Günter Grass rettet den Weltfrieden

Ein deutscher Maulheld

Günter Grass hat sich schon früher, mit noch frischer Tinte, gegen Israel positioniert. Seine Generation ist den Antisemitismus, der sie geprägt hat, nie wieder losgeworden, weil sie ihn nie analysiert und deshalb auch nicht begriffen hat.

Günter Grass ist eine gequälte Kreatur. Er nimmt sich alles sehr zu Herzen. Vor allem den Weltfrieden. Denn der ist gefährdet. Und wer gefährdet ihn? Ausgerechnet die Israelis, die Günter Grass so mag. Seine eigenen Freunde! Wie oft hat er ihnen ins Gewissen geredet. Es hat einfach nichts genutzt. Unbeirrt fühlen sie sich von Ahmadinejad bedroht, obwohl der doch nur ein »Maulheld« ist, der seine Klappe ein bisschen weit aufreißt, ein Kläffer, der eigentlich gar nichts tut.
Aber jetzt hat es Grass nicht länger ausgehalten. Er hat in der Süddeutschen Zeitung vom 4. April, in El Pais und La Repubblica Zeugnis abgelegt von seinen Qualen, seiner Zerrissenheit. Tief drinnen hat es an ihm genagt. Es musste raus, und nun ist es heraus. Sogar als Gedicht. Jedenfalls sieht es so aus. Es reimt sich zwar nicht, aber es ist umbrochen wie ein Gedicht, und in dem tut Grass majestätisch seine Meinung kund.
»Warum schweige ich, verschweige zu lange«, hebt Grass an. Keine Ahnung, denke ich mir, aber vielleicht rückt er ja jetzt mal mit der Sprache raus, warum er so lange seine Vergangenheit bei der Waffen-SS verschwiegen hat. Tut er natürlich nicht, aber er wird’s mir ja sowieso gleich verraten. Und so ist es. »Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden? Weil gesagt werden muss, was schon morgen zu spät sein könnte: auch weil wir – als Deutsche belastet genug – Zulieferer des Verbrechens werden könnten, das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre.«

Das hört sich wie in einer Theateraufführung an, in der Laiendarsteller ihr Nichtkönnen durch Schwulst wettzumachen versuchen. Wie sich Grass mit letzter Tinte für den brüchigen Weltfrieden einsetzt, als könnte nur er einen Weltkrieg verhindern, wie ja die Deutschen sowieso Meister in der Verhinderung von Weltkriegen sind, das hat schon etwas Absurdes an sich. Grass benimmt sich wie der klassische »Bewährungshelfer«, der darauf achtet, dass die »Opfer nicht rückfällig werden« (Wolfgang Pohrt). Die Israelis sollen einfach schön stillhalten, wenn Ahmadinejad das Land auslöschen wird, wie der es immer wieder ankündigt.
»Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes, dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, empfinde ich als belastende Lüge und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, sobald er missachtet wird: das Verdikt ›Antisemitismus‹ ist geläufig.« Nun ist es aber nicht so, dass Grass bisher aus seinem Herzen eine Mördergrube gemacht hätte. Schon im Oktober 2001 sagte er in einem Interview mit Spiegel Online: »Israel muss nicht nur die besetzten Gebiete räumen. Auch die Besitznahme palästinensischen Bodens und seine israelische Besiedlung ist eine kriminelle Handlung. Das muss nicht nur aufhören, sondern rückgängig gemacht werden. Sonst kehrt dort kein Frieden ein.« Klar, am besten zieht sich Israel aus Israel zurück, denn irgendwie haben die Israelis dort gar nichts verloren. Grass spricht Israel nicht nur das Existenzrecht ab, er hat auch seine Freunde dort unter genaue Beobachtung genommen, denn keine »kriminelle Handlung« ist schlimmer als eine von den Israelis begangene, schließlich hatten die lange genug Gelegenheit, aus dem zu lernen, was ihnen die Deutschen angetan haben. Und genau das ärgert Grass, dass die Israelis nicht aus der Geschichte gelernt haben.
Und noch früher, nämlich bereits 1971, schrieb Günter Grass: »So hat Israel durch die schleichende Annexion der besetzten Gebiete den arabischen Staaten den Vorwand für deren Angriffe geliefert.« Grass ließ also nichts unversucht, um aus den Juden gute Menschen zu machen. Dazu muss man ihnen eben auch mal die Ohren langziehen, wenn sie nicht auf den Volkserzieher Grass hören wollen, der den Israelis im Oktober 2001 ins Gewissen redete: »Es ist für mich auch ein Freundschaftsbeweis Israel gegenüber, dass ich es mir erlaube, das Land zu kritisieren – weil ich ihm helfen will … Solche Kritik aber zu kritisieren – damit muss man aufhören … dieses Auge um Auge, Zahn um Zahn der gegenwärtigen Politik schaukelt allen Zorn nur noch weiter hoch.«

