Das Leben der Bauern auf der philippinischen Zuckerinsel Negros

Land in Sicht

Seit gut 20 Jahren betreibt die philippinische Regierung eine Landreform. Das Programm könnte die Armut bekämpfen, doch die Umsetzung kommt nur schleppend voran. Ein Besuch bei den Bauern auf der Zuckerinsel Negros.

Enrique Manilug biegt ein paar Grasbüschel zur Seite, fegt mit der Hand Erde von einem zylinderförmigen Stein, der die Aufschrift »AR« trägt, für »agrarian reform«. Der Stein markiert eine Grenze: Das Land links davon gehört Rosita Montañez, der Besitzerin der Hacienda Agueda. Das Land auf der rechten Seite ist Eigentum der Bauern, die früher Pächter oder Arbeiter bei der Familie Montañez waren. Links liegt ein frisch gepflügter Acker, auf dem Zuckerrohr angepflanzt wird, rechts liegt das Feld brach, überwuchert von Unkraut. Obwohl ihnen der philippinische Staat das Land bereits vor zehn Jahren zugesprochen hat, können es die Bauern nicht bewirtschaften. Die Landbesitzer versperren den Zugangsweg, bewaffnete Sicherheitsleute bewachen die Felder. Die zuständige Behörde und die Polizei greifen nur zögerlich ein.
Die Hacienda Agueda, die knapp 100 Hektar große Zuckerrohrplantage, liegt auf Negros, einer Insel in der Region Visayas, im Herzen des philippinischen Inselarchipels. Negros ist die Insel der Zuckerbarone, Zuckerrohr ist nach Reis und Mais das wichtigste landwirtschaftliche Exportprodukt. Auf Negros ist deshalb auch die Landreform der philippinischen Regierung von besonderer Bedeutung. Die Landwirtschaft ist feudalistisch geprägt, die großen Ländereien sind im Besitz weniger einflussreicher Familien wie den Arroyos, den Teves oder eben den Montañez, die oft auch bedeutende Positionen in Politik und Verwaltung inne haben. Zwei Drittel der Zuckerproduktion auf Negros sind in der Hand von fünf Prozent der Landbesitzer. Auf den Plantagen arbeiten Saisonarbeiter und Tagelöhner, deren Lohn zumeist in Reis bezahlt wird. Wird das Land verpachtet, müssen bis zu 75 Prozent der Ernte abgegeben werden. Manchmal leben die Pächterfamilien und Arbeiter schon seit Generationen auf den Haciendas, Schulden, laufende Kredite oder ein kleines Stück Land zur Eigenversorgung binden sie an den »Landlord«.

