals auf die Straße, um gegen diesen Terror zu demonstrieren. Gerade auf den Weltsozialforen wurde praktisch nur über den »War on Terror«, über Guantánamo etc. diskutiert, eine Kritik oder gar Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terror fand nicht statt. Keine Frage: Die Kritik an Folter, Geheimgefängnissen und CIA-Flügen ist aus menschenrechtlicher Sicht völlig richtig und notwendig. Aber dass kaum über die Gefahr diskutiert wurde, die eine faschistoide, antisemitische und patriarchale Organisation wie al-Qaida darstellt, bestätigt doch, wie schlicht die traditionelle antiimperialistische Linke tickt. Mit Emanzipation hat das nichts zu tun.
Deniz Yücel: Die globalisierungskritische Bewegung oder die Linke hätte vielleicht weniger Unsinn erzählen können, aber in der Situation war es völlig egal, was gesagt wurde. Um noch auf Genua zurückzukommen: Die Demonstrationen gegen den G8-Gipfel waren ein Schauplatz von Geschichte, so haben das viele Leute empfunden. Deswegen bin ich auch da hingefahren, und habe, wie viele andere auch, gedacht: Da wird Geschichte geschrieben, und vielleicht gibt es noch ein bisschen Action. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus sah es so aus, als seien die Agenda, die Themen und die Fragen der Linken von der Geschichte überholt worden. In Genua hatte eine linke Bewegung in einer neuen Form die Bühne der Geschichte betreten. Das hat sich mit 9/11 erledigt, weil der Schauplatz der Geschichte nunmehr in New York und Afghanistan war.
Ihr habt die Verwerfungen in der Linken angesprochen. Hat es die tatsächlich schon nach 9/11 gegeben, oder kam nicht der Bruch zwischen offenem Antiamerikanismus und der antideutschen Kritik daran erst zwei Jahre später, anlässlich des Irak-Kriegs?
Stefanie Kron: Die Anschläge in New York haben vielleicht nicht zum absoluten Bruch geführt, sie haben aber die Weichen dafür gestellt. Die Ignoranz gegenüber dem Jihadismus und dem politischen Islam auf den Weltsozialforen war ein Fakt. Andererseits finde ich, dass 9/11 für einen anderen Teil der Linken zum Vorwand geworden ist, sich von emanzipatorischen Bewegungen und von einer antikapitalistischen staatskritischen Position zu verabschieden. Ich meine das früher antinationale, später immer mehr antideutsche Spektrum. In diesem Umfeld hat man, implizit oder explizit, die USA zu einer Projektionsfläche gemacht, die Frieden und Freiheit in die Welt tragen könnte, wenn auch durch eine militärische Intervention. Aber es ist doch nicht die Aufgabe der Linken, solche Positionen zu vertreten.
Wolf-Dieter Vogel: Ich gebe dir recht: Damals wurden teilweise unsinnige Glorifizierungen über vermeintliche Errungenschaften der kapitalistischen Welt formuliert. Die Provokationen zeigten aber durchaus ihre Wirkung. Denken wir nur an das legendäre »Fanta statt Fatwa«. Das war die Überschrift eines Artikels, der im Rahmen einer Disko-Reihe über die Folgen der Anschläge in den USA im Oktober 2001 erschien. Der Titel löste unheimlich viel Aufregung aus, aber daraus entwickelte sich auch eine notwendige Debatte. Die Jungle World hat damit provoziert, gespalten und auch Leserinnen und Leser verloren. Doch die Idee, die dahinter stand, war richtig: Es galt, die Ideen der Aufklärung gegen eine völlig krude, vorkapitalistisch geprägte Philosophie zu verteidigen.
Stefanie Kron: Aber gleichzeitig wurde dadurch ein eurozentrisches Verständnis von Aufklärung, Moderne und Fortschritt hochgehalten, das negiert, worauf die metropolitane Moderne basiert. Nämlich auch auf den dunklen Seiten der Geschichte wie Kolonialismus, Sklaverei, Imperialismus und Ausbeutung. Fortschritt und Moderne wurden ja nicht aus dem Nichts heraus erfunden, nur weil die europäischen Staaten und die USA so tolle Länder sind.
