Zu viel getanzt

Berlin Beatet Bestes. Folge 120. Teddy Wilson: Stompin’ At The Savoy (1957).

Ich kann nicht mehr laufen. Ich kann nicht mehr Treppen steigen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich zuletzt so erschöpft gefühlt habe. Mein ganzer Körper hat Muskelkater. Eigentlich wollte ich nicht mehr übers Tanzen schreiben, aber heute kann ich an nichts anderes denken. Gestern habe ich an einem »Aerial«-Workshop teilgenommen. »Aerials«, oder ursprünglich »Air-Steps«, sind die akrobatischen Figuren im Lindy Hop und im Rock’n’Roll, wo die Tanzpartnerinnen durch die Luft fliegen. Unser normales »Social Dancing« auf der Tanzfäche bewegt sich eigentlich auf einem durchweg horizontalen Level. Zum einen, um niemanden zu verletzen, und zum anderen, weil nur wenige Tänzer die technisch anpruchsvollen Aerials beherrschen.
Der Workshop wurde von Shimrit und Alon geleitet, einem Paar aus Israel, das auf dem Weg zu einem Workshop in Budapest in Berlin Sta­tion machte. Sie tanzen erst seit einem Jahr und versuchen sich seit sechs Monaten an Aerials. Von den zehn Figuren, die sie beherrschen, führten sie uns vier in halsbrecherischem Tempo vor. Bevor es auch für uns losging, ließen Shimrit und Alon uns eine Erklärung unterschreiben, dass sie im Todes- oder Verletzungsfall nicht haftbar seien – auch ein Grund, warum Berliner Tanzschulen Aerials selten im Programm haben.
Dann wurde es ernst. Nach vielen Sicherheitstips, Aufwärmen und Dehnen lernten wir zuerst den »Frog«. Ich übte zusammen mit einer Frau, die gar nicht Lindy Hop tanzen konnte, was unseren Bemühungen eine noch sportlichere Note gab. Die Tanzpartner stehen sich zunächst gegenüber und gehen in die Knie. Während der Follower den rechten Arm versteift und abspringt, wird er vom Leader zusätzlich unter dem linken Arm und unter der rechten Hand hochgeschleudert. Nach einer Stunde katapultierte ich meine Partnerin einen halben Meter über meinen Kopf. Langsam wurden wir allerdings müde: Sie vom Springen und ich, weil ich quasi aus der Hocke Gewichte gestemmt hatte. Die nächste Figur, die wir lernten, hieß »The Moon«: Der Follower springt aus der parallelen Position auf die linke Schulter des Leader, wobei er durch beide Arme an der Hüfte unterstützt wird. Mit ausgestreckten Armen, wie ein Brett auf der linken Schulter liegend, wird der Follower dann nach vorne abgerollt und kommt mit dem Rücken vor dem Leader zum Stehen. Auch das bekamen wir ganz gut hin. Je schneller wir es machten, desto spektakulärer wurde es. Dass es Frauen und Männern offensichtlich gleichermaßen Spaß macht, mal wie ein Baby in die Luft geschleudert zu werden und mal den Partner zu schleudern, ist seltsam, aber toll.
Erfunden wurden die »Air-Steps« im »Savoy« in Harlem. Der Swingklassiker »Stompin’ at the Savoy« wurde 1934 für das Orchester von Chick Webb geschrieben, das Hausorchester des »Savoy«. Teddy Wilson, der wegen seiner Unterstützung linker Projekte der »marxistische Mozart« genannt wurde, versöhnt in seiner Version Swing mit Cool Jazz.