Franco »Bifo« Berardi im Gespräch über den »berlusconismo« und die italienische Linke

»Jetzt fängt die Tragödie an«

Der Theoretiker Franco »Bifo« Berardi ist einer der bekanntesten italienischen ­Linken. 1977 gehörte er zum »kreativen Flügel« der Autonomia Operaia. Der Me­dienphilosoph und »postoperaistische Cyberpunk«, wie er sich selbst genannt hat, beteiligt sich seit Jahren an den Debatten der außerparlamentarischen Linken und der sozialen Bewegungen in Italien. Am 21. November erscheint in Italien sein neues Buch »Sollevazione« (Erhebung) über die Notwendigkeit des Widerstands gegen die Herrschaft der Finanzmärkte.

Freuen Sie sich über den Rücktritt von Silvio Berlusconi?
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die derzeit jubeln. Dass dieser Rücktritt zumindest symbolisch als eine Befreiung erlebt wird, ist nachvollziehbar und dennoch sehr naiv. Silvio Berlusconi ist nicht wirklich weg. Dieser Rücktritt war vielmehr sein letztes Meisterwerk.
Wird sich dadurch in Italien nichts ändern?
Doch, es wird sich einiges ändern. Entscheidend ist aber, wie es dazu kam: Berlusconi erhielt Anfang August einen Brief vom Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, und von seinem Nachfolger, Mario Draghi. Der Brief enthielt präzise Vorgaben an die italienische Regierung, was sie zu tun habe, um die Krise zu bewältigen. Aber in diesem Schreiben stand nichts anderes als das Wirtschaftsprogramm der Regierung Berlusconi! Ein Programm, das der Ministerpräsident nicht umgesetzt hat, weil es unpopuläre Maßnahmen vorsieht, und weil Berlusconi selbst nicht mehr über die Glaubwürdigkeit verfügt, solche Maßnahmen durchzusetzen. Also lässt er dieses Programm von anderen umsetzen. Der neue Ministerpräsident Mario Monti ist ein Technokrat, er war Berater von Goldman Sachs und soll nun das Land vor dem wirtschaftlichen Ruin retten. Berlusconi lässt den schwierigen Teil seiner Arbeit von anderen machen.
Mit welchem Ziel?
Er wird eine neue populistische, rassistische Partei mit Verbindungen zur Mafia organisieren, um damit in den Wahlkampf gegen sein eigenes Wirtschaftsprogramm zu ziehen und die nächsten Wahlen zu gewinnen. Berlusconi ist zu alt, um selbst wieder zu kandidieren, wichtiger ist aber die politische Absicht. Ich habe den Eindruck, dass wir derzeit den tragischen Teil der italienschen Geschichte erleben. Bisher hatten wir eine Farce. Eine Farce, deren Preis sehr hoch war, aber immerhin eine Farce. Jetzt fängt die Tragödie an.
Linke Kommentatoren, unter anderem Fausto Bertinotti, der ehemalige Sekretär der Partei Rifondazione Comunista, haben von einem »Staatsstreich der Finanzmärkte« gesprochen, der in Italien stattgefunden habe. Die EU habe einen »spekulativen Angriff« auf Italien verübt, mit dem Ziel, Berlusconi zu Fall zu bringen und in Italien eine von starken Wirtschaftskräften kontrollierte Regierung zu in­stallieren. Eine Verschwörung der internationalen Finanzmärkte mit Berlusconi als Opfer?
Es passiert nicht zum ersten Mal in Europa seit Beginn der Krise. Anfang 2010 hat sich ein politisch-ökonomisches Direktorium gebildet, bestehend aus Jean-Claude Trichet, Angela Merkel und Nicolas Sarkozy. Dieses Gremium hat Griechenland de facto unter kommissarische Leitung gestellt. Dadurch wurden nicht nur die Möglichkeiten für eine wirtschaftliche Entwicklung dieses Landes vernichtet. Die Folgen der sozialen Verwüstung wurden in den vergangenen Monaten in der griechischen Gesellschaft spürbar: Die Zahl der Selbstmorde, der Drogenabhängigen und der HIV-Infektionen ist im vergangenen Jahr deutlich gestiegen, auch Gewalttaten und Diebstähle haben zugenommen.
