Fanny Englard im Gespräch über die iranische Bedrohung und das Gedenken an die Shoa

»Ich muss stark sein gegen den, der mich vernichten will«

Die Chancen, den Iran durch Verhandlungen zur Änderung seiner Atompolitik zu bewegen, sind gering. Die Wahrscheinlichkeit eines israelischen Militärschlags hingegen ist groß. Was heißt dies für Deutschland, das mit dem Iran enge Wirtschaftskontakte, mit Israel aber eine Sonderbeziehung unterhält? Was hat die Erinnerung an die Shoa mit der Irankrise zu tun? Die 1925 in Köln geborenen Fanny Englard gehört als Überlebende der Shoa zum Vorstand der israelischen Organisation Perpetuation of Memory of the Holocaust. Sie wurde am 6. Dezember 1941 als 16jährige von Hamburg nach Riga deportiert und am 8. März 1945 von der Roten Armee befreit. Ihr Vater starb im Warschauer Ghetto, ihre Mutter und ihr zehnjähriger Bruder Arnold wurden gemeinsam mit der Großmutter sowie Tanten und Cousinen in Belzec vergast. Ihre Brüder Leo und Isi wurden im Alter von 15 und 13 Jahren bei Minsk erschossen. Fanny Englard kam 1947 nach Israel und heiratete, wie sie sagt, »um eine neue Familie zu gründen, als Ersatz für die ermordete Familie, die dem Judenhass zum Opfer gefallen war«. Heute wohnt sie in der Nähe von Tel Aviv. 2009 erschien ihr Buch »Vom Waisenhaus zum Jungfernhof. Deportiert von Hamburg nach Riga: Bericht einer Überlebenden«.

