Man wird doch noch leugnen dürfen

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Ein 88jähriger Mann, dem von den Gerichten, die sich in vorigen Instanzen mit dem Fall beschäftigt hatten, attestiert worden war, er sei ein »glühender Anhänger des Nationalsozialismus«, hatte in einer Kneipe dem Wirt allerlei Schriften mitgebracht, in denen stand, es habe den Holocaust nie gegeben. Der Wirt zeigte den Nazi an, schließlich steht das Leugnen der historischen Tatsache des Holocausts in Deutschland unter Strafe. Doch das Bundesverfassungsgericht, vor dem der Fall in letzter Instanz verhandelt wurde, entschied anders: Der Mann habe nur seine Meinung gesagt. Zudem habe er ja nicht wissen können, ob der Wirt die mitgebrachten Nazischriften auch wirklich an andere Gäste verteilt. Nicht nur zur Meinungsfreiheit bekannten sich die Verfassungsrichter, anscheinend favorisieren sie auch eine besondere Variante der Devise »Think global, act local«: Verbotene Schriften zu verteilen, ist nicht verboten, wenn der öffentliche Raum nur eine Kneipe ist. Strafbare Äußerungen zu tätigen, ist nicht verboten, wenn man nicht weiß, wo genau diese verbreitet werden.
Der katholische Bischof Richard Williamson etwa, der zur Piusbruderschaft gehört, hatte 2008 in einem Interview mit einem schwedischen Fernsehjournalisten die Existenz von Gaskammern und die Ermordung von sechs Millionen Juden bestritten. Geführt wurde das Interview in einem Priesterseminar bei Regensburg. Ausgestrahlt wurde es zunächst in Schweden, im Anschluss aber nahezu weltweit. Das Strafverfahren gegen Williamson wurde nun vom Oberlandesgericht Nürnberg eingestellt. Denn dem Strafbefehl, den die Regensburger Staatsanwaltschaft durchsetzen wollte, sei nicht zu entnehmen, ob über die schwedische Fernsehausstrahlung hinaus eine Veröffentlichung im Internet, bekanntlich ein weltweites Medium, geplant gewesen sei. Also sei gar nicht sicher, ob die »Meinung« des Herrn Bischof für deutsche Ohren bestimmt gewesen sei oder nur für Schweden, wo Holocaust-Leugnung nicht unter Strafe steht. »Erst die Veröffentlichung in Deutschland, also nicht schon das Geben des Interviews«, heißt es, »kann die Strafbarkeit begründen.«
Was als Meinungsfreiheit gilt, erweist sich als höchstrichterlicher Freibrief für übelste und eigentlich strafbare Handlungen, solange der Täter nur unbedarft genug ist: Wer Schriften verteilt, weiß nicht unbedingt, dass er Schriften verteilt. Wer ein Interview gibt, weiß nicht wirklich, dass es ein Interview ist. Interessant ist, dass das Urteil im Fall des Nazigreises, das ausgerechnet am 9. November gesprochen wurde, mehr als drei Monate lang unbemerkt blieb. Jüngst entdeckt hatte es erst die Süddeutsche Zeitung. Mussten die Richter damit rechnen, dass es wirklich an die Öffentlichkeit gelangt?