In einem Interview mit Tom Segev für Haaretz anlässlich des Erscheinens seines Zwiebelbuches in Israel breitete Grass seine Sicht auf den Holocaust aus, der zwar einzigartig sei, aber auch wiederum nicht sooo einzigartig: »Aber der Wahnsinn und die Verbrechen fanden nicht nur ihren Ausdruck im Holocaust und hörten nicht mit dem Kriegsende auf. Von acht Millionen deutschen Soldaten, die von den Russen gefangen genommen wurden, haben vielleicht zwei Millionen überlebt, und der ganze Rest wurde liquidiert … Wir tragen die Verantwortung für die Verbrechen der Nazis, aber ihre Verbrechen fügten auch den Deutschen schlimme Katastrophen zu, und so wurden sie zu Opfern.«
Der Historiker Peter Jahn hat in der Süddeutschen Zeitung auf die Fakten hingewiesen und darauf, dass es sich hier wohl um ein Ressentiment handele. Statt acht gerieten nur rund drei Millionen deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft. Zwischen 25 und 30 Prozent, also eine knappe Million, hat sie nicht überlebt. Diese Kriegsgefangenen wurden jedoch mitnichten liquidiert, sondern starben an Mangelernährung. Der Hunger wurde allerdings nicht wie bei den Nazis vorsätzlich als Methode zur Ausrottung eingesetzt. Es gab schlicht nichts zu essen, worunter die normale Bevölkerung genauso zu leiden hatte wie die Kriegsgefangenen.
Nun hat Grass schon alle Preise eingesackt, weshalb er für dieses tapfere Statement leer ausging. Früher aber hätte er einen Orden für Tapferkeit vor dem Feind bekommen, jedenfalls gibt ihm die Mehrheit der Deutschen recht. Und wenn die Zahlen schon nicht stimmen, die bei Grass zum Vorschein kommende Weltanschauung, dass es eben nicht nur sechs Millionen Juden, sondern auch sechs Millionen Deutsche gewesen seien, die »liquidiert« wurden, weshalb man unterm Strich ja irgendwie quitt ist – diese Weltanschauung also ist durch Grass wieder seriös geworden, sofern man denn Grass als eine seriöse Gestalt sehen will. Eigentlich müsste es nach dieser Äußerung damit vorbei sein, aber wer das glaubt, kennt die Deutschen nicht, bei denen das Ansehen von Grass steigt, je kritischer die Medien über ihn berichten.

