Der deutsche »Sonderweg« in der Euro-Krise

Eine Burg namens Deutschland

Euro-Skeptiker in FDP und Union nähren international die Zweifel am deutschen Willen, die Euro-Zone zu retten. Indessen nimmt die Kritik am Sonderweg Deutschlands zu, das bisher vom Euro am meisten profitierte und zunehmend isolationistisch agiert.

Ein größeres Debakel war kaum vorstellbar. Am Ende lag die FDP bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus nur knapp vor der Tierschutzpartei. Bundeswirtschaftsminister und FDP-Vorsitzender Philipp Rösler sprach denn auch von »der vielleicht schwierigsten Situation für die FDP seit ihrem Bestehen«. Auf Bundesebene sieht es für die Liberalen nicht viel besser aus. Umfragen zufolge kommen sie derzeit auf etwa drei Prozent.
Dabei hatte Rösler zuletzt versucht, mit einem populistischen Anti-Europa-Kurs die Wahlpleite noch abzuwenden. »Um den Euro zu stabilisieren, darf es auch kurzfristig keine Denkverbote mehr geben«, dekretierte er Anfang September in der Welt. »Dazu zählt notfalls auch eine geordnete Insolvenz Griechenlands, wenn die dafür notwendigen Instrumente zur Verfügung stehen.«

Befremdlich wirkte dabei nicht nur der Umstand, dass sich Rösler als Rebell in Szene setzen wollte, der die »Denkverbote« einer Regierung in Frage stellt, der er selbst angehört. Seine Aussagen ließen auch Zweifel daran aufkommen, ob er überhaupt weiß, wovon er spricht. Ob es einen »geordneten Staatsbankrott« überhaupt geben kann, ist ohnehin umstritten. Auf jeden Fall verfügt die Euro-Zone derzeit über kein Reglement, mit dem ein solcher vollzogen werden könnte – weder existiert eine entsprechende EU-Insolvenzordnung, noch eine Instanz, die ein solches Ereignis überhaupt feststellen könnte. Mit seinen Äußerungen hat sich Rösler zudem in der Koalition viel Ärger eingehandelt. Sie trügen nicht dazu bei, die Krise zu lösen, sondern sie eher noch beschleunigen, kritisierte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU).
Für die FDP-Führung scheinen solche Fragen nebensächlich zu sein. Ihr geht es um etwas Elementareres: die Partei vor der völligen Bedeutungslosigkeit zu bewahren. Tatsächlich spricht die weit verbreitete Europaskepsis durchaus viele Wähler an. Umfragen zufolge lehnen 80 Prozent der Bundesbürger weitere finanzielle Hilfen für Griechenland ab, und viele sehnen sich nach der D-Mark zurück (siehe Seite 7). Für die FDP-Führung lag daher wohl der Gedanke nahe, sich als Retter vor den alles verschlingenden Schuldenstaaten aufzuspielen, als Partei, die – ähnlich wie die Tea-Party-Bewegung in den USA – marktradikale und nationalistische Positionen miteinander verbindet. Was auch immer sich Parteistrategen wie Generalsekretär Christian Lindner davon versprochen haben, bei der Wahl in Berlin hat es den Liberalen nicht geholfen. Viele ihrer Stammwähler wanderten zur CDU ab oder blieben gleich zu Hause. Vielleicht lag es auch am falschen Personal. Der bübische Rösler taugt ­jedenfalls nicht so recht als populistischer Frontmann.
Vergangene Woche, infolge der Wahlschlappe, gab die FDP-Spitze plötzlich nach. So will Rösler nun nichts mehr von einem Rauswurf Griechenlands aus der Euro-Zone wissen. Selbst milde Töne gegenüber den verpönten Griechen sind plötzlich wieder möglich. »Wir sind jetzt nicht die Oberlehrer, die mit deutscher Weisheit einmarschieren und in Athen die Macht übernehmen«, sagte der FDP-Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle dem Sender N-TV. »Die Griechen haben das selbst zu entscheiden.« Und auf einmal verteidigte er überraschend deutlich die Haltung der Bundesregierung zum erweiterten Euro-Rettungsschirm (EFSF), der in dieser Woche zur Abstimmung steht. Der mit 440 Milliarden Euro ausgestattete Rettungsfonds soll nicht nur Griechenland, Irland und Portugal helfen, sondern auch vorbeugend Kredite an Staaten vergeben können, die Gefahr laufen, von deren Pleite ebenfalls betroffen zu werden. Dadurch würde auch die Europäische Zentralbank (EZB) entlastet, die bislang die Hauptlast der Rettungsaktionen zu tragen hatte. Dort entscheiden allerdings alle 17 Staaten der Euro-Zone nach dem Mehrheitsprinzip. Da beim EFSF hingegen Beschlüsse einstimmig fallen müssen, werde »nichts ohne Deutschland laufen«, wie Brüderle seine Haltung begründet. »Wir schaffen einen Mechanismus, der unsere Position deutlich stärkt.«