Bernd Beier: Aber was das mit 9/11 zu tun?
Stefanie Kron: Es hat insofern damit zu tun, als ein Teil der Linken, den ich kritisiere, damals sagte: Nur wenn man sich auf die Seite der USA stellt, kann man Aufklärung und Fortschritt mitverteidigen. Nur damit steht man auf der richtigen Seite. Das ist ein Denkfehler.
War diese positive Bezugnahme auf die USA vielleicht auch eine notwendige Reaktion auf die heftige Welle des Antiamerikanismus, die über den Globus schwappte und spätestens seit 2003 zum Mainstream wurde?
Bernd Beier: Wenn man analysiert, warum die USA nach 9/11 in Afghanistan Krieg führen, dann stellt man sich doch nicht automatisch an die Seite der USA. Auch wenn man kein Freund des bürgerlichen Staats ist, muss man doch erkennen, dass es härtere, barbarischere Formen der Herrschaft gibt als die bürgerliche. Aber genau da war die bedauerliche Leerstelle in der linken Diskussion. Es wurde überhaupt nicht reflektiert, dass ein erschreckendes Massaker mit Tausenden Toten innerhalb von wenigen Stunden die Geschichte einfach veränderte. Stattdessen wurde zu business as usual zurückgegangen, nämlich zu der Haltung: Wir sind für Frieden und gegen den Krieg. Und das wurde dann auch noch als Staatskritik verkauft.
Wie verlief die Debatte in der Jungle World?
Deniz Yücel: »Fanta statt Fatwa« bleibt bis heute die meistzitierte Jungle World-Überschrift aller Zeiten. An dieser Debatten-Reihe beteiligten sich damals viele Autorinnen und Autoren, die für Jungle World und Konkret schrieben. Es war eine höchst kontroverse Debatte, die aber gemeinsam mit Konkret geführt wurde. Dieses Spektrum wurde dann erst anlässlich des Irak-Kriegs komplett durcheinandergewirbelt. Das war der Wendepunkt.
Stefanie Kron: Aber mit 9/11 wurden die Weichen gestellt für einen Tabubruch in linken Diskursen. Denn nach den Anschlägen in Manhattan stellte man sich die Frage, ob unter bestimmten Umständen militärische Interventionen legitim seien. Auch im Dossier »Bless or Blame«, das die Jungle World direkt nach 9/11 veröffentlichte, gab es Beiträge, die in diese Richtung weisen. Diese Diskussion hat es in der Linken vorher nicht gegeben.
Bernd Beier: Aber in der Jungle World hatte man vor 9/11 schon die Auseinandersetzung um die sogenannte al-Aqsa-Intifada geführt. In diesem Zusammenhang wurde erstmals über die Jihadisten, die möglichst viele Zivilisten in die Luft sprengen, und die entsprechenden staatlichen Reaktionen darauf diskutiert. Und da gab es schon den ersten Eklat. Ein Teil der Linken hat schon damals gesagt: »Seid ihr verrückt? Ihr kündigt die Solidarität mit der palästinensischen Intifada auf?« Das war die Argumentation, und dann kam erst 9/11.
Wolf-Dieter Vogel: 9/11 hat einmal mehr die Frage internationaler Kriegseinsätze provoziert, aber genau genommen war dies nur ein weiterer Schritt nach den Debatten um den ersten Irak-Krieg 1991 und den Jugoslawien-Krieg. Die Frage, ob die sogenannte internationale Staatengemeinschaft mit Zustimmung des UN-Sicherheitsrates das Recht hat, Staaten anzugreifen, um Menschenrechte zu verteidigen oder Genozide zu verhindern, wurde bereits in den neunziger Jahren nach dem Massaker von Srebrenica und dem Genozid in Ruanda diskutiert. Nach 9/11 eskalierte diese Debatte.
