Das neue Buch von Umberto Eco »Der Friedhof in Prag«

Schlacht der Stereotype

In bester Absicht missraten: Umberto Ecos Roman über die »Protokolle der Weisen von Zion«.

Die »Protokolle der Weisen von Zion« sind eine der aberwitzigsten und zugleich erfolgreichsten literarischen Fälschungen der neueren Geschichte. Der Ende des 19. Jahrhunderts aus verschiedenen Quellen zusammengefügte Text imaginiert eine internationale jüdische Verschwörung, die das Ziel habe, die Weltherrschaft zu erringen und die Staaten und Völker der Erde zu unter­jochen. »Durch Not, Neid und Hass«, heißt es dort, »werden wir die Massen lenken und uns ihrer Hände bedienen, um alles zu zermalmen, was sich unseren Plänen entgegenstellt«. Der Plan sei auf geheimen nächtlichen Sitzungen der »Ältesten von Zion« auf dem Prager Judenfriedhof expressis verbis verkündet und »protokolliert« worden, wird behauptet. Auch die Mittel zur Durchsetzung der jüdischen Weltherrschaft sollen von den jüdischen Drahtziehern detailliert erörtert worden sein. So soll etwa die damals noch neue und manchem unheimliche Untergrundbahn eine gewisse Rolle spielen: »Bald werden alle Hauptstädte der Welt von Stollen der Untergrundbahnen durchzogen sein. Von diesen Stollen aus werden wir im Falle einer gegen uns gerichteten Gefahr die gesamten Städte mit ihren Regierungen, Ämtern (…) und allen Nichtjuden mit ihrem Hab und Gut in die Luft sprengen.«
Heute muss die Leichtgläubigkeit verwundern, mit der Millionen Menschen, darunter gekrönte Häupter, Kleriker, Gelehrte und höchste Regierungs­beamte, den Betrug geglaubt haben. Besser gesagt: Sie müsste verwundern, hätten wir nicht seither noch schrecklichere Beispiele von Massenhysterie erlebt. Die »Protokolle der Weisen von Zion« wurden bereits 1921 von der Londoner Times als Fälschung entlarvt und wären lediglich ein Dokument der Absurdität, enthielten sie nicht den Keim zur antisemitischen Paranoia des 20. Jahrhunderts, die schließlich zu Hitlers Vernichtungs­lagern und Stalins Judenverfolgungen geführt hat und den modernen Judenhass in der islamischen Welt nährt.
In den islamischen Ländern erlebt das seltsame Elaborat eine Renaissance. Seit 1938 fanden die »Protokolle« auf Konferenzen der ägyptischen Muslimbruderschaft Verbreitung. Auch Michel Aflaq, dem Gründer der arabischen Baath-Partei, die seit Jahrzehnten mit blutigem Terror in Syrien regiert, waren sie vertraut. ­Besonders die zu Beginn der siebziger Jahre vom früheren Premierminister Necmettin Erbakan gegründete türkische Milli-Görüs-Bewegung beruft sich auf Stereotype, die in dem antisemitischen Pamphlet verbreitet werden. »Die Zionisten«, so Erbakan in seinem Buch »Die gerechte Ordnung«, »beuten mittels der kapitalistischen Zinswirtschaft die gesamte Menschheit aus.« In einem am 1. Juli 2007 im türkischen Fernsehen ausgestrahlten Interview erklärte er: »Es war der Zionismus, der die Sekte des Protestantismus geschaffen hat. Das ist so, weil der Papst das Konzept des Zinses ablehnt (…), weshalb die Juden beschlossen, die christliche Religion zu spalten und den Protestantismus zu gründen.« Weiter erklärte er: »Die Industrieentwicklung Chinas und Indiens wird mit jüdischem Kapital betrieben. Japans auch. Nur der Islam steht noch gegen sie.« Auf ähnliche Weise hat sich die palästinensische Hamas die Ideen der fingierten »Protokolle« zu eigen gemacht. »Mit Hilfe ihres Geldes«, heißt es in ihrer Charta über die Juden, »haben sie sich Kontrolle über die Weltmedien verschafft, mit ihrem Geld haben sie Revolutionen in verschiedenen Ländern rund um die Welt entzündet. Sie steckten hinter der Französischen Revolution und hinter der komunistischen (…). Mit Geld haben sie überall in der Welt geheime Organisationen gebildet, um die Gesellschaft zu zerstören (…). Sie haben hinter dem Ersten Weltkrieg gesteckt, wodurch sie die Zerstörung des Islamischen Khalifats erreichten (…). Wo immer es Krieg in der Welt gibt, sind sie es, die im Hintergrund die Fäden ziehen.«
Zwischen 1920 und 1970 sind in islamischen Ländern mindestens neun verschiedene Übersetzungen ins Arabische erschienen, etwa 60 verschiedene Ausgaben liegen vor, die in diesen Ländern zirkulieren, leicht zugänglich sind und selbst von führenden Politikern – etwa in Ägypten, Saudi-Arabien, Libyen, im Iran oder Irak – aufmerksam studiert und zur Lektüre empfohlen werden. Die palästinensische Autonomiebehörde veröffentlichte 2001 eine eigene Edition, 2004 ein Schulbuch für die zehnte Klasse, das auf den »Protokollen« basiert. Im Iran gehören die Verschwörungstheorien der »Protokolle« zur Staatsdoktrin des Präsidenten Mah­oud Ahmadinejad. Kaum ein Buch der neueren Zeit hat in der islamischen Welt solche Wirkung ausgelöst wie die »Protokolle der Weisen von Zion«.
