Die Inflation der Freiheit

Das schönste Kleid

Am 5. Mai, dem Tag, an dem die Niederländer die Befreiung vom Nationalsozialismus feiern, wird Bundespräsident Joachim Gauck in Breda eine Rede halten, um den Holländern zu erklären, was Freiheit ist. Freiheit ist nicht nur Gaucks Lieblingsthema, dennoch gilt für sie, was Karl Kraus von allen Worten sagte: Je näher man sie anschaut, desto ferner schaut sie zurück.

Freiheit ist heute ein Schimpfwort, das anderen um die Ohren haut, wer um jeden Preis die eigene Borniertheit verteidigen möchte. Ich habe die Freiheit zu tun, was ich will, heißt nichts anderes als: Ich bestehe auf meiner Beschränktheit und lasse mich von niemandem in Frage stellen. Wer es dennoch tut, betreibt Freiheitsberaubung, Erpressung, Nötigung, oder wie sonst die herabgesunkenen Begriffe des Rechts lauten, die im alltäglichen Sprachgebrauch längst keine Tatbestände, sondern nur noch verstockte Empfindungen bezeichnen. Mit der Freiheit kann man den Menschen immer kommen, wer sie im Munde führt, darf sich sicher sein, dass seiner Lüge Recht gegeben wird. Jeder billigt jedem jederzeit die Freiheit zu, den Freund zu verraten, den geliebten Menschen im Stich zu lassen und die eigene Klugheit von gestern dem Stumpfsinn von heute preiszugeben.
Wer die Menschen nicht nimmt, wie sie sind, sondern sie daran erinnert, was sie sein könnten, wird als versponnen, arrogant oder übergriffig dem Urteil der Mehrheit überantwortet, die inzwischen tatsächlich fast immer aus 99 Prozent besteht. Der Konsens muss nicht durch Manipulation erst hergestellt werden, sondern reproduziert sich spontan und freiwillig in jedem Kindergarten, jeder Familie und jeder Projektgruppe. So sehr sie alle einander verachten, so einig sind sie sich darin, ihr Recht auf Unbelehrbarkeit zu schützen. Weil die Freiheit ebenso aus der Welt verschwunden ist wie die Unschuld, pocht jeder auf seine Teilhabe am Schuldzusammenhang als letzte Freiheit, auf die niemand verzichten will. Die im Freiheitspathos des frühen Bürgertums noch mitklingende Hoffnung auf eine Welt, welche des Rechts ledig wäre, weil die zu Menschen geworden Individuen es verwirklicht haben, ist depraviert zur Freiheit als Rechtsgut, das jeden zum legitimen Besitzer der eigenen Kläglichkeit macht.

Getilgt wurde jede Erinnerung daran, dass Freiheit ohne Großmut und glückliche Selbstpreisgabe nicht zu denken ist. Sie ist weit eher ein Geschenk, das einem zufällt, als ein Recht, das man besitzt. Das bürgerliche Recht ist die Bedingung ihrer Möglichkeit, aber nicht sie selbst. Die formellen Freiheiten, als deren Träger es die Individuen setzt, bleiben leer, solange die unteilbare Freiheit, auf die sie verweisen, nicht verwirklicht worden ist. Je weniger die Menschen sich jene eine Freiheit auch nur vorzustellen vermögen, welche die partikularen Freiheiten abschafft, indem sie sie einlöst, umso kleinlicher klammern sie sich an die formellen Freiheiten, die in der falschen Gesellschaft Mittel zur Aufrechterhaltung der Unfreiheit sind. Die Meinungsfreiheit gerät zum Vorwand, um den Voluntarismus des eigenen Urteils gegen jeden Widerspruch abzudichten, während die Wahlfreiheit die notwendige Unfreiheit jeder Entscheidung sanktioniert. Gerade aber weil die Sehnsucht nach der unteilbaren Freiheit verkümmert, inflationiert der Freiheitsbegriff.
So kann eine postmoderne Informatikerpartei den Slogan »Freiheit statt Angst« kapern und zur Drohung gegen alle ummünzen, welche sich der angemaßten Meinung widersetzen, die den in Blogs und Foren aggressiv vor sich hinurteilenden Kommunikationsautisten zur letzten Identität geronnen ist. Joachim Gauck indessen, der keine Parteien mehr, sondern nur noch Bürger kennt, erntet mit zünftigen Kalauern wie »Die Tradition der Freiheit ist lang und lebendig im Südwesten« oder »Ich bin sicher, die Mongolen werden sich ihre mühsam errungene Freiheit nicht wieder nehmen lassen« allenfalls in der bürgerlichen Restpresse den verdienten Hohn. Nicht die linken Meinungsmedien nannten seinen Schmonzes beim Namen, sondern die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, als sie in seinen Reden ein »freiheitliches Grundrauschen« vernahm, das »wie ein Tinnitus« alles Denken störe. Wobei die Störung freilich den Kern der Sache ausmacht, die Gauck nur beschwört, während der Aktivbürgermob bereits mit wütender Munterkeit zur Tat schreitet.