Deniz Yücel: Die Debatte eskalierte doch eher anlässlich des Irak-Kriegs, auch wenn Saddam Hussein mit dem Islamismus und dem globalen Jihad nicht viel zu tun hatte. Was den Irak anbetrifft, haben wir damals nie explizit für den Krieg geschrieben. Unsere Themen waren der Antiamerikanismus und die Position Kontinentaleuropas, das sich gegen die USA in Szene setzt. Wir haben die antiamerikanische Stimmung und die Diktatur Saddam Husseins kritisiert. Die entscheidende Frage, die wir uns damals nicht gestellt haben, war: Was hat der Irak-Krieg mit 9/11 und der Bekämpfung des globalen Jihadismus zu tun, kann das, was da propagiert wird, tatsächlich funktionieren?
Bernd Beier: Der Clou beim Irak-Krieg war nicht, ob Saddam Hussein was mit dem globalen Jihad zu tun hatte oder nicht, sondern ein anderer: dass Bundeskanzler Schröder mit seiner Ablehnung des Irak-Kriegs auf dem »deutschen Weg«, dem gegenhegemonialen Projekt mit Frankreich und Saddam Hussein gegen die USA, lustwandelte und die Friedensbewegung in Deutschland ihm kritiklos hinterherlief. Das war ein weiterer Schritt in der Renationalisierung der Deutschen. Und die Einstellung der Deutschen gegenüber den USA hat sich eben nicht nur kurzfristig geändert – wegen Bush und dem Irakkrieg, sondern langfristig, wie eine Umfrage des Allensbach-Instituts für die FAZ vor einigen Wochen festgestellt hat. Dort wird außerdem eine zunehmend isolationistische Haltung der Deutschen konstatiert und eine gefährliche Entwicklung befürchtet: dass der Europa-Gedanke durch die deutsche Renationalisierung von innen ausgehöhlt werde. Historisch gesehen wäre das ein komplettes Desaster. Schon werden Kohl, Genscher, Fischer, die Protagonisten einer Einbindung Deutschlands in europäische Strukturen, als Kronzeugen gegen Merkels aggressive und nationalistische Europa-Politik in den Medien durchgereicht. Aber all das sind die langfristigen Folgen des deutschen Friedensspektakels anlässlich des Irak-Kriegs.
Inwiefern ist die sogenannte Islamdebatte eine Spätfolge von 9/11? Immerhin wurde nach den Anschlägen vielen erst bewusst, dass es ein politisches Projekt namens Islamismus gibt.
Wolf-Dieter Vogel: Es gab schon vor 9/11 islamistische Anschläge. Viele davon haben nicht in den europäischen oder US-amerikanischen Metropolen stattgefunden. Nach 9/11 wurde das viel mehr wahrgenommen. Hinzu kam, dass die Medien die »Bedrohung des Islam« entdeckten, was dazu beitrug, dass heute unsinnige Neukölln-Debatten geführt werden.
Stefanie Kron: Mit der Zeit ist aus der Kritik am politischen Islam eine Kritik am Islam als Religion geworden, und diese hat sich zunehmend mit rassistischen Elementen aufgeladen. Die Kritik am politischen Islam wurde von der globalisierungskritischen Bewegung nie zum Thema gemacht, aber die sogenannte antideutsche Linke hat diese Kritik teilweise rassistisch formuliert.
Deniz Yücel: Die letzte große Diskussion, in der es um Ausländer ging, gab es in Deutschland 1999. Da ging es um die geplante Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft und um die Kampagne der CDU dagegen. Damals ging es um »Ausländer«. Das hat sich danach verschoben, der Blick darauf, was in der Einwanderungsgesellschaft passiert, hat sich geändert. So verquer die Islamdebatte in Deutschland auch geführt wurde, von al-Qaida über Ehrenmorde bis hin zur Rütli-Schule – ich fand es nicht so falsch, dass die Frage gestellt wird: »Was wird in diesen Moscheen eigentlich gepredigt?« Vorher hat man viel mehr über Muslime geredet, danach wurden sie immer mehr Teil des Gesprächs. Ich denke an die Vertreter von islamischen Verbänden oder Intellektuelle wie Necla Kelek. Das hat es vorher nicht gegeben. Was diese Diskussion um den Islam gebracht hat, war die Erkenntnis, dass Einwanderer Teil dieser Gesellschaft und als solcher auch kritisierbar sind.
