Die Debatte über die Fußball-EM in der Ukraine

Sport, Boykott und Politik

Die Debatte über einen Boykott der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine geht am Wesentlichen vorbei: Sport ist per se politisch, und das ist auch kein Missstand.

Angela Merkel, immerhin das scheint festzustehen, wird am 1. Juli um 20.45 Uhr nicht in Kiew weilen. Auch nicht, wenn die Auswahlmannschaft des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) dann und dort das Finale um die Europameisterschaft erreicht haben sollte. Ebenfalls nicht anreisen werden die Mitglieder der EU-Kommission, und von den Teilnehmern der Talkshow »Maybrit Illner« erging die Aufforderung, auch die Fans mögen doch bitte die Ukraine meiden, wenn sie nun gemeinsam mit Polen die EM ausrichtet.
In der Republik wird diskutiert: Soll die politische Prominenz in die Ukraine reisen, um sich dort in den Stadionlogen die Spiele der DFB-Elf anzuschauen? Soll die EM ganz nach Polen verlegt werden? Oder sollen die in der Ukraine vorgesehenen Spiele besser in Deutschland stattfinden? Sollen die Nationalspieler sich politisch äußern? Sollen sie orangefarbene Schals oder Armbänder tragen, sich mit der inhaftierten frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko solidarisieren? Wollen und können und dürfen die Spieler das überhaupt? Und hat Sport überhaupt etwas mit Politik zu tun?
Tja. Was könnte wohl eine Veranstaltung mit Politik zu tun haben, die von zwei Staaten und deren Fußballbünden organisiert wird? Ein Spektakel, das finanziert wird von multinationalen Konzernen und aus den jeweiligen Staatshaushalten (allein in der Ukraine sollen die Kosten etwa zehn Milliarden Euro betragen)? Ein drei Wochen andauerndes Sportereignis, bei dem jedes der 31 Spiele (gemäß der offiziellen Zahlen der EM 2008) von mindestens 155 Millionen Menschen verfolgt wird (allein in Deutschland fand das EM-Finale 2008 28 Millionen Zuschauer)? Ein Megaevent, für das nicht nur die Infrastruktur modernisiert, sondern auch der Polizeiapparat aufgerüstet und die ihn beengendenden Gesetze passend umformuliert werden?
Die Antwort auf diese Fragen ist eindeutig: Unpolitisch ist der Fußball nicht. Doch was aus diesem Befund folgt, ist leider weniger klar. Der Hauptteil der Forderungen, wie mit der Fußball-EM in der Ukraine umzugehen sei, ist ja nicht nur von dem prinzipiell sympathischen Willen getragen, eine Diktatur zu schwächen oder zu demokratischen Reformen zu bewirken. Es kommen beinahe immer zwei Elemente hinzu: erstens die Forderung, die Sportler sollten sich nicht irgendwie äußern, sondern quasi die offizielle Linie der Bundesregierung vertreten. Und zweitens: Nur unter den Bedingungen einer westlich-liberalen Demokratie sei der Sport noch wirklicher Sport, frei von jeder Einschränkung.
Dass sich Spieler, Funktionäre und die übrige Sportöffentlichkeit klar mit der EU-Mehrheitsmeinung, namentlich der deutschen Position iden­tifizieren sollen, hat Uli Hoeneß, Präsident von Bayern München, so formuliert: Die Nationalmannschaftsspieler sollten sich mit der inhaftierten ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko solidarisieren – »sie würden damit Größe zeigen«. Renate Künast von den Grünen hat die Idee in die Welt gesetzt, die DFB-Spieler sollten mit orangefarbenen Schals umherlaufen, um ihre Solidarität auszudrücken. Und Philipp Lahm, Kapitän der DFB-Elf, hat – wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung mitteilt –, ehe er dem Spiegel ein Interview gab, mit dem DFB-Präsidenten Wolfgang Niersbach abgesprochen, welche Position er denn da vertreten dürfe. Herausgekommen ist dieser Satz im Interview: »Meine Ansichten zu demokratischen Grundrechten, zu Menschenrechten, zu Fragen wie persön­licher Freiheit oder Pressefreiheit finde ich in der derzeitigen Situation in der Ukraine nicht wieder.« Diesen Satz hätte sich Lahm auch von der Pressestelle des Auswärtigen Amtes formulieren lassen können, und der Verdacht liegt nahe, dass er auch fast jeden anderen Satz zu äußern bereit gewesen wäre – je nachdem, was ihm der DFB, der ja noch nicht mal sein Arbeitgeber ist, diktiert. Mit dem selbstbewusst wahrgenommenen Recht eines Profisportlers, der über ein geschätztes Jahresgehalt von neun Millionen Euro (plus Werbeeinnahmen) verfügt, hat das wenig zu tun.
Die Vorstellung ist folgende: Wenn der Sport organisiert wäre wie in liberalen westlichen Demokratien (kleiner Einwurf: Eine Demokratie ist die Ukraine auch, ihr Präsident Viktor Janukowitsch wurde frei gewählt), dann könnte der Sport wieder Sport sein, dann erst wäre er frei von politischen Einflüssen.

