Die Wahl in Berlin

Die Berlinversteher

Mit der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus endete das Superwahljahr 2011. Unsere Autoren erklären, was in den kommenden fünf Jahren in Berlin passieren wird.

Prost Neujahr
Erst die gute oder erst die schlechte Nachricht? Fangen wir mit letzterer an: Im Falle einer Regierungsbeteiligung, so erklärten die Berliner Grünen, wenn auch gut versteckt, auf ihrer wuseligen Wahlwebsite, werde man aus den Nebenstraßen am unteren Görlitzer Park total tolle verkehrsberuhigte Spiel- und Flanierzonen machen. Prima Idee, schließlich ist ja allgemein bekannt, dass Blumenkübel und der ganze dazugehörige idyllische Scheißdreck wie zwischen Pollern platzierte Minigärtchen praktisch das einzige funktionierende Bollwerk gegen die Gentrifizierung sind. Not. Mit anderen Worten: Rund ums vor einigen Jahren vom grünen Bezirksbürgermeister abgesegnete Carloft, also dem Ding, wo die Loftbesitzer ihre Autos per Lift auf die Etage mitnehmen können, wird alles erst einmal total hübsch gemacht, und dann können sie kommen, die reichen Norweger auf der Suche nach einer schicken Wochenendwohnung und die Süddeutschen, denen die Gegend bislang zu schmuddelig war. Aber es gibt ja auch noch eine gute Nachricht: Wowi bleibt im Amt, und das heißt: Fünf weitere Neujahrsansprachen vom Regierenden Bürgermeister. Neujahrsansprachen von Wowereit sind überhaupt das Beste, was es auf diesem Sektor im Fernsehen zu gucken gibt – falls man nicht zufällig auf Hektik, Alarmismus und unverhüllte Drohungen steht.
Schon in den ersten Sekunden einer solchen Rede wird klar, dass wir Berliner Wowi wieder einmal enttäuscht haben. So richtig dolle haben wir nämlich auch im bald abgelaufenen Jahr nicht daran gearbeitet, dass alles viel besser wird, und im Gegenzug ganz viel gemeckert, was der arme Mann nun gar nicht so richtig leiden kann. Aber weil er uns ja nun schon lange kennt, nimmt er uns das nicht weiter krumm, sondern versucht, wie immer, eine schöne, beruhigende Ansprache zu halten, damit wir uns dann anschließend total relaxt betrinken gehen können. Das ist sehr rücksichtsvoll von ihm, zumal wir schon ganz andere Regierende hatten, die es darauf anlegten, uns die Partystimmung mit vollkommen abstrusen Forderungen zu vermiesen wie: Nun müssten wir uns alle zusammenreißen und arbeiten gehen und Opfer bringen und so weiter und so fort.
Nicht mit Wowi: Der erklärt traditionell, dass das nun alles nicht so richtig optimal gelaufen sei und überhaupt, es habe durchaus auch schon bessere Jahre gegeben, aber naja, im Grunde hätte es viel schlimmer kommen können, mal gucken, dann vielleicht halt nächstes Jahr. Bleibt nur zu hoffen, dass Wowi nie um Silvester herum krank wird – eine Neujahrsansprache von jemandem von der Blumenkübelaufsteller-Partei ist das letzte, was die Stadt brauchen kann.
elke wittich
Nachbarschaftshilfe
Die Standardpointe eines jeden humoristischen Textes, in dem irgendeine Form moderner Technologie oberhalb eines per Kabel mit der Wand verketteten Festnetztelefons oder irgendwas mit Internet thematisiert wird, lautet seit etwa 15 Jahren: »Fragen Sie doch einfach den zehnjährigen Jungen von nebenan, wie das funktioniert.« Aber jetzt ist der Bengel halt 25 und schließt den ganzen selbstironisch mit ihrem Unwissen kokettierenden Modernitätsverweigerern nicht nur den Router an und richtet ihnen den Desktop altersgerecht ein, sondern verkabelt auch die Politik neu. Damit die älteren Herrschaften sich in Ruhe über die wichtigen Dinge austauschen können, etwa über die Unvermeidbarkeit des Mauerbaus, die vielen Touristen, die ja oft auch nach 22 Uhr noch lachend und im schlimmsten Fall gar Rauschmittel konsumierend durch die Berliner Straßen ziehen, die historischen Leistungen Fidel Castros, das Recht auf Jobs, die ebenso gut jede Maschine bewältigen könnte, den Ausbau von Förderungsmaßnahmen zur Wiedereingliederung in einen Arbeitsmarkt, der nicht den geringsten Bedarf an den Wiedereinzugliedernden hat, oder die Luftqualität des rauchenden Wirtes in seiner Raucherkneipe. Leider stört dabei immer mal wieder neumodischer Trend-Quatsch wie irgend so ein bedingungsloses Grundeinkommen, umlagefinanzierter öffentlicher Nahverkehr oder Bürger, die einfach selbst entscheiden wollen, was sie tun. Und nun auch noch diese Piraten!