Dass die Ländereien »Haciendas« genannt werden, ist ein Erbe der spanischen Herrschaft. 300 Jahre lang, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, waren die Philippinen eine spanische Kolonie. Es folgte die Besetzung durch die USA und durch die Japaner während des Zweiten Weltkrieges. 1946 wurden die Philippinen von den USA in die Unabhängigkeit entlassen. In diesem Jahr wurde Rosalina Carreón auf der Hacienda Agueda geboren. Schon ihre Eltern waren sacadas, Arbeiter auf Zuckerrohrfeldern. Carreón sieht man an, dass sie Zuckerarbeiterin ist, vor allem an den ledrigen gefurchten Händen, in die viele Male die scharfen Kanten des Zuckerrohrs geschnitten haben. Sie ist eine kleine, stämmige Frau mit kurzen dunklen Haaren und einer kräftigen Stimme. Eine Kämpferin, eine der ersten Bäuerinnen in der Region, die sich für die Umsetzung der Landreform eingesetzt haben. Carreón hat ihr 65jähriges Leben auf der Hacienda Agueda verbracht. Während dieser Zeit setzten sich fast alle philippinischen Regierungen für die Umverteilung von Land ein.
Das ambitionierte und noch immer laufende Projekt aus dem Jahre 1988 heißt »Comprehensive Agrarian Reform Program« (Carp), sein Ziel ist es, öffentliche und private Landflächen an landlose Bauern zu verteilen. Private Großgrundbesitzer können dafür enteignet werden und erhalten vom Staat eine Entschädigung. Die Bauern müssen im Gegenzug die Entschädigung innerhalb von 30 Jahren in Raten an den Staat zurückzahlen, die Zahlungspflicht kann reduziert werden, wenn die Bauern nicht genügend Geld erwirtschaften. Voraussetzung für die Umverteilung ist, dass die Bauern das Land selbst, als Pächter oder Landarbeiter, bewirtschaftet haben. Die Landumverteilung durch das Carp wird begleitet von ökonomischen Hilfen und Weiterbildungsmaßnahmen für die Bauern, um die eigenständige Bewirtschaftung zu unterstützen.
Damit unterscheidet sich die philippinische Landreform von anderen großen Landreformen der vergangenen Jahrzehnte in nichtkommunistischen Staaten. So hatte die Abkehr von feudalistischen Strukturen etwa in Südafrika, Namibia oder Brasilien in erster Linie das Ziel, den Agrarmarkt zu liberalisieren. Bei diesen marktgestützten Programmen, die von der Weltbank gefördert werden, verkaufen die ursprünglichen Landbesitzer ihre Flächen freiwillig an die Bauern. Die Bauern erhalten vom Staat kaum finanzielle oder organisatorische Hilfe, stattdessen finden immer noch Zwangsenteignungen statt. Das philippinische Carp sollte vor allem auch die Armut bekämpfen und die Kontrolle über das Land und seine Ressourcen demokratisieren.
»Wir haben jeden Tag gearbeitet, aber das Geld hat trotzdem nie gereicht«, sagt Rosalina Carreón, »es wäre vielleicht genug für mich und meinen Mann gewesen, aber nicht für die Kinder.« Die Kinder sind mittlerweile erwachsen, nur Rosalinas Tochter Annerose lebt mit ihrer eigenen dreijährigen Tochter noch auf der Hacienda. Die Geschwister sind nach Manila gegangen – wie so viele Menschen vom Land versuchen sie, sich in der 17-Millionen-Metropole durchzuschlagen, und wie so viele finden sie dort kaum ein Auskommen. Mit einem Hektar Zuckerrohr könnte Carreón die ganze Familie ernähren. Ihr und ihrem Mann stehen sogar zwei Hektar zu. Ob sie Land überhaupt allein bewirtschaften könnten? »Wir würden Arbeiter einstellen«, sagt Carreón zuversichtlich, »es gibt ja genug Leute hier, die Arbeit suchen.«

Noch steht hier das Landrecht jedoch nur auf dem Papier. So wurden zwar mittlerweile 37 Bauern der Hacienda Agueda insgesamt 97 Hektar Land zugesprochen. Doch die ursprünglichen Besitzer wehren sich. Die Montañez versperren die Zugangswege zu den Feldern, immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen mit dem Sicherheitspersonal. Mehrfach haben die Bauern in den vergangenen Jahren Zuckerrohr unter Polizeischutz ausgesät. Die Montañez ließen die Ernte niederbrennen oder rodeten das Zuckerrohr und versuchten, es auf eigenen Namen zu verkaufen. Nun laufen diverse Gerichtsverfahren gegen sie, Ergebnisse gibt es bislang noch keine.
Auf vielen Haciendas in der Region sieht es ähnlich aus. Sicherheitskräfte beschießen die Bambushütten der Bauern, reißen sie nieder oder zünden sie an. Manchmal sind es Bauern, die dem Landbesitzer gegenüber loyal geblieben sind, die die Ernte oder die Häuser zerstören. Immer wieder gibt es Tote und Verletzte, seit 2001 wurden elf Bauern auf Negros getötet. Die örtliche Polizei schaut meist tatenlos zu, das eigens für die Umsetzung der Landreform geschaffene Department of Agrarian Reform (Dar) wirkt machtlos.
Nicht nur der Widerstand der Landbesitzer hält die Reform auf. Das Carp-Gesetz enthält selbst zahlreiche Lücken. So haben zahlreiche Landbesitzer ihre Ländereien anderweitig und ganz legal zu Geld gemacht. Bis 1998 wurden aus rund 70 000 Hektar Agrarfläche Golfplätze, Shopping-Malls oder Geschäftszentren, die dort tätigen Bauern konnten weder weiterarbeiten noch Land erwerben. Überdies ist das Verfahren, um in Besitz von Land zu gelangen, ausgesprochen kompliziert. Wie die Carreóns wurden viele der Bauern erst Jahre nach Inkrafttreten des Carp über ihre Rechte aufgeklärt. Ist der Antrag gestellt, kann es nochmal Jahre dauern, bis die Bauern das Land bewirtschaften können. Das Carp läuft Ende 2014 aus, doch noch sind viele Flächen nicht verteilt. Allein im westlichen Teil von Negros steht noch die Verteilung von 135 000 Hektar Land aus.

