Ines Geipel im Gespräch über den Osten, seine Opfer und seine Täter

»Ein Nein zu formulieren, ist besser als Dauerschweigen«

Von Ivo Bozic

Die Schriftstellerin und Sachbuchautorin Ines Geipel wurde 1960 in Dresden geboren. Sie war zunächst Leistungssportlerin und setzte sich nach der Wende für die Aufarbeitung des Zwangsdoping-Systems in der DDR ein. Sie ist Mitbegründerin des »Archivs unterdrückter Literatur in der DDR«, Professorin für Deutsche Verssprache an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« und Mitarbeiterin des Hannah-Arendt-Instituts. Demnächst erscheint bei Klett-Cotta ihr Buch »Der Amok-Komplex« über die mentalen Ursprünge von Amokläufen.

Die Band Kraftklub aus Chemnitz wird gerade mächtig von den Medien gehypt. Die jungen Musiker legen Wert darauf, ihre Heimatstadt »Karl-Marx-Stadt« zu nennen, und kreieren eine Art neues ostdeutsches Selbstbewusstsein, eine Ostidentität, die sich weniger auf die DDR, als vielmehr auf das heutige Ostdeutschland bezieht. Ist so etwas überfällig, wie verschiedene Zeitungen behaupten?
Es gibt generell eine starke subkulturelle Szene im Osten. Junge Leute, die wissen, dass sie keine staatliche Kohle mehr bekommen, aber trotzdem mit Kultur leben wollen. Die haben eine andere Lebenshaut als in Hannover, München oder Hamburg. Möglicherweise schiebt sich da jetzt etwas zusammen: Perspektivlosigkeit, Dauerkrise und ostdeutsche Bruchlandschaft. Ob der Destruk­tionstext von Kraftklub da eine Option ist? Keine Ahnung. Die Loser-Attitüde nervt auch ein bisschen.
Sie haben sich intensiv mit Amokläufen, auch dem in Erfurt, beschäftigt und bei Jugendlichen insgesamt sehr viel »Ohnmacht« und »Sprachlosigkeit« ausgemacht. Ist da eine Art neues Selbstbewusstsein »als Ossi« hilfreich oder verstärkt das nicht vielmehr das Abgrenzungs­bedürfnis gegenüber »den Anderen«?
Ist doch okay, wenn man das wie Kraftklub erstmal in so eine Form packt. Eine Band muss auch richtig rumröhren. Ihr Nein ist besser als Dauerschweigen. Blöderweise erinnert es mich stark an die eigene Ohnmacht am Ende der DDR. Wir haben nur geblockt. Rumgehangen, getanzt, viel Liebe gemacht, immerzu Neins getextet. Und dann, wie weiter?
In der Wochenzeitung Freitag wurde diese neue Ostidentität euphorisch als »politischer Prozess der Selbstbehauptung« begrüßt, der mit dem anderer diskriminierter Minderheiten wie Kanak Attak und der Schwulenbewegung vergleichbar sei. Sind ostdeutsche Jugendliche wirklich eine diskriminierte Minderheit? Immerhin treten sie oft genug auch als Täter in Erscheinung, etwa bei rechtsextremer Gewalt.
Eben. Damit bliebe diese Generation im ewigen Opferstatus wie ihre Eltern und der Osten insgesamt. Das geht mir auf den Wecker, dieser selbstauferlegte Infantilismus.
Tatsächlich sieht es kulturell und infrastrukturell in vielen ostdeutschen Regionen ziemlich karg aus. Sind Ostdeutsche benachteiligt?
Natürlich sind sie das. Und da ist noch dazu der große Bruch, der sich 1989 nennt. Aber warum ihn nicht endlich annehmen und was daraus machen? Es gibt auch eine Konstruktive des Schmerzes, wo nichts mehr ist, keine Maskerade, kein Wegmoderieren. Kraftklub ist mir zu larmoyant. Sie warten, dass jemand kommt und sie von ihren »modrigen Matratzen« erlöst. Wer soll das sein? Schon ein Kindermodell, oder?
Es ist aber nicht nur ein Nein, sondern auch ein Ja, nämlich eine Art Oststolz, der da for­muliert wird. Sicher nichts, was als Leitbild gegen die destruktive Kultur der Neonazis wirken könnte.
Komischer Stolz. »Egal, woran es liegt, es liegt nicht an mir«, singen die Kratfklub-Jungs. Das ist weder neu noch originell. Man könnte ja auch mal über den eigenen Tellerrand schauen und in die Welt ziehen. Die Kraftklub-Texte erzählen von einer aberwitzig kleinen Welt. Vielleicht ist das ihre Stärke.
So benachteiligt der Osten gegenüber dem Westen noch sein mag, es geht der Mehrheit der Menschen im Osten doch wirtschaftlich sehr viel besser als in der DDR. Und auch das kulturelle Angebot im Osten ist trotz allem wesentlich größer und besser als vor der Wende.