Dass Sport politisch ist, so lässt sich darauf erwidern, ist gar kein Missstand. Es ist, wie in der unmittelbaren politischen Sphäre auch, eine Frage der Inhalte. Es geht nicht darum, Politik aus dem Sport herauszuhalten, sondern darum, den Sport ernst zu nehmen: Er ist eine soziale, politische, kulturelle Veranstaltung; ihn zu betreiben oder als Zuschauer an ihm teilzuhaben, ist ein wichtiges Recht; die Mehrheit der Sportfans wie auch der aktiven Athleten, gerade in Profisportarten, entstammt dem Bevölkerungsteil, den man in anderen Ländern working class nennt; und Sport muss, damit er Sport sein kann (und kein aristokratisches oder großbürgerliches Spektakel zum Verprassen der Revenue), demokratisch und egalitär organisiert sein. Der Sport hat die formelle Gleichheit aller Teilnehmenden zur Voraussetzung: Herr und Knecht, Schwarzer und Weißer, Arm und Reich messen sich, einen Ausschluss aus sozialen Gründen darf es nicht geben. Nur indem alle Menschen am Sport teilnehmen dürfen, kann einigermaßen glaubwürdig ermittelt werden, wer zu Recht den Weltrekord hält, schnellster oder stärkster Mensch der Welt ist.

Sport ist eine, im besten Sinne, bürgerliche Veranstaltung. Er ist Ausdruck eines großen Fortschritts der Menschheitsentwicklung. Das begründet seine Attraktivität, und das macht ihn auch so beliebt, dass er funktionalisiert wird. Das fängt im vorliegenden Fall schon mit der Struktur des Turniers um die Europameisterschaft an: Dass national definierte Kollektive – anders etwa als im durchkapitalisierten Clubfußball, dessen wichtigstes Ereignis das Champions-League-Finale darstellt – gegeneinander antreten, produziert nicht nur unangenehmen Nationalismus. Es wirkt sich auch auf die gegenwärtige Diskussion über die Ukraine aus: Da sind es auf einmal Repräsentanten der sich als zivilisierter definierenden Nationen, allen voran natürlich die Deutschen, die anhand der Causa Timoschenko den Ukrainern eine Lektion erteilen und nebenbei die Polen loben, die da schon weiter sind.
Die Lektion ist paternalistisch und keinesfalls sportlich: Im Sport treffen sich immer die Gleichen und Freien und tragen ihre Konkurrenz aus. Sonst wär’s kein Sport.
Trotz dieser nicht gerade geringen Differenz werden zu Sportveranstaltungen gerne Boykottdiskussionen geführt, die sowohl bei Uno-Vollversammlungen (wenn Herr Ahmadinejad auftritt) als auch bei Weltwirtschaftsgipfeln (wenn es um strategische Interessen in China geht) undenkbar wären. Diese Boykottforderungen sind teils gut begründet (etwa im Falle der en gros gescheiterten Versuche, die Olympischen Spiele 1936 zu boykottieren), teils schlecht begründet (meistens, etwa gegenwärtig im Falle der Ukraine). Immer aber leiden die Boykottforderungen darunter, dass sie den Sport als Objekt missverstehen, als etwas, dessen sich die Politik bedienen dürfte und könnte. Das ist nicht nur unangenehm, sondern auch der tiefere Grund, warum es kein historisches Beispiel dafür gibt, dass ein Sportboykott tatsächlich geholfen hätte.
Es ist vielmehr so, dass die politische Vereinnahmung des Sports gerade dann am besten ­gelingt, wenn er als eine kaum bis gar nicht politische Veranstaltung präsentiert wird. Dann wirkt die besondere politische Integrationskraft, die vom vermeintlich Unpolitischen ausgeht. Seine vielleicht größten politischen Wirkungen, zumindest im Nachkriegsdeutschland, zeitigte der Fußball 1954, als die Nationalelf das »Wunder von Bern« vollbrachte. Der Mythos des »Wir sind wieder wer«, des Wiedereintritts der bundesrepublikanischen Gesellschaft in die sogenannte ­Gemeinschaft der Nationen, hätte vermutlich nie funktioniert, wenn man auch nur den leisesten Verdacht gehabt hätte, dass er politisch erzwungen werden sollte. Entsprechend war – vermutlich noch nicht mal absichtlich – damals im Berner Wankdorfstadion kein Bundespräsident, kein Kanzler und kein Minister anwesend.
Insofern dürfte Angela Merkels vermutlich feststehende Entscheidung, nicht zu einem EM-Finale mit eventueller deutscher Beteiligung am 1. Juli nach Kiew zu fahren, aus ihrer Sicht eine staatspolitische Klugheit bedeuten. Eine Kanzlerin, die bei einem heimischen Public-Viewing-Event gezeigt wird, wie sie mit dem Gros deutscher Frans fraternisiert und vielleicht gar Bier aus einem Plastikbecher trinkt, dürfte größeren poli­tischen Einfluss haben als der legendäre Helmut Kohl, der 1996, nach dem EM-Sieg der DFB-Elf in London, sich in der Kabine deren Trainer Berti Vogts griff und mit seinem massigen Körper fast erdrückte.
Was heißt das? Auch im Fußball zeigt sich, dass es hierzulande an einer selbstbewussten Gesellschaft mangelt. Und auch am europäischen Fußballs zeigt sich, dass Merkel wirklich viel Macht hat. Wenn man das ändern will, sollte man auch den Fußball politisch verstehen.