Einschränkung der Meinungsfreiheit in Tunesien

»Schlimmer als Mord«

Unter dem wachsenden Einfluss des Islamismus mehren sich in Tunesien Eingriffe in die Meinungsfreiheit.

Zu siebeneinhalb Jahren Haft wurden in Tunesien zwei 28jährige Männer verurteilt, deren Vergehen in der Veröffentlichung von Texten und Karikaturen bestehen. Um die Freiheit der Meinungsäußerung ist es im »neuen Tunesien« nach dem Sturz der Diktatur Ben Alis offenkundig noch immer nicht gut bestellt. Auch wenn die islamistische Regierungspartei al-Nahda kürzlich entschieden hat, die Sharia nicht in die neue Verfassung aufzunehmen, mehren sich in Tunesien Prozesse wegen der angeblichen Verletzung religiöser Gefühle.
Das vor zwei Wochen in der Küstenstadt Mahdia ergangene erstinstanzliche Urteil gegen die beiden jungen Männer zeigt jedoch, dass auch ohne die Einführung der Sharia genügend juristische Instrumentarien zur Verfügung stehen, um Sanktionen wegen angeblicher Verletzungen von Moral und Religion durchzusetzen.
Das Urteil gegen Ghazi al-Béji und Jabeur Mejri beruht auf Gesetzen aus der Ära der alten Diktatur. Diese sind so allgemein formuliert, dass sie ganz unterschiedlichen politischen und ideologischen Zwecken dienen können.
Zu je fünf Jahren wurden die beiden nach dem tunesischen Telekommunikationsgesetz wegen »Verbreitung von Publikationen und Schriften, die die öffentliche Ordnung beeinträchtigen und gegen die Moral verstoßen«, verurteilt. Diese gesetzliche Bestimmung diente unter dem alten Regime vor allem der Strafverfolgung politischer Kritiker und Gegner des Regimes. Nach diesem Gesetz wurden etwa der Literaturprofessor und Chef der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT), Hamma Hamami, und der Rechtsanwalt Mohamed Abdou wegen seiner Kritik an Folterpraktiken zu neuneinhalb bzw. dreieinhalb Jahren verurteilt. Gegen den Journalisten Taoufik Ben Brik wurde das Gesetz gleich in mehreren Fällen angewendet. Gegen die beiden 28jährigen wurden außerdem je zwei Jahre Haft wegen »Schädigung von Dritten durch Nutzung der Telekommunikationsmittel« und je sechs Monate Haft wegen »Verstoßes gegen die Moral in Wort und Schrift« verhängt. Der geschädigte Dritte ist nach Ansicht des Gerichts der Anwalt Foued Cheikh al-Zouali, der den Prozess ins Rollen gebracht hat. Er hatte am 2. März Strafanzeige erstattet, angeblich auf Beschwerden von »einfachen Bürgern« hin, nachdem er Karikaturen auf der Facebookseite von Jabeur Mejri gefunden hatte. Der Anwalt erklärte gegenüber Journalisten, die beiden jungen Männer könnten seinetwegen zwar »denken, was sie wollen«, er wolle jedoch »die Verletzung der Gefühle von Anderen durch aktive Handlungen« unterbunden sehen. Dem bekannten tunesischen Weblog Nawaat zufolge hatte der Anwalt an anderer Stelle erklärt, er selbst sei durch das Betrachten der Karikaturen »erniedrigt« worden und habe einen »psychischen Schaden« davongetragen. Al-Zouali erklärte der örtlichen Polizei außerdem, die beiden jungen Männer seien Atheisten, was sie getan hätten, sei »schlimmer als Mord«. Die Polizeibeamten notierten daraufhin in ihre Akten zur Beschreibung der Strafsache: »Anzweifeln der Existenz Gottes, Anzweifeln der Existenz einer Religion namens Islam, Anzweifeln der Existenz des Propheten Mohammed, unter Hinzufügen von Beweisen für den Zweifel durch den Autor.«
Am 28. März fällte das örtliche Gericht sein Urteil. Bis sich die Nachricht verbreitet hatte, vergingen noch mehrere Tage. Manche glaubten zunächst an ein Gerücht. Eine Haftstrafe von sieben Jahren wegen einer Facebook-Karikatur, das erschien vielen zunächst unglaubwürdig.
Dass sie Atheisten sind, bestreiten al-Béji und Mejri nicht, vielmehr bekennen sie sich seit langem dazu, auch auf die Gefahr hin, Ärger mit Arbeitskollegen und Vorgesetzten zu bekommen. Al-Béji, der eigentlich Biochemiker ist, hatte einen Job bei den Verkehrsbetrieben von Tunis. Im März 2011 hatte er ein kleines Buch unter dem Titel »Die Illusion des Islam« verfasst und in seinem Bekanntenkreis verteilt. Er stellte die Schrift auch ins Internet. Schließlich war er der Überzeugung, nach der Revolution gegen das Ben-Ali-Regime sei nun eine neue Ära der Diskussionsfreiheit angebrochen. Der arbeitslose Englischlehrer Mejri schimpfte in Internetforen über seine soziale Situation und stellte satirische Zeichnungen und Kommentare auf seine Facebookseite, etwa eine Schweinsfigur auf der Kaaba in Mekka. Dazu verfasste er Kommentare, die offenbar als Provokation gedacht waren. Er »schwöre nur auf die jüdische Religion«, er »liebe Israel und seinen Premierminister Benjamin Netanyahu«.
Nicht nur al-Zouali und die Staatsorgane wurden daraufhin aktiv. Es kam auch zu Morddrohungen von ortsansässigen Salafisten. Der salafistische Prediger Sheikh Wannasse aus Mahdia erklärte zwar gegenüber der Website Nawaat, er und seine Leute hätten die beiden nicht bedroht. Er fügte aber hinzu, man könne »Muslime, die in ihrem Heiligsten berührt worden sind, nicht dafür kritisieren, wenn sie heftig reagieren«. Es klang wie eine offene Rechtfertigung der Drohungen.
Mejri wurde wegen der Veröffentlichungen verhaftet. Polizisten öffneten die Website während der Vernehmungen. Den Angaben seines Freundes Ghazi al-Béji zufolge sei Mejri auch gefoltert worden. Al-Béji selbst entschloss sich nach der Verhaftung seines Freundes zur Flucht. Er passierte zunächst die Grenze ins Nachbarland Libyen, wich dann nach Algerien aus, wo Angehörige ihm etwas Geld zustellen konnten. Die Vereinten Nationen, die er in seiner Not kontaktierte, reagierten nicht. Er flog in die Türkei und schwamm über den Grenzfluss Evros nach Griechenland. Sein Ziel war die Einreise in die EU, um zu einer in Frankreich lebenden Tante zu flüchten. Zuletzt soll er als »illegaler Einwanderer« in Griechenland in einem besetzten Haus zusammen mit algerischen Migranten gesehen worden sein. Das Urteil gegen ihn erging in Abwesenheit.
Es ist dieser Fall sowie der Fall der bei einer Demonstration von Polizisten verletzten Korrespondentin Julie Schneider, die eine zaghafte Diskussion über die Pressezensur in Tunesien ausgelöst haben.