Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich

Peinlich für Heinrich

Die Einkommensunterschiede nehmen in Deutschland schneller zu als in den meisten anderen Industrieländern. Dafür sind auch die Gewerkschaften verantwortlich.

Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren deutlich schneller gewachsen als in vielen anderen Ländern. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der OECD. Demnach verdienten die zehn Prozent der deutschen Bevölkerung mit den höchsten Einkommen im Jahr 2008 etwa achtmal so viel wie die untersten zehn Prozent. Anfang der neunziger Jahre lag das Verhältnis noch bei sechs zu eins. Die Verschärfung der sozialen Gegensätze ist den Autoren der Studie zufolge unter anderem auf die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts zurückzuführen, die zu einem Zuwachs an Teilzeit­arbeit und befristeten Verträgen geführt hat. Aber auch der Wandel der Beziehungsformen und Geschlechterverhältnisse verstärke der Studie zufolge die Einkommensunterschiede zwischen den Haushalten. So gebe es inzwischen mehr Alleinerzieher- und Single-Haushalte mit entsprechend niedrigem Einkommen. Auf der anderen Seite fänden sich immer mehr Paare aus der gleichen Einkommensgruppe zusammen, wodurch die sozialen Milieus immer stärker »entmischt« würden. Das Modell »Chefarzt heiratet Krankenschwester«, so eine griffige Formulierung in der Studie, sei auf dem Rückzug.

Die Studie ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Lohnentwicklung im vergangenen Jahrzehnt die soziale Ungleichheit verstärkt hat. Unter Berücksichtigung des Preisanstiegs fielen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zufolge die Löhne in Deutschland seit 2000 um 4,5 Prozent. Trotz beträchtlicher Produktivitätszuwächse verdienen die Beschäftigten im Durchschnitt also weniger als vor zehn Jahren. Deutschland ist damit das Letztplatzierte unter den 26 von der ILO untersuchten Industrieländern. In allen übrigen Ländern stiegen die Reallöhne, in Norwegen gar um 25 Prozent. Ähnlich verhält es sich mit den Lohnstückkosten, also dem Anteil der Arbeitskosten pro produzierter Einheit. Von 2000 bis 2010 stiegen diese in der restlichen Euro-Zone um 27 Prozent, in Deutschland gerade einmal um sechs Prozent. Wären die Einkommen in Deutschland entsprechend der Produktivitäts- und Preisentwicklung angewachsen, dann lägen die Lohnstückkosten hierzulande etwa 20 Prozent höher.
Die Ergebnisse der Studie bestätigen zwei Thesen: zum einen, dass Deutschland die anderen Standorte weniger durch hohe Produktivitätssteigerungen als durch Dumpinglöhne niederkonkurriert, und zum anderen, dass auch die konfliktscheue Tarifpolitik der deutschen Gewerkschaften für die Reallohnverluste verantwortlich ist. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Reallohnverluste in jenen Branchen und Regionen am höchsten sind, in denen Flächentarife am stärksten aufgeweicht worden sind, dort also, wo die Gewerkschaften am wenigsten präsent sind. Aber auch in den ihnen verbliebenen Bereichen waren sie zuletzt nicht sonderlich offensiv. Dies ist nicht nur eine Folge davon, dass die Gewerkschaften durch wirtschaftliche Umstrukturierungen geschwächt wurden, sondern eben auch ihres eigenen Standortnationalismus. Dieser findet seinen Ausdruck darin, dass sie in Aufschwungphasen an den Profiten teilhaben und in Krisenzeiten den Wirtschaftsstandort durch Lohnverzicht stützen wollen.