Dagegen protestieren die Bauern nun in der Hauptstadt Manila. Vor dem Sitz des Dar haben sich Bauerngruppen aus dem ganzen Land versammelt, am Zaun des Ministeriums erstreckt sich ein aus Planen und Plakaten errichtetes Camp über mehrere hundert Meter. Unter den Planen ist die Luft stickig, den Smog kann man hier beinahe mit Händen greifen, das Dar-Gebäude liegt direkt neben einem sechsspurigen Kreisverkehr. Die Bauern wollen vier Wochen bleiben, mit Demonstrationen und Sitzblockaden ihre Forderungen bekräftigen: »Completion not termination«, also »Umsetzung, nicht Beendigung«.
Eine der einflussreichsten philippinischen Bauernorganisationen ist die Task Force Mapalad (TFM) mit rund 25 000 Mitgliedern in neun der 17 philippinischen Provinzen. Die TFM hat ihr Büro in Quezon City, dem Teil Manilas, in dem die meisten NGOs angesiedelt sind. Es ist ein typisches NGO-Büro, wie man sie in aller Welt findet: An den Wänden reihen sich die Schreibtische mit schwerfälligen Computern, darüber Plakate, Kalender, handschriftliche Terminpläne, auf dem Flipchart steht das Protokoll der letzten Besprechung.
Der Landeskoordinator von TFM, Armando Jarilla, hat etwas Verspätung, die Hitze Manilas steht ihm ins Gesicht geschrieben. Nachdem er seine Laptoptasche abgelegt hat, nimmt er Platz vor einem Ventilator. Jarilla ist studierter Jurist, rede­gewandt und mit langjähriger Erfahrung als NGO-Lobbyist. »Das größte Problem ist immer der fehlende politische Wille«, sagt er. Die derzeitige Regierung unter Präsident Benigno Aquino hat zwar versprochen, die Landumverteilung fortzusetzen, aber das kommt bisher nicht in den Provinzen an. »Die Bürokratie ist schwerfällig, es fehlt an Zusammenarbeit zwischen der Regierung und der Zivilgesellschaft. Und die Landbesitzer haben oft noch einen großen Einfluss auf die lokalen Behörden und Gerichte«, beschreibt er die Situation. Jarilla kritisiert die mangelnde Umsetzung des Programms, das Gesetz selbst beurteilt er jedoch als einen Fortschritt: »Wir betrachten Carp als unseren Erfolg. Die Philippinen sind ein feudaler Staat, der durch die Landbesitzer kontrolliert wird. Aber wir haben eine Landreform, die eine Waffe sein kann, ein Instrument, das wir einsetzen können.«