Da gibt es so viel Schredder und Verschiebung zwischen Ost und West. Mein Eindruck ist, dass der Osten insbesondere mit der rauhen Eltern­losigkeit nach 1989 nicht klargekommen ist. Die Haut war ab und dann wurde immer noch nachgelegt, bis zum Wundsein im Inneren. Der Westen hat trotz der Krise noch immer einiges an Schutzhäuten in petto.
Ist deshalb die Gewaltbereitschaft allgemein im Osten höher?
Die DDR war auf sagenhafte Weise brutal: du oder ich, Freund oder Feind. Lehrer wurden ausgebildet, um Kinder zum Hassen zu erziehen. Mit 1989 ging die Ideologie flöten und wurde als Entweder/Oder in Form von Kohle verdienen übersetzt. Ellenbogen hoch und los. Moderates, Faires, Vielheit, echt Offenes? Nö. Was ist das? Wozu? Kurzum: Der Osten hat sich bis heute nicht von seinen faschistoiden Strukturen freimachen können. Das ergibt zwangsläufig Gewalt und wird in dieser Traumagesellschaft ziemlich rüde ausagiert.
Sie selbst sind in einem sehr staatsnahen Elternhaus in der DDR aufgewachsen. Inwiefern erkennen sie altes autoritäres Denken von damals bei ostdeutschen Jugendlichen heute wieder?
Die Kraftklub-Jungs beispielsweise sind Jahrgang ’89. Das heißt, sie kriegen volle Pulle zwei ineinandergeschobene Diktaturen ab. Ich meine das Unbewusste, das Schweigen der Generationen, die sie geprägt haben, die Traumata ihrer Eltern, Großeltern, Lehrer. Sie selbst haben jedoch keinerlei eigene Erfahrungen damit, leben im Grunde alles indirekt. Das stelle ich mir nicht lustig vor. Insofern liegt ihr Zorn auf der Hand, müssen ihre Songs erstmal so runtergebrannt klingen. Dabei ist das Ungeklärte, Unbesprochene das eine, die heutige Angstkultur im Osten das andere. So eine Art adaptierte Demokratie, ein Placebo, gespickt mit DDR-Trash, Brutalität, Fascho-Kultur und Depression. Keine Ahnung, wie man das aushält, wenn man jung ist.
Die Bundeskanzlerin und bald wohl auch der Bundespräsident sind aus dem Osten. War die Angst der Ostdeutschen unbegründet, vom Westen »kolonisiert« bzw. überrannt zu werden?
Die beiden Ausnahmewege von Merkel und Gauck sagen immerhin: Es ist möglich, aus den Brüchen was zu machen, sich der eigenen Geschichte zu versichern und Verantwortung zu übernehmen und das über das Eigene hinaus. Man kann da immer schön draufdreschen, aber das muss man selbst erstmal hinkriegen, aus dieser Enge so ins Offene zu gehen. Die beiden haben ja keinen Vertrag unterschrieben, dass sie für jeden Satz zu lieben sind. Viel von der Kritik an ihnen hat in meinen Augen aber auch mit einer speziellen deutschen Neidkultur zu tun. Klar ist der Osten kolonisiert worden, aber er ist doch nicht am Ende. Nach Gauck und Merkel kommt die Mauerkindergeneration. Und wer weiß, was aus der Kraftklub-Generation wird?
Gauck und andere späte Bürgerrechtler stilisieren sich gerne zu Helden. Die meisten aber, die ihr Leben lang in der DDR dissident waren, und nicht erst in der Wendezeit, haben keine Karriere gemacht und sind heute vergessen. Inwiefern gibt es da einen Widerspruch in der Erzählung über die DDR-Opposition?
Warum kann man Gauck nicht Gauck sein lassen? Er weiß, was Schmerz ist. Mit ihm wird es genau aus dem Grund eine Form von Zivilität und denkerischem Kraftklub geben, die in der jetzigen medialen Hysterie fast schon vergessen ist. Ist das nichts? Andererseits haben Sie natürlich recht: Die Erzählung über die Ostopposition ist nicht am Punkt. Reden Sie mit Leuten, die in den frühen fünfziger Jahren in Bautzen oder Waldheim einsaßen, die als Jugendliche in Torgau fast kaputt gegangen sind, die im Osten als Kinder in Heimen oder Bordellen missbraucht wurden, die als Achtjährige im Sport männliche Sexualhormone nehmen mussten, die als Punks oder Skinheads der Willkür ausgesetzt waren, die in Psychiatrien überwinterten oder den abstrusesten Menschenversuchen ausgesetzt waren. Nein, die Härtesubstanz des Ostens ist längst nicht erzählt. Wie denn, von wem denn auch?