Gaucks Freiheitsrhetorik ist nur der Überbau einer Praxis, die längst von jenen exekutiert wird, die das Reden über Freiheit schon immer zu pathetisch und weitschweifig fanden. Statt von Freiheit sprechen sie von Emanzipation, und wo er noch von Werten raunt, treibt es sie zur Handlung. Sie verfügen über keine Fähigkeiten, sondern über Kompetenzen, und haben die sexuelle Libertinage zur Geschlechtergerechtigkeit, die Arbeit zum Projekt und die Gesellschaft zum Netzwerk heruntergebracht. Sie beschwören die Mobilisierung ihrer Anhängerschaft wie Ernst Jünger oder Ernst Niekisch und haben so viel mit der kollektiven Organisierung ihrer selbst zu tun, dass ihnen die einzelnen Menschen, um deren Freiheit es doch gehen soll, ebenso zum Hindernis der emanzipatorischen Sache werden, wie ihnen die Sprache Hindernis der Propaganda ist.
Nicht in Gaucks Freiheitsreden, sondern in der Flugblatt- und Pausenaufsatzflut dieser Sprechautomaten der Emanzipation kommt die falsche Gesellschaft auf der Höhe der Zeit zu sich selbst. So steigt die Anzahl der politischen Aktivisten exponentiell mit der Ohnmacht jedes Einzelnen, die umso großspuriger ihr ureigenes So-und-nicht-anders-Sein verteidigen, je erbärmlicher das Leben ist. Und doch genügt ein Blick in ihre nichts erblickenden Augen und optimistisch verhärmten Gesichter, um zu erkennen, dass gerade sie wie alle sind. Wie alle, die jeden Morgen mit der Zielsicherheit von Untoten einen alles andere als neuen Tag beginnen, um ihn als Somnambule in die Nacht zu verlängern, deren vielstimmiges Schweigen sie mit freudlosem Feiergeräusch übertönen. Man muss sie nur einmal gesehen haben, die sie alle längst nicht allein dem Begriff nach, sondern mit Haut und Haaren entleerte Arbeitskraftsbehälter sind, um zu ermessen, wie es heute um die Freiheit bestellt ist.

Je stärker aber Freiheit dahin tendiert, ein Wort zu sein, dem kaum eine Erfahrung mehr entspricht, desto wichtiger wird Sprache für die Erkenntnis dessen, was Freiheit meinen könnte. Das mal freiheitliche, mal emanzipatorische Rauschen, das alles Reden von Freiheit grundiert, damit sich jeder bei den bekannten Satzbausteinen das Seine vorstellen kann, hat den Gedanken der Unteilbarkeit von Freiheit preisgegeben. Bewahrt wird er nicht in der Phrase, die jeder nach Maßgabe der eigenen Willkür mit beliebigen Projektionen füllen kann, sondern in der spezifischen Erfahrung, in der eben deshalb das Allgemeine aufscheint. Nicht zufällig hat sich Freiheit in den frühen Grundtexten der Kritischen Theorie, in denen das Wort Freiheit nur selten und das Wort Emanzipation fast nirgends fällt, in die vergangenen, aber unverlierbaren Erfahrungen der Kindheit zurückgezogen.
Das mythische Bild, zu dem diese sich in der Erinnerung verdichten, ist das des Feiertags. Der Feiertag unterbricht die lineare Zeit, die ihn hervorgebracht hat, um sie zu öffnen für das Eingedenken an das, worum sie die Menschen bringt. Sein religiöser Gehalt wird überstrahlt von der profanen Erwartung, die er weckt und die das besondere Dogma transzendiert. Walter Benjamin schreibt in der »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« über die letzten Abende vor dem Weihnachtsfest: »Inzwischen stand bereits auf der Veranda der Baum, den meine Mutter insgeheim gekauft und über die Hintertreppe in die Wohnung hatte bringen lassen. Und wunderbarer als alles, was das Kerzenlicht ihm gab, war, wie das nahe sFest in seine Zweige mit jedem Tage dichter sich verspann. In den Höfen begannen die Leierkästen die letzte Frist mit Chorälen zu dehnen. Endlich war sie dennoch verstrichen und einer jener Tage wieder da, an deren frühesten ich mich hier erinnere. In meinem Zimmer wartete ich, bis es sechs werden wollte. Kein Fest des späteren Lebens kennt diese Stunde, die wie ein Pfeil im Herz des Tages zittert. Es war schon dunkel; trotzdem entzündete ich nicht die Lampe, um den Blick nicht von den Fenstern überm Hof zu wenden, hinter denen nun die ersten Kerzen zu sehen waren. Es war von allen Augenblicken, die das Dasein des Weihnachtsbaumes hat, der bänglichste, in dem er Nadeln und Geäst dem Dunkel opfert, um nichts zu sein als nur ein unnahbares und doch nahes Sternbild im trüben Fenster einer Hinterwohnung.«

