Frankreichs neuer Präsident

Unter falscher Flagge

Nicolas Sarkozy bestritt den Wahlkampf mit konfrontativen Parolen, doch die Mehrheit entschied sich bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich für François Hollande, der den sozialen Konsens propagiert.

Es ist kurz vor ein Uhr früh am Montag, als der Wahlsieger auf die Bühne tritt, die am Vorabend auf der Pariser Place de la Bastille errichtet wurde. Umgeben von Zehntausenden teils neugierigen, teils jubelnden Menschen meist jüngeren Alters, die sich in einem beängstigenden Gedränge hin und her schieben, lässt François Hollande mit heiserer Stimme einige Allgemeinplätze hören.
Er wolle der Präsident der beiden »J« sein, lässt er wissen, der jeunesse, der Jugend, und der justice, der Gerechtigkeit. Er wolle »für Frankreich arbeiten« und das Land zusammenzuführen, statt es sozial zu spalten, wie es sein Vorgänger Nicolas Sarkozy getan habe. Er werde die Menschen und die Demokratie »respektieren«.
Diese Ankündigung sollte die Distanzierung vom autoritären Führungsstil Sarkozys, aber auch von dem überwiegend als Kampagne gegen Ausländer geführten Wahlkampf betonen, den Sarkozys konservativ-wirtschaftsliberale Regierungspartei UMP in den vergangenen Wochen führte. Entsprechend waren viele Franzosen migrantischer Herkunft, aber auch nicht wenige junge Europäer aus verschiedenen Ländern auf den Bastille-Platz gekommen, zum Teil mit den Fahnen ihrer jeweiligen Herkunftsländer.
So sah man irische, spanische, marokkanische und algerische Fahnen. Am nächsten Tag nahmen die unterschiedliche Fraktionen der politischen Rechten dies zum Anlass für die Fortsetzung ihrer Agitation. Nach der Niederlage bei der Präsidentschaftswahl hoffen sie nunmehr auf die Parlamentswahl am 10. und 17. Juni. Es sei ein Skandal, dass Hollande sich in einem Meer von roten und ausländischen Fahnen dem Publikum gezeigt habe, befanden die bisherige konservative Ministerin Nadine Morano und Louis Aliot vom Front National (FN) unisono. Die altfaschistische Wochenzeitung Rivarol übertraf dies noch und sprach auf ihrer Website von einem »antifranzö­sischen Taumel auf dem Bastille-Platz«.
In Wirklichkeit waren jedoch kaum rote Fahnen zu sehen, sieht man von jener Ecke des Platzes ab, wo sich der Front de gauche traf, jenes linke Bündnis aus ehemaligen Sozialdemokraten und Anhängern der KP, dessen Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon im ersten Wahlgang elf Prozent der Stimmen erhalten hatte. An der Ecke zwischen dem Platz und dem Boulevard Beaumarchais feierten dessen Anhänger mit. Allerdings freuen sie sich eher über die Niederlage Sarkozys, als dass sie Hollande ein Übermaß an Vertrauen entgegenbrächten. »Ab morgen früh sind wir in der Opposition«, sagte der Mélenchon-Wähler Jean-Marie der Jungle World.

Von den vermeintlichen roten Fahnen hatten Sarkozy und seine Unterstützer sich schon in den Wochen zuvor beinahe besessen gezeigt. Nach dem 1. Mai hoben die Anhänger des bisherigen Präsidenten deren angebliche Präsenz auf Demonstrationen hervor. Das Novum lag dabei darin, dass die konservative Rechte erstmals seit Jahrzehnten eine eigene Maidemonstration organisierte. Auf dem Trocadéro-Platz, im großbürgerlichen 16. Pariser Bezirk, trafen sich rund 40 000 Anhänger Sarkozys, viele vornehme Anzüge und Dauerwellen waren zu sehen. Sarkozy nannte dies die Kundgebung »der wahren Arbeit«, also jener, die die Ärmel hochkrempelten und die es seiner Auffassung nach von Sozialschmarotzern und Staatsbediensteten zu unterscheiden gelte. »François Hollande läuft dort unter roten Fahnen mit, während wir uns hier unter blau-weiß-roten Farben versammeln«, sagte Sarkozy.
»Dort«, das war die Gewerkschaftsdemonstration, wo allerdings weder viele rote Fahnen zu sehen waren noch der Kandidat Hollande sich blicken ließ, denn der blieb jeglicher Demons­tration am 1. Mai fern. In seiner Kampfrede bemühte sich Sarkozy um Polarisierung: »Ich sage den Gewerkschaften: Legt eure roten Fahnen nieder und dient Frankreich!«