Dieser kleine Rückblick belegt also, dass man sich über den neuen antisemitischen Zeitungsbeitrag nicht wundern muss. Öffentlich gut finden Grass nur »Die Linke«, die NPD, Jakob Augstein, ein paar alte Kumpels vom Schriftstellerverband und die Leitartikler der Jungen Welt, die seinen Antisemitismus teilen und es unerträglich finden, dass Israel im Nahen Osten die einzige Demokratie ist und Ahmadinejad noch kein Bundesverdienstkreuz für seine aufklärerischen Kommentare über Israel bekommen hat. Von Frank Schirrmacher bis hin zur Bild musste niemand lange rätseln, was es mit dem »ekelhaften Gedicht« (Marcel Reich-Ranicki) auf sich hat.
Thomas Steinfeld hatte die ihm zu gönnende Aufgabe, in der Süddeutschen Zeitung zu rechtfertigen, warum man Herrn Bräsig veröffentlicht hatte. Steinfeld fiel allerdings auch nichts anderes ein als ein fatalistisches »So ist das, und so ist Günter Grass. Einen anderen gibt es nicht mehr.« Der Literaturkritiker der ARD, Denis Scheck, wollte originell sein, stellte aber nur unter Beweis, dass er nicht mehr alle Schweine im Rennen hat, und meinte, er teile zwar nicht die politischen Ansichten von Grass, freue sich aber, dass ein Gedicht solche lebhaften Reaktionen hervorrufe. Was für ein Gedicht, ließe sich zunächst fragen, um dann zu rätseln, ob der Mann wirklich nicht weiß, dass es keineswegs der Kraft des Gedichts an sich, sondern nur dem Ruf des Autors zu verdanken ist, dass der Blödsinn zum Thema wurde, denn niemand hätte sonst von den Zeilen Notiz genommen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, beharrte Grass in einem Interview mit der ARD mit dem Starrsinn der Altersmeise darauf, dass niemand auf den Inhalt seines Gedichts eingegangen sei. Und dabei hatten sich gerade Schirrmacher und die anderen so viel Mühe gegeben und ihm genau mitgeteilt, was er gemeint hatte, für den Fall, dass er sich darüber im Unklaren war.
Während hierzulande die Sache heiß diskutiert wird, rief der Leitartikel international für einen Literaturnobelpreisträger viel Unverständnis hervor. In Israel wurde der Kommentar vor allem belächelt. Zu offensichtlich ist dort für jeden, dass Grass keine Ahnung hat, dies aber durch Ressentiments kompensiert. In Israel wird der Präventivkrieg sehr kontrovers diskutiert, aber jeder weiß auch, dass die Vernichtungsdrohung nicht etwa von einem »Maulhelden« ausgeht, sondern durchaus ernst zu nehmen ist, denn Israel ist die ideale Projektionsfläche und das perfekte Angriffsziel, um von den innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken, mit denen Ahmadinejad zu kämpfen hat.

Grass’ gequälter Aufruf erwies sich also eher als Rohrkrepierer. Höflich hielt man ihm seine Kenntnislosigkeit bezüglich des Konflikts vor. Aber darum geht es Grass gar nicht. In der Flakhelfergeneration von Günter Grass und Rudolf Augstein, die aus vielen geläuterten Antisemiten besteht, welche die Juden zu ihren besten Freunden zählen, geht es um Insinuation und um Gerücht. Den Antisemitismus, der diese Generation geprägt hat, ist sie nie wieder losgeworden, weil sie ihn nie analysiert und deshalb auch nicht begriffen hat. Diese Leute dachten, sie würden ihn überwinden, indem sie sich formal von ihm distanzieren und sich ordentlich zerknirscht geben. Aber vor allem Grass, der seine »künstlerischen Defizite« durch »einen aufdringlichen Moralismus« (Karl Heinz Bohrer) wettzumachen versuchte, nahm es übel, dass sein Kotau nicht honoriert wurde, dass sich die Israelis nicht nach seiner Vorstellung formen ließen, dass sie nicht die gleichen Lehren aus der Geschichte zogen und nicht dem gleichen Weltfriedensbimmelbammel verpflichtet waren, zu dem man sich im friedlichen Lübeck ganz prima das entsprechende Gewissen machen kann.
Das nahm Grass den Israelis übel, und deshalb belästigt er sie mit seinem »nie zu tilgenden Makel« und beteuert ständig, wie sehr er dem Land »verbunden« sei und verbunden bleiben wolle, um ihm umso deutlicher zu sagen, was es zu tun und lassen hat. Schöner kann Hybris nicht daherkommen, denn sie tut in der Gestalt von Grass so, als wäre sie zerknirschte Demut. Ich will doch nur das Beste für dich, heißt das Argument, mit dem jede Gemeinheit und jeder Verrat legitimiert wird. Spätestens dann sollte man ganz schnell abhauen.