In Deutschland gilt der von Teilen der israelischen Regierung erwogene Angriff auf iranische Atomanlagen als »Krieg«. Was halten Sie davon?
Sagen Sie nicht Krieg. Sagen Sie Lebenskampf. Es ist ein Unterschied, ob man einen Krieg führt oder ob man um sein Leben kämpft. Wir haben es mit dem Judenhass von Hitlers islamistischen Erben zu tun. Wenn Israel gegen die angeht, die es auslöschen wollen, ist das nicht Krieg, um andere zu töten, sondern ein Kampf ums Leben.
Gleichwohl stieß in Europa der israelische Militäreinsatz von 2009, der den Raketenbeschuss aus Gaza beenden wollte, auf Kritik.
Wer unseren Überlebenskampf kritisiert, greift uns an. Denn wenn wir angegriffen werden und in Notwehr handeln, sind wir doch keine Kriegsverbrecher. Wir haben »Nie wieder!« geschworen und Israel ist als Staat für unseren Schwur verantwortlich.
In Deutschland bedeutet »Nie wieder!« etwas anders.
Ich weiß. In Deutschland heißt es: »Nie wieder Krieg«. Für uns heißt es: Niemals wieder werden wir erneut wehrlose Opfer des Judenhasses sein. Das müssen auch die Deutschen akzeptieren.
Warum?
Weil sie diejenigen waren, die uns zu Opfern gemacht haben. Die besondere historische Verantwortung verpflichtet die Deutschen, sich für die Verteidigung Israels einzusetzen.
Was bedeutet »einsetzen« in diesem Zusammenhang?
Ich will es so formulieren: Für uns wird keiner in den Kampf ziehen. Das können wir allein. Wichtig aber ist, dass diejenigen, die uns vernichten wollen, wissen, dass Deutschland sich für unsere Existenz verantwortlich fühlt.
Sie haben in einem Brief an Harald Kindermann, den früheren deutschen Botschafter in Israel, stärkere Reaktionen auf Ahmadinejad gefordert und geschrieben: »Deutschland ist uns Überlebenden eine klare Antwort schuldig, die bestätigt, dass Deutschland sich seiner Verantwortung für die Vergangenheit bewusst ist.«
Das ist es, was ich verlange. Die immerwährende Verantwortung für die deutsche Geschichte verpflichtet die Deutschen, für die Zukunft des »Gedenke!« einzutreten. Wer sich dessen nicht bewusst ist, den klage ich als Überlebende an.
Sind Österreicher oder Litauer, deren Vorfahren bei den Massakern mitgemacht haben, nicht auch in dieser Pflicht?
Nein. Diese Verantwortung haben nur die Deutschen. Manchmal rede ich mit Mitarbeitern von »Aktion Sühnezeichen«. Aber man kann doch für das, was passiert ist, nicht sühnen! Es ist passiert. Man kann auch nichts wieder gutmachen. Aber es gibt eine Verpflichtung, die Verantwortung für die Zukunft des »Nie wieder!« zu übernehmen. Das ist die Sühne.
Junge Leute in Deutschland fragen: Warum soll ich diese Verantwortung tragen? Das ist doch alles siebzig Jahre her!
Darauf antworte ich: Wer sich bekennt, Deutscher zu sein, ist nicht schuldig, aber verantwortlich. Denn im Moment, in dem du sagst: »Ich bin Deutscher«, da frage ich gar nicht weiter. In diesem Moment hast du eine Verantwortung für die Vergangenheit.
Das sagen Sie als Überlebende des Holocaust.
Ja.
Und wenn es in Zukunft keine Überlebenden mehr gibt?
Da arbeite ich jetzt doch dran, dass diese Botschaft von Generation zu Generation weitergegeben wird, bis in die Ewigkeit. Sie schreiben es doch auf!
»Kann das nicht irgendwann aufhören?«, könnte man jetzt fragen. »Wir haben schon so lange die Verantwortung getragen … «
Hören Sie: Es geht nicht um eine Verantwortung, die gilt, bis das Kind volljährig ist. Die Verpflichtung »Nie Wieder!« gilt für die Ewigkeit.
Nun gab es auch andere Massaker …
Die Shoa darf man nicht auf andere Ereignisse übertragen. Sie duldet keinen Vergleich.
Vergleichen ist nicht gleichsetzen.
Sobald man die Shoa mit einem anderen Ereignis vergleicht, banalisiert man sie. Solche Vergleiche haben keine Grundlage. Die Shoa war das Schicksal des jüdischen Volkes. Es gab andere Opfer der Nazis, zum Beispiel Zigeuner oder politische Gefangene. Wir sind alle auf demselben Weg in den Tod gegangen – aber nicht aus demselben Grund. Jeder aus einem anderen Grund. Deshalb muss man das auseinanderhalten.
Ich kann das Schicksal der Roma und Sinti mit dem der Juden vergleichen und feststellen …
Nein, nein, nein. Wir sind als Juden vernichtet worden. Bei uns bedeutet koscher: Milch und Fleisch sind auseinanderzuhalten. Genauso müssen auch die Tragödien der Opfer in der Nazizeit auseinandergehalten werden.
Aber Sie sind der Meinung, dass man auch der getöteten Roma und Sinti gedenken sollte?
Ja sicher! Aber nicht als Opfer der Shoa, sondern als Opfer der Nazis. Das darf nicht gleichgestellt werden. Das ist, worauf ich bestehe.
Hoffen Sie denn bei möglichen Militäreinsätzen gegen den Iran auf Solidarität von Deutschland?
Nein. Man sollte in Deutschland aber verstehen, dass Israel vom »Gedenke!« geprägt ist. Die Welt versteht das nicht. Juden mussten immer um ihr Leben kämpfen. Das macht uns anders als andere Völker. Wir haben aus der Shoa gelernt. Das Recht zu leben lassen wir uns nicht noch einmal nehmen. Früher waren wir Exiljuden. Heute sind wir freie Juden. Wenn wir geschlagen werden, schlagen wir zurück. Deshalb reagieren wir stark, wenn wir angegriffen werden. Keiner wird es schaffen, Israel zu überwältigen, weil sich das »Gedenke!« nicht überwältigen lässt.
Ist das eine Hoffnung oder eine Gewissheit?
Eine Gewissheit. Die Erinnerung an die Shoa gibt uns die Kraft, nicht aufzugeben. Immer wenn wir angegriffen werden, kommen Freiwillige vom Ausland, um für Israels Existenz zu kämpfen. Ich muss stark sein gegen den, der mich vernichten will. Wer für sein Überleben kämpft, ist stärker als der, der vernichten will. Wenn es um die nackte Existenz geht, gelten keine Gesetze.
Was erwarten Sie von Deutschland?
Deutschland darf dem fanatischen Islamismus keine freie Bahn lassen. Diese Nazi-Islamisten müssen wissen, dass sie gegen eine dicke Mauer rennen. Es geht nicht um die Verantwortung für die Vergangenheit, sondern um die Verantwortung für die Zukunft. Das ist das, worum ich mich heute bemühe, dass Deutschland sich beim Islamismus mit klarer Stimme zum »Gedenke!« bekennt. Die Neonazis sind dort auch eine Gefahr. Aber heute geht es hauptsächlich um Hitlers islamistische Erben. Wehe, wenn sich Deutschland, Großbritannien oder Frankreich aus Angst dem Hass der Islamisten beugen. Man darf ihnen gegenüber keine Angst zeigen, weil diese, so wie alle Nazis, Feiglinge sind. Sie werden sich nicht offen gegen den stellen, der stärker ist als sie. Auch deshalb muss Israel Stärke zeigen – das ist die Waffe gegen Islamisten.
Meinen Sie, die Nazis waren Feiglinge?
Ja. Gegenüber Alten, Kranken, Schwachen – da waren sie stark. Und das sehe ich auch heute wieder bei den fanatischen antisemitischen Islamisten: Sie sind stark gegen den, der Angst beweist. Man darf sich nicht beugen. Ich befürchte, dass man sich auch in Deutschland vor der Gewalt der Islamisten beugt. Das darf nicht sein.
Was schlagen Sie vor?
Frieden wird es vorerst nicht geben. Denn wo Hass gesät wird, kann man keinen Frieden ernten. Und das ist hier der Fall. Ich kann auf keine Hilfe von außen hoffen, auch nicht von Deutschland, sondern nur auf unser Militär. Früher war ich naiv. 1944 saß ich im Winter im Arbeitslager Sophienwalde und dachte: Wo ist die Stimme der Welt? Die wissen sicher nicht, wo wir sind. Doch die Welt wusste von Auschwitz. Seitdem weiß ich: Wenn ich mich auf die Welt verlasse, bin ich verlassen. Unser Gewissen ist rein. Wir sind der Welt nichts schuldig. Wenn es um unsere Sicherheit geht, können nur wir wissen, was richtig ist. Niemand kann in unserem Namen entscheiden.