Die »Occupy«-Proteste in New York

99 Prozent Nabelschau

In vielen Städten der USA werden die »Occupy«-Camps teilweise brutal von der Polizei geräumt. Dass die politische Debatte innerhalb der Bewegung derzeit nicht vorankommt, liegt aber nicht nur an der staatlichen Repression.

Nach acht Stunden war es vorbei. Am frühen Sonntagabend wurden die letzten von »Occupy Wall Street« (OWS) in Washington, D. C., von der Polizei verhaftet. Seit Sonntagmittag standen sich Protestierende und Polizisten gegenüber, immer wieder nahm die Polizei einzelne Demons­trantinnen und Demonstranten fest, bis diese schließlich den Platz geräumt hatten. Das kleine, selbstgezimmerte Holzgestell, unter dem die Besetzerinnen und Besetzer ihre täglichen Vollversammlungen abhielten, das Essen zubereiteten und die Aktivitäten koordinierten, wurde eilig von den Ordnungshütern abgebaut, um zu verhindern, dass die Anhängerinnen und Anhänger der Bewegung weitere Treffen organisieren.

Auch in Portland, Los Angeles und Philadelphia ging die Polizei am vergangenen Wochenende gegen Camps der »Occupy«-Bewegung vor. Damit setzt sich eine Reihe von Räumungen fort, die in New York City in der Nacht des 15. November begann. Mehrere Hundertschaften der New Yorker Riot Police räumten den Zuccotti Park im Finanzdistrikt der Stadt und verhafteten dort über 200 Personen.
Dabei geht die Polizei nicht gerade zimperlich vor. Am Wochenende sorgte das Bild eines am Kopf blutenden 15jährigen im ganzen Land für Schlagzeilen. Nach Angaben der OWS-Website wurde der junge Demonstrant von einem Polizisten bei der Räumung des Camps in Portland angegriffen.
Mitte November sorgte ein Polizeieinsatz an der Universität Davis im Bundesstaat Kalifornien für Aufsehen. Amateurvideos zeigen, wie Polizeibeamte dort ruhig am Boden sitzende Studentinnen und Studenten mit Pfefferspray beschießen. In den meisten Fällen sind es Anhängerinnen und Anhänger der Bewegung selbst, die die Übergriffe der Polizei dokumentieren und online veröffentlichen. Viele dieser Videos erfuhren in den vergangenen Tagen große Aufmerksamkeit in den US-amerikanischen Massenmedien. Die Berichterstattung der liberalen US-amerikanischen Medien, die sich derzeit auf die Polizeimaßnahmen konzentriert, ist ein Indikator dafür, dass die bürgerliche Öffentlichkeit die Arbeit der Polizei kritisch auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien hin überprüft.
Deutsche Journalistinnen und Journalisten, die etwa das übliche Verhalten Berliner Einsatzhundertschaften bei linken Demonstrationen kennen, sind über das Ausmaß der Empörung immer wieder erstaunt. Aber bei den Räumungen der »Occupy«-Camps fielen die US-Beamten durch eine Selbstherrlichkeit auf, an die die Öffentlichkeit in den USA nicht gewöhnt ist. Viele Bundestaaten verfügen über trainierte Hundertschaften, und angesichts der gegenwärtigen Situation ist eine Verschärfung der Repression nicht auszuschließen, sollte es zu einer Radikalisierung der Proteste kommen.
Von Teilen der Bewegung wird die Fokussierung der Medien und der internen Debatte auf das Verhalten der Polizei allerdings nicht als positives Zeichen gewertet: »Wir schaffen es derzeit nicht, den innenpolitischen Diskurs über die Finanzpolitik der Regierung und die Macht der Banken weiter aufrechtzuerhalten«, sagt etwa Jonah Levin. Der 30jährige gebürtige New Yorker ist derzeit arbeitslos und beteiligt sich seit Beginn der Proteste in New York an der »Occupy«-Bewegung. Gemeinsam mit anderen sitzt er in einem Bürogebäude mitten im New Yorker Finanzdistrikt, in der Nähe des ehemaligen Zentrums der Bewegung. Ein wohlhabender Unterstützer von OWS, der anonym bleiben möchte, hat die Räume angemietet. Hier arbeitet eine kleine Gruppe daran, die Bewegung am Leben zu erhalten. Die Anwesenden machen allerdings den Eindruck, als sei ihnen gegenüber Medienschaffenden Zwangsoptimismus verordnet worden. Ihre Aussagen vor der laufenden Kamera eines Nachrichtensenders aus New Jersey decken sich mit den Befindlichkeitsmitteilungen auf den selbstgemalten Schildern, die in der Ecke stehen. »Wir sind viele und werden immer mehr«, »Zunehmend verstehen die Bürger, dass sie auch Teil der 99 Prozent sind« und »Wir bekommen auch von Polizisten viel Sympathie«, ist etwa darauf zu lesen. In Momenten wie diesen wirkt die ständige Anbiederung der Bewegung an die vermeintliche »Bevölkerungsmehrheit« eher erbärmlich.