Tatsächlich jedoch sind auch in Wachstumsphasen die Löhne nicht gestiegen. So wurden etwa in der Metallindustrie 2008/09 Tarifverträge vereinbart, die Lohnsteigerungen von 2,1 Prozent bei einer Laufzeit von 18 Monaten beinhalteten. Und in der Tarifrunde 2010 verzichtete die IG Metall sogar ganz darauf, eine Tarifforderung zu erheben, und akzeptierte eine Einmalzahlung von 320 Euro sowie eine Lohnerhöhung von 2,7 Prozent ab April 2011 – bei 23monatiger Laufzeit. Auf diese Weise wirkt die »Sozialpartnerschaft« nur in eine Richtung. Denn zum einen handelt es sich bei der Burgfriedenspolitik der Gewerkschaften gewissermaßen um eine Selbstentwaffnung der Lohnabhängigen. Andererseits scheint die Unternehmerseite überhaupt nicht gewillt, eine solche Haltung durch Zugeständnisse zu honorieren. Im Gegenteil, die drastische Absenkung der Löhne, nicht nur in Deutschland, sondern europaweit, ist das zentrale Projekt der vorherrschenden Krisenpolitik.
In der gegenwärtigen Situation scheinen viele Lohnabhängige noch bereit zu sein, einen sinkenden Lebensstandard für soziale und wirtschaftliche Stabilität in Kauf zu nehmen. Dabei dürfte auch die Situation in Griechenland disziplinierend auf sie wirken. Beispielhaft führt sie den deutschen Lohnabhängigen vor Augen, was ihnen droht, wenn die Standortinteressen gefährdet würden. Und gleichzeitig wirkt die Hetze gegen die »faulen Griechen« als ideologischer Kitt, mit dem die in der Krise brüchiger werdende Sozialpartnerschaft weiter zusammengehalten wird.

Ambivalent ist dies auch deshalb, weil die »soziale Verträglichkeit« des Kapitalismus in der Krise durchaus vehementer in Frage gestellt wird. So hat eine Studie des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung in München zum Krisenbewusstsein der Lohnabhängigen in Deutschland ergeben, dass die Krise überwiegend als »systemisches« Problem verstanden werde. Zugleich lassen die Ergebnisse erkennen, dass sich zumindest untergründig so etwas wie ein Klassenbewusstsein regt. Auf der anderen Seite jedoch stellt die Studie ein tiefsitzendes Gefühl der Ohnmacht bei den Lohnabhängigen fest, die angesichts der vermeintlichen Anonymität der »Finanzmärkte« keine greifbaren Adressaten für Wut und Protest fänden. Welche Rolle die Gewerkschaften dabei spielen, untersucht die Studie nicht. Es dürfte jedoch naheliegen, dass die Ohnmacht und die abstrakte Projektion der Wut auf »die da oben« auch damit zusammenhängen, dass breiter gewerkschaftlicher Widerstand hierzulande keine Tradition hat. Wo dieser ausbleibt, verengt sich offenbar der Blick auf politische Autoritäten, von denen eine Lösung der sozialen Probleme erwartet wird.
Eine Veränderung bei der Einkommensverteilung würde eine Veränderung in der gewerkschaftlichen Lohnpolitik voraussetzen. Und diese Frage steht in direktem Zusammenhang mit der Kampffähigkeit der Gewerkschaften. Darauf verweist die »Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken« in ihrem neuesten Rundbrief. Der Initiative zufolge geht es bei den kommenden Streiks auch darum, »dass die Gewerkschaften ihre Durchsetzungskraft zurückgewinnen und neue Generationen von Vertrauensleuten Streikerfahrungen sammeln können, bevor alle streikerprobten Funktionäre sich in den Ruhestand verabschiedet haben«. Und weiter heißt es: »Können keine Streikerfahrungen gesammelt werden, sind die Gewerkschaften bald nicht mehr in der Lage, Streiks durchzuführen, und sie werden in die Bedeutungslosigkeit absinken.«

Dabei gereicht der ausbleibende Widerstand gegen Niedriglöhne nicht nur den Lohnabhängigen in Deutschland selbst zum Nachteil. Schon jetzt sorgt die Kampfunwilligkeit der deutschen Arbeitnehmerorganisationen bei europäischen Gewerkschaftern für Unmut. »Lasst Europa nicht dem deutschen Beispiel folgen«, lautet etwa ein Slogan belgischer Gewerkschaften. Mit einer Kampagne – »Helft Heinrich!« – setzen sie sich seit dem Sommer für bessere Löhne im Nachbarland ein, weil die deutschen Niedriglöhne den Druck auf den eigenen Arbeitsmarkt erhöhten (siehe Seite 5). Eine offizielle Reaktion auf dieses Angebot der internationalen Solidarität gab es seitens des Deutschen Gewerkschaftsbunds bisher nicht. Vielleicht möchte man über diese Peinlichkeit lieber schweigen.