Von daher ist es verdienstvoll, dass sich der italienische Sprachwissenschaftler und Romancier Umberto Eco dieser Schrift noch einmal angenommen hat. Bereits zu Beginn der neunziger Jahre hatte er sich als Linguist mit den »Protokollen« beschäftigt und ihr demagogisches Potential untersucht. Heute exportieren antisemitische Organisationen wie die türkische Milli Görüs, die auch in Deutschland Zehntausende Mitglieder zählt, von den »Protokollen« inspirierte judenfeindliche Stereotype in die europäischen Länder. Verschwörungstheorien von einer »jüdischen Weltherrschaft«, die in Europa nach dem Holocaust allenfalls ein gespenstisches Nachleben führten, werden immer häufiger reaktiviert. Auf diese Weise kehren die »Protokolle der Weisen von Zion«, eines der folgenschwersten Falsifikate der europäischen Geschichte, erneut als europäisches Problem zurück.
Eco sieht in ihnen ein geradezu mysteriöses Beispiel politischer Nachwirkung eines pseudo-literarischen Textes. Die Herkunft der Schrift konnte trotz zahlreicher Untersuchungen von Sprachwissenschaftlern und Historikern nie zweifelsfrei geklärt werden. »Sicher scheint nur zu sein«, schrieb der Historiker Walter Laqueur schon in den sechziger Jahren, »dass die russische politische Polizei bei der Abfassung die Hand im Spiele hatte«. Der italienische Literaturwissenschaftler Cesare De Michelis wies 2004 in einer gründlichen Textanalyse nach, dass die früheste Veröffentlichung der »Protokolle« – 1903 in der Petersburger Zeitschrift Snamia – keine Übersetzung aus dem Französischen, sondern ein russischer Originaltext war. Pjotr Rachkovsky, der Leiter der Pariser Abteilung des zaristischen Geheimdienstes Ochrana, sein Stellvertreter Matvei Golovinsky oder die Gräfin Juliana Glinka gelten als mögliche Verfasser. Als Grundmuster diabolischer Argumentation diente den Fälschern Maurice Jolys Roman »Dialogues aux enfers entre Machiavel et Montesquieu« von 1865, obwohl dieses gegen Napoleon III. gerichtete Buch keine antisemitische Tendenz hat. Sie wurde dem Text erst später unterlegt. Schon in seinen Vorlesungen in Harvard 1993 vertrat Umberto Eco die aus textkritischen Untersuchungen gewonnene These, Joly habe seinerseits Anleihen bei französischen Unterhaltungsschriftstellern genommen, etwa bei Eugène Sues Romanen »Der Ewige Jude« und »Die Geheimnisse von Paris«, in denen ebenfalls eine Weltverschwörung kon­struiert wird, allerdings eine der Jesuiten. Das Motiv des Judenfriedhofs in Prag, auf dem sich die »Weisen von Zion« nachts versammeln, stammt aus dem 1868 erschienenen Kolportageroman »Biarritz« des deutschen Postbeamten und Agenten der preußischen Geheimpolizei, Hermann Goedsche.
All diese Gestalten lässt Eco in seiner zweiten, diesmal belletristischen Darstellung der mysteriösen Entstehungsgeschichte der »Protokolle« auftreten. Dazu erfindet er einen italienischen Dokumentenfälscher, Geheimagenten, Feinschmecker, Mörder und Judenhasser namens Simonini, eine durchweg gruselige Gestalt, die dem Autor dazu dient, die historischen und fiktiven Figuren in einem abenteuerlichen Narrativ zu verbinden. Herausgekommen ist ein Mantel-und-Degen-Stück in Geheimdienst- und Fälscherkreisen mit einem bis zur Karikatur überzeichneten Protagonisten. Dadurch hat Ecos Roman einen großen Nachteil: Er ist unerfreulich zu lesen. Trotz gründlicher Recherche, historischer Kenntnis und guter Absicht kann der Autor nicht davon überzeugen, dass die Entstehungsgeschichte der verhängnisvollen »Protokolle« ein solches Schauermärchen gewesen sein soll. Kann man eine Anhäufung von Klischees durch eine andere entkräften? Die Judenhasser werden von Eco aus ihrer Normalität gerissen und auf ähnlich plakative Weise dämonisiert wie die »Ältesten von Zion« in den »Protokollen« – letztlich kommt es zu einer fast sinnlos wirkenden Schlacht der Stereotype.
Vielleicht kann der Roman auch deshalb nicht beeindrucken, weil die Protagonisten ausnahmslos unsympathische, zum Teil abscheu­liche Charaktere sind, die einander betrügen, bespitzeln, verraten, übervorteilen und ermorden, eine Konfiguration, die auf Dauer ebenso langweilig wirkt wie – im anderen Extrem – eine süßliche Seifenoper mit verlogenem Happy End. Eine interessante Erzählung beruht auf der Darstellung der Ambivalenz des Menschlichen, die das Leben kompliziert und faszinierend macht. Ecos Bestiarium schurkischer Figuren erscheint zu einseitig und banal, um die Geschichte glaubhaft machen zu können. Die obsessive Beschäftigung mit dem Bösen ist noch kein Rezept, um einen interessanten Roman zu schreiben. Diese Einsicht verdankt sich Umberto Ecos in der Absicht verdienstvollem, in der literarischen Wirkung bedeutungs­losem Roman.

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag. Hanser,
­München 2011, 520 Seiten, 26 Euro