Tatsächlich erscheinen immer weniger Menschen beiden Protesten und Versammlungen. Zuletzt blieb die Resonanz auf den globalen Aktionstag zum Klimawandel, der anlässlich der UN-Klimakonferenz in Durban am vergangenen Samstag stattfand, hinter den Erwartungen zurück. In New York demonstrierten einige Hundert Menschen, im Rest der USA waren es wenige Tausend. In den Massenmedien wurden die Demonstrationen kaum erwähnt. Journalisten und Reporter zeigen immer wieder die spektakulären Bilder gewalttätiger Polizisten und wissen sonst offenbar nicht mehr so recht, wo sie weiter nach guten Aufhängern für Beiträge über die Bewegung suchen sollen. Über deren politische Vorstellungen wird weiterhin wenig berichtet, denn nach wie vor scheint sich ein Großteil der Aktivistinnen und Aktivisten nicht auf konkrete Forderungen festlegen zu können. Angesichts fehlender politischer Inhalte porträtieren die Medien gerne immer wieder einzelne Menschen, die an der Bewegung beteiligt sind. Der Protest, der ohnehin eher von persönlichen Befindlichkeiten als von gesellschaftlicher Analyse getragen wird, verkümmert so im öffentlichen Bild zu einer Reihe von einzelnen Geschichten.

Immerhin berichten die liberalen Medien wohlwollend. Die konservative Presse stürzt sich stattdessen eher auf die Spinner, die Verschwörungstheoretiker oder die emotional labilen Jugendlichen. Unerwähnt bleibt dabei die politische Debatte über die staatliche Finanzpolitik. Zwar wurde diese in der »Occupy«-Bewegung meist oberflächlich und teilweise populistisch geführt, aber sie hat durchaus Möglichkeiten für eine tiefergreifende Analyse der gegenwärtigen Krise eröffnet.
Diese Debatte findet aber derzeit weder in der breiten Öffentlichkeit noch in den Reihen der Bewegung statt. Nach wie vor sind die Aktivistinnen und Aktivisten in New York meist mit Fragen über die Organisation der Gruppentreffen beschäftigt. Die Online-Diskussionsforen der »Occupy«-Bewegung in anderen US-Städten bieten ein ähnliches Bild. Dass von den basisdemokratischen Strukturen der »Occupy«-Camps kein Impuls für die Gesellschaft ausgehen kann, liegt auf der Hand: Dieses Modell, das auf Konsens basiert, ist in komplexeren Zusammenhängen schlicht nicht anwendbar. Auch innerhalb der Bewegung funktioniert dies nur unter Aufbringung fast aller Ressourcen der Beteiligten, aber in kleineren Gemeinden oder Städten, in denen Menschen mit den unterschiedlichsten Ansichten und politischen Meinungen leben, sind solche Konzepte einfach nicht praktikabel. »Manchmal gehe ich nach Hause und sage mir, dass ich nie wieder hierher komme«, sagt etwa eine Aktivistin der ersten Stunde, die diese Aussage nicht mit ihrem Namen gedruckt sehen möchte. Es sind vor allem die offenen Vollversammlungen, die bei der Studentin immer wieder für Frustrationen sorgen. »Die Generalversammlungen sind ein tolles Konzept. Aber es kommen ständig neue Leute und diejenigen, die schon länger dabei sind, haben das ­Gefühl, alles wieder und wieder diskutieren zu müssen.«
Für die nächsten Wochen planen »Occupy«-Gruppen im ganzen Land, die Proteste von Nachbarschaftsgruppen gegen die Pfändung von Wohnhäusern zu unterstützen. Sollte es der »Occupy«-Bewegung gelingen, viele Menschen zu mobilisieren und tatsächlich wie geplant Häuser zu besetzen, könnte dies eine neue Phase der Proteste einleiten. Denn Zehntausende Amerikanerinnen und Amerikaner sind betroffen, und Millionen Bürgerinnen und Bürger haben Angst vor dem Absturz in die Armut.