Stefanie Kron: Ich denke nicht, dass nach 9/11 die türkischen oder arabischen Mitbürger mehr als Subjekte wahrgenommen wurden. Ganz im Gegenteil, es gab krude Vermischungen von Islamismus, Ehrenmorden, Kopftüchern, Zwangsheiraten und so weiter. Bei den Streiks von Gastarbeitern in den siebziger Jahren hingegen wurden die Menschen mehr zu Subjekten, jenseits aller Kulturalisierungen. Wenn es so ist, dass diese Leute als Subjekte wahrgenommen werden, dann ist das kein Ergebnis von 9/11, sondern das Ergebnis einer langen Debatte, die seit Jahrzehnten geführt wird. 9/11 hat eher zu Kulturalisierungen und Exotisierungen geführt.
Wie hat 9/11 das linke Koordinatensystem verändert?
Wolf-Dieter Vogel: Bereits nach dem Fall der Mauer hat sich die Linke stärker diversifiziert. Viele Gewissheiten wurden in Frage gestellt. Die Jungle World ist ein Beispiel dafür. Man hat hier Debatten geführt, die zehn Jahre vorher nicht denkbar waren. 9/11 war so gesehen eine weiterer Meilenstein. Manche haben vielleicht erst damals gemerkt, dass die Welt sich neu strukturiert, dass wenig bleibt, wie es war. Andere halten noch heute an ihrer simplifizierten antiimperialistischen Orientierung fest. Der Einsatz in Libyen hat allerdings gezeigt, dass viele Leute vorsichtiger, reflektierter geworden sind als vor zehn oder 20 Jahren. 9/11 hat den Prozess der Diversifizierung nach dem Mauerfall noch vertieft. Ich hoffe, dass sich daraus Konzepte für eine emanzipatorische gesellschaftliche Veränderung jenseits alter Schemata entwickeln.
Deniz Yücel: Das Verhältnis der Linken zu den arabischen Aufständen ist ein weiterer Schritt in diesem Prozess. Ich erinnere mich noch an die ersten freien Wahlen in der arabischen Welt. Das war im Jahr 2006 in den palästinensischen Gebieten. Das Ergebnis hat uns in der Jungle World nicht gepasst – den USA übrigens auch nicht, und danach war auch Schluss mit freien Wahlen in der Region. Die Gefahr besteht heute auch, dass die arabischen Aufstände in eine islamische Richtung gehen. Niemand weiß, was in der arabischen Welt künftig passieren wird. Fest steht jedenfalls, dass Orte wie der Tahrir-Platz ein neuer Schauplatz der Geschichte sind.
Bernd Beier: Eine Konsequenz von 9/11 ist jedenfalls, dass sich ein genauerer Blick entwickelt hat, der es ermöglicht, zwischen regressiven und emanzipatorischen Bewegungen zu unterschei­den. Wie weit das reicht, ist schwer einzuschätzen. Auch in den arabischen Revolten taucht in Gestalt der Islamisten ein regressives Moment auf. Man wird sehen, inwieweit die Linke in der Lage sein wird, dies zu analysieren und praktisch zu kritisieren. Aber die Gefahr, dass Linke und Islamisten im gemeinsamen Hass auf Israel wieder zusammenfinden, besteht auf jeden Fall.
Stefanie Kron: Ich würde auch die sozialen Proteste gegen Prekarisierung, Arbeitslosigkeit und die steigenden Lebenshaltungskosten in Spanien, Großbritannien oder Israel als neue Schauplätze für eine linke Politik bezeichnen. Hier bildet sich eine neue Protestkultur heraus, und da sehe ich kaum eine Verbindung zu den Debatten um 9/11.