Was würden Sie als das schlimmste Erbe der Ära Berlusconi bezeichnen?
Ich wäre vorsichtig, von Erbe zu sprechen. Dieser Herr ist noch nicht weg. Eines der wichtigsten Merkmale des sogenannten berlusconismo ist die tiefe Verachtung für die Kultur. Das bedeutet eine Verachtung für die Autonomie der Forschung, des Wissens, der Schule, der Universität. Das ist ein Element, das die heterogene Wählerschaft von Berlusconi vereint, von den Rechtspopulisten in Norditalien über die Mafiosi im Süden bis hin zu den Faschisten in Rom.
Derzeit streitet sich die außerparlamentarische Linke in Italien darüber, ob es eine Bewegung der »Empörten« wie in Spanien geben kann. Glauben Sie, dass eine solche Bewegung in Italien entsteht?
Diese Bewegung formiert sich gerade. Gestern wurden in Bologna ein Markt, ein Großkino und eine Universität besetzt. Sie nennen sich nicht »Empörte«, und ich halte dies für ein positives Zeichen dafür, dass die Linke in Italien vielleicht weniger naiv ist als anderswo. Die Bewegung in Italien empört sich nicht. Man hat zu viel gesehen, um sich zu empören. In dieser neuen Bewegung sehe ich eher Entschlossenheit.
Zeigt die Debatte um die Demonstration vom 15. Oktober nicht eher das Gegenteil? Nämlich dass diese Bewegung weder weiß, wer sie ist, noch, was sie will?
Ich beziehe mich nicht auf die Form des Protests, sondern auf die Inhalte. Entschlossenheit sehe ich darin, dass man den Kollaps des europäischen Kapitalismus als Chance in der Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital begreift. Zu der Frage, wer »wir« sind, muss man die politischen und sozialen Veränderungen der vergangenen Jahre und deren gravierende Folgen berücksichtigen. Zunächst fand ein Angriff auf alle Strukturen der Produktion und der Vermittlung von Wissen statt, mit einer Bildungsreform, welche die Mittel für Schulen und Universitäten um ein Drittel gekürzt hat und ein soziales Desaster zur Folge hatte. Davon waren nicht nur Schülerinnen, Schüler, Studierende und Lehrpersonal betroffen, sondern auch Eltern und Familien. Die Schülerinnen, die Schüler und die Studierenden organisieren sich derzeit mit einer Entschlossenheit, die ich zuletzt 1968 gesehen habe. Der zweite Aspekt ist die Prekarisierung der ­Arbeit, die in Italien dramatische Dimensionen erreicht hat.
Toni Negri spricht von einer »Bewegung der Armen«. Nach den Krawallen vom 15. Oktober scheint man sich in Italien aber eher über die Frage zu streiten, was der Fußballfan aus der Peripherie auf einer Demonstration von prekären Künstlerinnen und Künstlern zu suchen hat.
Abgesehen von der Debatte über die »guten« und die »bösen« Demonstranten finde ich den Bruch in der Bewegung nach dem 15. Oktober persönlich nicht so dramatisch. Es gibt sicher diejenigen, die denken, eine Alternative müsse über den klassischen Weg der politischen Repräsentation organisiert werden. Andere sind der Ansicht, dass man sofort einen anderen Weg einschlagen müsse, nämlich den eines radikalen Widerstands. Aber angesichts der Situation in Italien finde ich, dass zwei Bewegungen besser sind als eine.
Also ist das Ziel, so viel Widerstand zu artikulieren, wie es nur geht, egal in welche Richtung? Das erinnert ein wenig an die globalisierungskritische Bewegung von 2001.