Das verhalf ihm nicht zum Sieg, doch angesichts seiner scharfen Polemik in der Schlussphase des Wahlkampfs, seiner Politik in den vergangenen Jahren vor allem auf sozialem und steuerpolitischem Gebiet und seiner persönlichen Bilanz erhielt er mit 48,34 Prozent immer noch erstaunlich viele Stimmen. Zumal die beiden nach ihm bestplatzierten Bewerber der Rechten, die beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl kandidiert hatten, nicht für ihn stimmen mochten. Der Oppositionspolitiker François Bayrou, der in Deutschland wohl dem gemäßigten Modernisierungsflügel der CDU angehören würde, erklärte kurz vor der Stichwahl, er werde für François Hollande stimmen, insbesondere, weil Sarkozy »einen verrückten Wettlauf mit der extremen Rechten« eingegangen sei. Den 9,1 Prozent der Wähler, die für ihn gestimmt hatten, gab er jedoch keine ausdrückliche Empfehlung, ebenso wenig wie Marine Le Pen, die doppelt so viele Stimmen erhalten hatte. »Persönlich« kündigte sie jedoch an, bei der Stichwahl ungültig zu stimmen.
Hollandes Sprüche über »Jugend« und »Gerechtigkeit« passen immerhin zur Zusammensetzung seiner Wählerschaft. Bei den Jungwählern unter 30 Jahren lag er deutlich in Führung, er gewann aber auch in allen anderen Altersgruppen, außer bei den über 60jährigen, die mehrheitlich für den Amtsinhaber Nicolas Sarkozy als Personifikation der »Sicherheit« stimmten. Bezüglich der verschiedenen Einkommensgruppen lag Hollande umso deutlicher in Führung, je niedriger die monatlichen Einkünfte ausfallen. Erst ab einem Monatseinkommen von mindestens 4 000 Euro wählte man mehrheitlich Sarkozy.
Vor Nicolas Sarkozy wurde nur ein Präsident der Fünften Republik, nämlich Valéry Giscard d’Estaing im Jahr 1981, nach seiner ersten Amtszeit abgewählt. Allerdings dauerten die Amtsperioden der französischen Präsidenten damals noch sieben Jahre. Einzig Georges Pompidou amtierte noch kürzer als Sarkozy: Er starb nach knapp fünf Jahren im Elysée-Palast an einer Krankheit. Sarkozy kündigte am Montag an, seine politische Karriere zu beenden. Bereits vor fünf Monaten hatte er gesagt, er könne sich ein Leben nach der Politik vorstellen, um dann »richtig Geld zu verdienen«. Das wird Sarkozy vermutlich als Wirtschaftsanwalt oder -funktionär versuchen.

Angesichts der sozialen und ökonomischen Krise hatte die Führung der bürgerlichen Rechten unter Sarkozy sich offenkundig für eine Strategie entschieden, die man unter dem Motto »Ça passe ou ça casse« resümieren könnte: Entweder kommen wir mit einer waghalsigen Strategie durch, oder wir scheitern.
Gegen den auf sozialen Konsens und die Integration von Protestpotential abzielenden Kurs des rechten Sozialdemokraten François Hollande agitierte das konservativ-wirtschaftsliberale Lager mit konfrontativen Parolen. Es spekulierte darauf, dass die Krisenfolgen die Gesellschaft bereits so weit gebracht hätten, etwa eine erhebliche Einschränkung der Gewerkschaftsrechte hinzunehmen. Wenn dies nicht der Fall sei, so kalkulierte die bürgerliche Rechte, werde man lieber in die Opposition gehen und die Sozialdemokratie das schmutzige Geschäft der Krisenverwaltung übernehmen lassen. Falls diese dabei scheitert, kann man in wenigen Jahren wieder die Regierung übernehmen – und zwischendurch die Frage eines Bündnisses mit der extremen Rechten »klären«. Sarkozy hat den FN bereits als »vereinbar mit der Demokratie« eingestuft.
Auf François Hollande lastet also eine schwere Verantwortung, auch für die Zukunft der bürger­lichen Demokratie. Scheitert er, so könnte nach der nächsten Wahl eine Koalitionsregierung von bürgerlichen und extremen Rechten die Regierung übernehmen.