Die Unabgegoltenheit des Versprechens, an das der Feiertag erinnert, ist in seiner Heimlichkeit und unnahbaren Intimität, in jeder seiner Gesten gegenwärtig, und eben dies macht sein Wunder aus. Weil er nicht Erfüllung, sondern Vergegenwärtigung der unerfüllten Erwartung ist, verleiht die lange Frist bis zum Festtag diesem erst seine Wahrheit. Weil die Erwartung aber stets Erwartung blieb, sind die Tage des Eingedenkens Tage der Verheißung und der Trauer zugleich. Ein Echo dieser Erfahrung findet sich in Adornos Vignetten über das Glück des Logierbesuchs, der dem Kind die Ferne fremden Lebens gegenwärtig macht, oder über die Heimkunft nach den Ferien, wenn dem Kind die elterliche Wohnung neu und festlich daliegt und es sich im Einmaleins der Zimmer zu Hause fühlt, wie es ein ganzes Leben lang nur die Lüge behauptet. Dass nicht anders einmal die Welt, unverändert fast, im stetigen Licht ihres Feiertags erscheinen könnte, ruft zugleich in Erinnerung, was die Sprechautomaten mit ihren Projekten, Mobilisierungen und Netzwerken den Menschen Tag für Tag ausreden: dass sich, damit Freiheit wirklich werde, gar nicht viel ändern muss, sondern bloß alles. Und dass die Revolution, von der daherzureden sie bereits verrät, nicht Ergebnis schweißtreibender Arbeit oder zäher Agitation wäre, sondern die Sache einer einzigen, langen Minute, in der allein geschehen kann, was in Hunderten Jahren nicht gelingt.
Warum auch sollte ausgerechnet das Ereignis, dessen einziger Zweck darin besteht, dass fortan alle Menschen ganz viel Zeit und keine Angst mehr haben, ihnen die Lebenszeit rauben. »Stell dir vor, das Leben wär einfach/und wir hätten ganz viel Zeit./Ich hätte mein schönstes Hemd an/und du dein schönstes Kleid./Würden wir dann zufrieden sein/vor lauter Liebe und Glück?/Würden wir uns alles geben/oder hielten wir etwas zurück?/Stell dir vor, das Leben wär einfach/und wir könnten uns einfach freuen./Dann wäre es sicher ganz einfach für dich,/die Prinzessin der Freiheit zu sein«, heißt es in einem kleinen Liebes- oder vielleicht auch Kinderlied des gebürtigen Niederländers Funny van Dannen, dessen unironische Naivität und zarte Vorsicht der Ahnung dessen, was Freiheit meinen könnte, den einzig gemäßen Ausdruck verleiht.
Im Bild des Feiertags ist die Erinnerung daran bewahrt, dass Freiheit keine Belohnung ist, die den Menschen nach endloser Plackerei für die gute Sache zukommt, sondern der wahr gewordene Kindertraum, schon am nächsten Tage werde alles gut. Erst wenn alle eines schönen Morgens unbeschwert erwachen, um in ihren schönsten Kleidern den ersten Tag der Menschheit als ersten Tag des eigenen Lebens zu begrüßen, werden alle wissen, dass es geglückt ist.