Aber das müssen Sie jetzt wirklich nicht auch noch verstehen. Fragen Sie doch einfach den zehnjährigen Jungen von nebenan, wie das funktioniert.
heiko werning
Tierisch Weiterwurschteln
Wie vor jeder Wahl war ich in Berlins Stofftiersoap »Humana leben«. Denn vor dem Tag der Entscheidung werden hier schon mal die möglichen Konstellationen durchgespielt. Chef-Stofftier Ralf Schwein lag während der Doppelfolge 76/77 besoffen auf der Couch, während im Kuschelfernsehen die Politiker talkten: ein grüner Maiskolben, ein SPD-Riesen-Bunny, eine NPD-Sexwitzfigur mit Viruslampe inside und als CDU-Chef ein Mini-Schwein. Nun gab’s zwar viel Höhö und Hoho, aber wider Erwarten keine Wahlprognose, wenn nicht das Fehlen von Piratenpartei, »Linke« und FDP schon dergleichen war.
Am nächsten Tag im Neuköllner Wahllokal fühlte ich mich schweinemäßig alleingelassen – hatte aber den Eindruck, dass hier nicht wie sonst 90 Prozent Sozialdemokraten am Start waren, sondern mindestens 30 Prozent Grüne und ebenso viele Piraten – jedenfalls ließ die Anzahl der Helm tragenden Radfahrer auf solche Verhältnisse schließen. Dafür fand ich auf dem Boden einen Tampon und später beim Spazieren eine Tüte Luftballons.
Da möchte ich der neuen Stadtregierung natürlich alles Gute wünschen, wenn’s schon so anfängt. Für die nächsten fünf Jahre ist tierisches Weitergewurschtel zu erwarten.
jürgen kiontke
Auf den Hund gekommen
Einiges hat sich verändert nach dieser Wahl. So kämpft die FDP mit ihrer »Demut«, statt sich stolz zu ihrem Erfolg zu bekennen. Schließlich hat sie gleich mehrere Herausforderer geschlagen. Nicht nur die Tierschutzpartei, auch Pro Deutschland und Die Freiheit hatten keine Chance gegen die Partei der jungen, aufstrebenden Männer mit den attraktiven Kurzhaarschnitten. Dass nicht nur die Piratenpartei, sondern auch die NPD an ihr vorbeizog, sollte die FDP nicht verunsichern. Völlig unverständlich ist in diesem Zusammenhang der lautstarke Jubel von Herausforderer Martin Sonneborn und seiner »Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Intitiative«. Schließlich hat die nicht einmal halb so viele Stimmen erhalten wie die FDP. Klar ist eines: Die FDP wird sich ihrer Stärke, nämlich ihres ausgeprägten Selbstbewusstseins, schnell wieder bewusst werden. Zur Elitenförderung bedarf es schließlich keiner Partei, die dieses vulgäre Wort im Namen trägt.
Klar war auch anderes schon vor der Wahl, wie der neue Bürgermeister heißen würde beispielsweise. Tatsächlich macht es kaum einen Unterschied, ob sich eine Landesmutter »kümmern« oder ob ein geübter »Berlinversteher« weiter Berlin verstehen darf. Eine zentrale Aufgabe, die Wowereit jetzt angehen muss – mit welchem Koalitionspartner auch immer – ist der Kampf gegen den Hundekot. Um diesen geht es in den Wahl­­programmen fast aller Berliner Parteien. Kotbekämpfung stellt eine relativ einfache Möglichkeit dar, Wahlversprechen einzulösen und Tatkraft zu signalisieren. Zugleich ist Sauberkeit ein stichhaltiges Argument für die sogenannte City-Tax. Und so, auch das keine unwichtige Frage, kann die Arbeitslosigkeit sinnvoll bekämpft werden. Irgendwer muss die Haufen schließlich einsammeln.