In gewisser Hinsicht gibt es Ähnlichkeiten zwischen den beiden Bewegungen. Aber ich sehe einen entscheidenden Unterschied. Was heute passiert, hat eine neue Dimension, die ich Unvermeidlichkeit nennen würde. Die globalisierungskritische Bewegung war eine ethische Bewegung, sie war aus der Empörung gegen eine Wirtschaftsordnung und gegen soziale Systeme entstanden, die als ungerecht empfunden wurden. Es war aber eine theoretische Empörung, die für die meisten der Beteiligten kaum mit der Materialität des Alltags zu tun hatte. Zehn Jahre später sind die konkreten Folgen dieser Ungerechtigkeit für viele spürbar. Heute gibt es eine No-Future-Stimmung, die es damals nicht gab. Entsprechend stärker sind auch die Wut und die Verzweiflung. Die große Gefahr, die ich sehe, ist die Entstehung einer populistischen Front. Wenn die Bewegung nicht in der Lage ist, auch die »Kaputtmacher« zu integrieren, befürchte ich, dass wir in einem halben Jahr eine richtige populistische Massenpartei haben werden, die die Unzufriedenen und ihre Ressentiments mobilisieren wird.
Gibt es heute also mehr Nihilismus in der italienischen Bewegung?
Ich würde es »Poesie der Desillusion« nennen, und ich sehe darin ein Zeichen dafür, dass diese Bewegung sehr reif ist. Der Nihilismus – wenn man damit die zynische Zerstörung von Zukunftsperspektiven bezeichnen will – steht heute auf der Seite des Kapitals. Die europäische Griechenland-Politik ist zynisch und nihilistisch. Weil sie das Nichts produziert. Die Bewegung reagiert auf diesen Nihilismus mit einer ironischen Haltung, die ich begrüße. Gestern gab es in Bologna eine Demonstration, die von einer neuen Heiligen geführt wurde: Santa Insolvenza. Die Heilige und ihre Anhängerinnen und Anhänger zündeten Kerzen vor den Banken an und inszenierten Menschenopfer an den Gott des Geldes.
In einem Ihrer neuesten Texte schreiben Sie, es sei an der Zeit, sich das, was uns gestohlen wurde, wiederanzueignen, und schlagen die Einführung einer Lebensmittelmarke vor. Ist das auch eine ironische Antwort auf den Nihilismus des Kapitals?
Nein, das ist nicht nur eine Provokation. Mit dem Vorschlag für eine Lebensmittelmarke meine ich nichts anderes als eine vorläufige, kollektiv organisierte Insolvenzerklärung. Man wird in die Supermärkte gehen, dorthin, wo die Güter, die wir benötigen, zu erwerben sind. Wir werden dort unsere Personalausweise zeigen und eine Erklärung abgeben, auf der steht: »Ich werde bezahlen, sobald mir die EZB die Mittel zum Überleben zur Verfügung stellen wird.« Bezahlt wird erst, wenn die mörderische Politik beendet wird, welche nur die Inflation und nicht die Armut bekämpft. Bezahlt wird erst, wenn ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt wird. Das Recht auf Insolvenz bedeutet einfach die Nichtanerkennung der eigenen Schulden.
Es gibt Autoren wie den Anthropologen David Graeber (Autor von »Debt: The First 5 000 Years«, Anm. d. Red.) oder den Philosophen Maurizio Lazzarato (»La fabrique de l’homme endetté«, Anm. d. Red.), die in diesem Jahr zu diesem Thema gearbeitet haben. Sie zeigen, dass die Schulden kein Naturereignis sind und nennen sie »Sprechakte«, die ausgeführt werden. Das Schlagwort »Recht auf Insolvenz« bedeutet nicht nur die konkrete Weigerung, die eigenen Schulden zu bezahlen, sondern auch die Weigerung, das Leben der Individuen und der Gesellschaft der Herrschaft der Ökonomie zu unterwerfen. Es bedeutet: Ich erkenne den Sprechakt, der meine Armut besiegelt, nicht an.