Nicht alle auf den Philippinen betrachten das Carp als progressives Instrument. Vor allem linke Gruppen wie die maoistische National Democratic Front (NDF) lehnen dessen reformistischen Ansatz ab. Die NDF propagiert die Revolution, statt Carp fordert sie eine entschädigungslose Umverteilung von Land und Ressourcen – allerdings ganz orthodox erst nach der Übernahme der Staatsmacht. Der bewaffnete Arm der Partei, die New People’s Army, unterhält Stützpunkte in den Bergen und liefert sich gelegentliche Scharmützel mit Polizei und Militär. Unter den Bauern finden sich Anhänger und Sympathisanten des NDF, deren Basis die Landbevölkerung bildet. Die Grenzen zwischen den Lagern sind dabei nicht immer klar zu erkennen. Es kommt vor, dass Bauern sich mit der Guerilla verbünden, um ihre Ansprüche durchzusetzen, aber auch, dass Mitglieder des NDF als Sicherheitskräfte für die Landbesitzer arbeiten.
Die meisten Bauern sind in diesem Dickicht von politischen Grundsatzdiskussionen, Machtansprüchen und Gewalt vor allem damit beschäftigt, ihr eigenes Überleben zu sichern. Das Carp bietet hierbei eine greifbare Möglichkeit, um langfristig für stabilere Verhältnisse zu sorgen – vorausgesetzt, die staatlichen Behörden setzen das Programm durch und die Bauern werden vor Übergriffen durch die Landbesitzer geschützt. Da dies oft nicht gewährleistet wird und die Polizei sowie die Gerichte vielfach nicht gewillt oder in der Lage sind, einzugreifen, arbeitet der TFM in Negros seit vier Jahren mit Menschenrechtsaktivisten zusammen.

Das International Peace Observers Network (Ipon) sitzt in Hamburg und unterhält in den Philippinen zwei Büros, eines davon befindet sich in Bacolod auf Negros. Die Beobachter besuchen die Bauern auf den Haciendas, begleiten sie zu Behörden und Gerichten, dokumentieren die Konflikte zwischen Landbesitzern, Staat und Bauern. Ihre Beobachtungen und ihre Kritik tragen sie an die an die zuständigen Behörden weiter und machen sie publik. Im Gegensatz zu Projekten in anderen Ländern, wie etwa der Peace Brigades International, führen die Beobachter des Ipon keine permanente Schutzbegleitung durch, sondern wollen eine internationale Öffentlichkeit schaffen und Druck auf die staatlichen Stellen ausüben.
Jan Pingel war in den vergangenen Jahren mehrere Male in den Philippinen. Der 28jährige hat in Kiel Politik studiert und ist mittlerweile Projektkoordinator von Ipon. Er wohnt und arbeitet in Manila, von dort aus hält er Kontakt zu den beiden Büros der Organisation und betreibt Lobby­arbeit bei den nationalen Behörden. »Wenn Landbesitzer systematisch Gewalt gegen Bauern ausüben und der Staat nicht eingreift, verletzt der Staat seine Schutzpflichten«, sagt er. In die Frage der Landreform wolle sich Ipon zwar nicht einmischen, »aber der philippinische Staat muss die Menschenrechte der Bauern gewährleisten, dazu hat er sich völkerrechtlich verpflichtet«, betont er. Pingel stellt außerdem klar, dass die Gruppe nicht ungebeten hilft: »Wir wollen nicht wie ein Fallschirmspringer einfallen, wir werden nur dann tätig, wenn wir ein Mandat erhalten.«
Die TFM hat 2009 einen Mandatsvertrag mit der Gruppe geschlossen. Seitdem besuchen die Beobachter aus Bacolod regelmäßig die Hacienda Agueda. Die meisten von ihnen sind Deutsche, viele kommen während ihres Studiums. Die jungen Leute in den dunkelblauen Poloshirts mit dem Ipon-Logo fallen auf.
Rosalina Carreón erinnert sich, dass die Sicherheitskräfte der Montañez anfangs sehr verwundert gewesen seien, als die »Fremden« das erste Mal auf die Hacienda kamen: »Sie haben mich gefragt, was die Leute hier machen. Ich habe gesagt, dass die mich hier besuchen, als Friedensbeobachter. Und dass sie auch gerne selbst mit ihnen sprechen können, wenn sie wollten.« Seitdem seien die Sicherheitskräfte vorsichtiger. Carreón lächelt. Die Bauern fühlen sich jetzt sicherer. Aber sie warten weiter darauf, dass das ambitionierte Ziel der philippinischen Landreform für sie Wirklichkeit wird: dass das Land, welches sie jahrzehntelang für einen Hungerlohn bewirtschaftet haben, in ihren Besitz gelangt und sie mit ihrer Arbeit ihre Familien versorgen können. Rosalina Carreón hat diese Hoffnung nicht aufgegeben: »Wenn wir endlich unser Land bekommen, können auch unsere Kinder wieder aus Manila zurückkommen.«