Dass es für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) weiter ungemütlich bleiben dürfte, dafür sorgt auch ihr Koalitionspartner CSU. Deren Vorsitzender Horst Seehofer hatte erst kürzlich betont, dass seine Partei bei zusätzlichen Hilfen für Griechenland und andere Schuldenländer nicht mehr zustimmen wolle. »Ich möchte keinen grenzenlosen Weg in eine Schuldenunion Europas, weil sonst die große Gefahr bestünde, dass die Finanzmärkte eines Tages sagen: Das können die Deutschen nicht mehr stemmen. Dann kommen wir ins Visier«, sagte Seehofer.
Selbst ihrer eigenen Partei kann sich Merkel nicht mehr sicher sein. So erregte kürzlich der EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) mit dem bizarren Vorschlag Aufsehen, die Fahnen von »Schuldensündern« wie Griechenland sollten vor EU-Gebäuden auf Halbmast gesetzt werden. Prominente CDU-Abgeordnete wie Wolfgang Bosbach haben bereits deutlich gemacht, dass sie die Europapolitik von Merkel nicht weiter unterstützen wollen. Die Lösung könne nicht darin bestehen, dass andere Länder für das griechische Haushaltsdefizit »in Haftung« genommen würden, sagte Bosbach, der ebenfalls das Bild einer »Schuldenunion« bemühte, vergangene Woche.
Der Streit in der Bundesregierung nährt inter­national weiter die Zweifel, ob Deutschland überhaupt an einer Rettung der Euro-Zone interessiert ist. Die Positionen der liberalen und konservativen Euro-Skeptiker legen dabei nahe, dass zumindest einem Teil der Regierung ein Ende mit Schrecken lieber ist, als in die vielgeschmähte »Transferunion« einzusteigen. Dabei profitierte die deutsche Wirtschaft bislang sogar von der Krise. Kurzfristig, weil die Zinsen für deutsche Staatsanleihen mittlerweile auf ein historisches Tief gefallen sind und nun sogar unter der Inflationsrate liegen. Langfristig, weil der Euro-Raum für die deutsche Exportwirtschaft die Basis für eine Geschichte rasanten Erfolgs lieferte. Seit Einführung der gemeinsamen Währung summierten sich die Überschüsse in der deutschen Leistungsbilanz nach Angaben der Bundesbank auf 750 Milliarden Euro. Entsprechend hoch fielen die Defizite der Schuldnerländer aus. Mit diesem ungleichen System schienen dennoch alle Beteiligten lange Zeit gut leben zu können. Denn durch den Euro konnten vor allem die südlichen EU-Staaten billige Kredite aufnehmen, während die deutschen Unternehmen von der steigenden Nachfrage profitierten.

Seit Beginn der Finanzkrise bricht dieses System zunehmend auseinander. Da die Schuldenlast die Defizitländer zu ruinieren droht, verlangen diese nun von Deutschland, sich an den Krisenkosten zu beteiligen. Die Bundesregierung wiederum will die Krise vornehmlich auf nationalstaatlicher Ebene lösen – und setzt in den betroffenen Ländern harte Sparprogramme durch, um die Schulden abzubauen. Griechenland und Portugal geraten dadurch immer tiefer in die wirtschaftliche Depression, und Italien könnte dem bald folgen. Eine positive Entwicklung ist auf dieser Grundlage wenig wahrscheinlich. Damit verliert auch die Euro-Länder für das deutsche Exportmodell an Bedeutung. Zugleich dürfte die Euro-Skepsis in der deutschen Öffentlichkeit zunehmen, während zumindest ein Teil der politischen Verantwortlichen bestrebt ist, die Verflechtungen mit dem Euro-Raum zu minimieren. Auch die Debatte um die schwindende Westbindung in der deutschen Außenpolitik hängt mit dieser Entwicklung eng zusammen.
Während sich die Deutschen vornehmlich als Opfer der Schuldenkrise gerieren, werden im Ausland die nationalistischen Töne kritisiert, die die deutsche Debatte prägen. »Die deutsche Wählerschaft ist nicht bereit, Aktionen mitzutragen, die sie als Subventionierung unwürdiger Nationen ansieht«, hieß es dazu etwa kürzlich in der New York Times. »Infolgedessen schlägt die Regierung einen sehr isolationistischen Weg ein, um eine Festung Deutschland zu errichten, die ökonomisch abgesichert ist, trotz der Risiken für ihre europäischen Partner.«
Ob eine solche Abschottung von der globalen Krisendynamik überhaupt möglich ist, ist mehr als fraglich. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet warnte vor wenigen Tagen, die allgemeine Lage sei mittlerweile dramatischer als 2008 nach dem Crash bei der Bank Lehman Brothers. Auf dem Jahrestreffen des Internationalen Währungsfonds am vergangenen Wochenende sorgten sich die Vertreter der Schwellenländer, dass die Europäer ihre Staatsschuldenkrise nicht in den Griff bekommen und die ganze Welt mit in den Abgrund reißen könnten. Dabei sitzen die größten Europa­skeptiker heute nicht in Brasilien oder Indien, sondern in Deutschland.