Über den Film »Haus der Sünde«

Geschlossene Anstalt

Der französische Kinofilm »Haus der Sünde« entstand auf Basis einer Recherche der feministischen Historikerin Laure Adler über die Welt der Prostitution. Leider schwelgt Regisseur Bertrand Bonello in voyeuristischen Bildern.

Mehr als eine Stunde vergeht, bevor der Film seinen Schauplatz, das Pariser Edelbordell L’Appolonide, das erste und einzige Mal verlässt. Für die Prostituierten, die gemeinsam mit ihrer Puffmutter Marie-France (Noémi Lvovsky) einen Ausflug aufs Land unternehmen, kommt dieses seltene Ereignis einem Freigang gleich. Man liegt im Gras und badet im See, danach aber geht es wieder zurück in die abgeriegelte Welt des Freudenhauses – eine geschlossene Anstalt, wie der Untertitel des französischen Originals, »souvenirs de la maison close«, deutlich macht.
Es ist das Ende der Belle Epoque, das Jahr 1899, eine Zeit vor dem Umbruch oder, wie es im Film theatralisch heißt, zwischen der »Abenddämmerung des 19. Jahrhunderts« und dem »Morgengrauen des 20. Jahrhunderts«. Für diese Epochenschwelle gibt es zunächst allerdings keinerlei Anhaltspunkte, noch dringt nichts von der äußeren Wirklichkeit in das Bordell, das der französische Regisseur Bertrand Bonello als eine von Raum und Zeit abgelöste Welt entwirft, mit ihren ganz eigenen Gesetzen, ihrer eigenen Geschwindigkeit und Bildlichkeit. Die Handlung entwickelt sich nicht linear, sondern vollzieht in einer trägen, fast traumwandlerischen Dramaturgie immer wieder dieselben Kreisbewegungen. Es gibt Rückblenden, Visionen und Träume, Ellipsen und Wiederholungen, mitunter auch etwas prätentiöse Split-Screens – entleerte Parallelhandlungen, die nichts erzählen, sondern nur zeigen, wie die Zeit herumgebracht wird, mit Sex, Hausarbeit und dem Warten auf das nächste Geschäft. Im Gegensatz zu den Kunden, allesamt vermögende Männer, existiert für die Frauen aber kein Außen; wie an einer Stelle des Films bemerkt wird, dürfen sie das Haus überhaupt nur in Begleitung von Madame oder eines Kunden verlassen, alles andere würde als Straßenprostitution gelten und wäre strafbar. Das Bordell ist also ein Knast, nicht zuletzt, da die Prostituierten bei der Betreiberin hoch verschuldet sind. Zwar gibt es die Hoffnung, dass ein Freier irgendwann die Schulden begleicht, aber die Aussichten auf diesen »Freikauf« stehen schlecht.
Bonello hat sich bei der Recherche für den Film vor allem an Laure Adlers »Les maisons closes 1830–1930« orientiert, einer detaillierten Studie über Freudenhäuser, die unterschiedlichste Quellen zusammenträgt, von Polizeiberichten über gerichtliche Zeugenaussagen bis hin zu literarischen Texten und Tagebüchern von Prostituierten. Die historiographischen und geschlechterpolitischen Intentionen der Autorin – Laure Adler ist Historikerin, Philosophin, Feministin und Mitglied des Mouvement de Libération des Femmes – prägen auch den Film, mischen sich aber auf bizarre Weise mit Bonellos Faible für erlesene Schauwerte. Zunächst ist »Haus der Sünde« (»L’Apollonide«) eine Innenansicht des Bordells aus der Sicht der Frauen. So zeigt der Film all das, was sich dem Zugriff der Kunden entzieht, aber ebenso den Körper betrifft wie der Sex: das Ankleiden, das Sich-Zurechtmachen, die Körperpflege vor und nach dem Geschlechtsakt und die demütigenden Zwangsuntersuchungen durch einen Amtsgynäkologen. Bonello geht es dabei vor allem um die Solidarität unter den Frauen, ihren quasi familiären Zusammenhalt, die Kollektivität. Unter dem Dach, in den bescheidenen Dienstbotenzimmern, teilen sie nicht nur das Bett, sondern auch ihre Sorgen und Hoffnungen, sprechen über ihre Schulden und ihre Kundenbilanz, die Angst vor der Syphilis und über Freier mit krummen Schwänzen. Diese Gemeinschaft ist selbst dann noch funktionsfähig, als eine der Huren, Madeleine, von einem Freier grausam entstellt wird; sie bleibt im Bordell,wenn auch als Hausangestellte.