claire horst
Wenigstens neu
Die Berliner Landeswahlleiterin gibt die Ergebnisse der so herablassend »sonstige Parteien« genannten kleinen Parteien im Jahr 2011 mit 17,2 Prozent an. Wie wir wissen, entfallen davon beinahe neun Prozent auf die Piratenpartei. Doch selbst dann bleibt noch ein Rest von über acht Prozent, der auf die weiteren kleinen Parteien entfällt – so etwa über zwei Prozent auf die NPD, die damit in Berlin mehr Stimmen hat als die FDP. Die islamfeindlichen Parteien Pro Deutschland und Die Freiheit konnten immerhin jeweils mehr als ein Prozent der Stimmen gewinnen, was heißt, dass sie nun von der staatlichen Parteienfinanzierung profitieren. Anders als die NPD sind sie aber nicht in den Bezirksverordnetenversammlungen vertreten, die Nazis werden hingegen in drei Bezirksparlamenten sitzen. Die Tierschutzpartei, die mit aggressiven Wahlplakaten geworben hatte, die Tierelend ausstellten, kam sogar auf anderthalb Prozent. »Die Partei« konnte immerhin 0,9 Prozent der Stimmen einheimsen. Die DKP, die erstmals antrat, schaffte nur 0,2 Prozent. Das alles heißt aber, dass, anders als früher – und unabhängig vom Wahlerfolg der Piratenpartei – die sogenannten Sonstigen inzwischen punkten können, selbst dann, wenn den Wählerinnen und Wählern klar ist, dass diese Parteien keine Chance haben, unmittelbar politisch zu wirken. Das ist neu, normalerweise setzt die Masse auf Gewinner. Doch schon bei den anderen Landtagswahlen dieses Jahres zeigte sich, dass die Kleinparteien deutlich zulegen können. Wird es weitere Kleinparteien geben, die wie aus dem Nichts in die Parlamente einziehen? Das Wahlergebnis zeigt, dass die bisherigen fünf Parteien, die im Parlamentarismus fest verankert sind, neue Konkurrenz fürchten müssen. Auch wenn diese vielleicht noch weniger zu bieten hat. Sie erscheint wenigstens neu.
jörg sundermeier
Berlin ist nicht Freiburg
Dem Wahlabend hatte ich gelassen entgegen gesehen, seit klar war, dass es zum worst case scenario – Renate Künast als regierender Bürgermeisterin – nicht kommen würde. Jeder weiß, dass Städte mit grünen Bürgermeistern der absolute Horror sind. Vollbeschäftigung, rauchfreie Innenstädte und Mieten wie in Tokio – wer es in Boris Palmers Tübingen zwischen den omnipräsenten Blumenkübeln nicht mehr aushält, ist längst in Berlin oder sitzt auf gepackten Koffern. Aber hätte irgendwer mit einem solch psychedelischen Wahlergebnis gerechnet? Was ein Trip!
Der Überraschungserfolg der Piraten hat der verdienten Bauchlandung, die Künasts Pläne, Berlin zu freiburgisieren, erlitten haben, noch so richtig eins drauf gesetzt. Aber so was von. Keine grüne Bürgermeisterin. Bestenfalls eine jämmerlich knappe Mehrheit unter Wowereits Fuchtel. Und zu guter Letzt noch die Stimmen von einem Haufen Politamateure geklaut bekommen. Gut so. Wenn das kein Grund zum Feiern war.
Das kommt davon, wenn man bei der bislang so duldsamen Mehrheit der armen, arbeitscheuen Hedonisten tiefsitzende Ängste schürt, während zugleich der bezahlbare Wohnraum knapp und das Ausgehen teuer wird. Wenn der Trend sich in den nächsten fünf Jahren nicht umkehrt, kann man mit einem ganz sicher rechnen: Mindestens 20 Prozent für die Piraten und das Abgeordnetenhaus sieht in zehn Jahren aus wie die Köpi. Der Unterhaltungsfaktor ist auf alle Fälle garantiert.
carl melchers