Indem er die Arbeitsverhältnisse, die ökonomischen Zwänge und den Gesundheitsdiskurs in den Mittelpunkt stellt, versucht Bonello der scheinbar wirklichkeitsentrückten Welt des Bordells einen kritischen Realismus abzugewinnen. Dass die Frauen allesamt niemals Liebe oder Lust erfahren haben, daran lässt der Film keinen Zweifel; es fallen Sätze wie »Ich würde gerne mal ein Bordell für Frauen sehen« oder »Wenn ich hier jemals rauskomme, werde ich nie wieder Liebe machen«. Gleichzeitig aber sind Inszenierung und Setting von einer mitunter surrealistischen Theatralität bestimmt, die das Bordell als Raum männlicher Phantasien und weiblicher Rollenspiele inszeniert – ein Kunde wünscht das mechanisch-leblose Gebaren einer Puppe, ein anderer eine Geisha, die Phantasiejapanisch spricht. Alles ist Pose, betonter Anti-Authentizismus, von der musikalischen Untermalung mit Sechziger-Jahre-Soul bis hin zum räumlichen Konzept. Es gibt zwar eine klare Trennung in drei Stockwerke, unten der prachtvolle Salon, in dem sich die Frauen aufgeputzt präsentieren, ein Stockwerk darüber die Zimmer für die Sexarbeit, auf dem Dachboden die »echten« Schlafzimmer. Doch die samtweichen Texturen und dunklen Farben der Interieurs – gepolsterte Sofas in dunklem Grün, rote Brokatvorhänge, mit tiefschwarzem Samt überzogenen Wände etc. – bringen jede Kontur zum Verschwinden und erschweren damit die räumliche Orientierung, die fließende Atmosphäre saugt alles unterschiedslos auf, Haare, Körper, Stoffe und Haut.
Mit der überspannten Fetischisierung von Oberflächen und Texturen ist der Film zwar von der plumpen Opulenz konventioneller Kostümfilme weit entfernt. Die im Kern angelegte Sozialkritik verliert dadurch jedoch an Schärfe. Vor allem Bonellos ergötzende Blicke auf milchig-weiße Frauenschenkel und seine Vernarrtheit in de Sadesche Dekadenz und Effekte des Unheimlichen lassen sich beim besten Willen nicht mehr einer weiblichen Perspektive zuordnen. Und mit der zum lachenden Narbengesicht entstellten »La femme qui rit«, eine Figur, die Victor Hugos historischem Roman »L’homme qui rit« entlehnt ist und seither einen faszinierenden Weg zurückgelegt hat, von Paul Lenis Verfilmung aus dem Jahr 1928 (mit dem expressionistischen Darsteller Conrad Veidt) bis hin zur »Joker-Figur« in Batman, kippt der Film dann doch sehr offensichtlich in – wenn auch kunstsinnig gestaltete – Exploitation. Der Maskenball anlässlich der Schließung des Bordells gerät zu einem Abgesang auf eine verlorene Zeit – eine regelrechte Melancholieorgie, die in einer Art Heiligsprechung mündet. Die Unverträglichkeit von Voyeurismus, männlich idealisierenden Stereotypen und der Parteinahme für weibliche Kollektivität und Auto­nomie macht Bonellos Film zu einem mitunter recht kruden Werk. Ambivalent bleibt auch das Ende. Das letzte Bild zeigt einen heutigen Straßenstrich, auf dem eine der Prostituierten aus dem L’Appolonide gelandet ist. Schließlich evoziert der Blick auf die Gegenwart der globalisierten Prostitution eine geradezu perverse Nostalgie nach einer »besseren« Form sexueller Ausbeutung. Doch so einfach lassen sich die beiden Ebenen nicht gegeneinander ausspielen. Als reines Phantasiekonstrukt kann sich das Appolonide mit der Realität nicht wirklich messen lassen, es bleibt ein Trugbild.

L’Apollonide (F 2011). Regie: Bertrand Bonello.
Start: 19. April