Das Berliner Bildungsprojekt »Campus Rütli«

Mathe statt Breakdance

Auf dem Campus Rütli im Berliner Bezirk Neukölln befinden sich eine Gemeinschaftsschule, zwei Kitas und der Jugendclub Manege. Nun soll sich die Arbeit des Jugendclubs an schulischen Kriterien orientieren.

Berühmt wurde die Rütli-Hauptschule im Berliner Bezirk Neukölln durch einen »Brandbrief«, mit dem sich ihre Lehrer im März 2006 an den Berliner Senat wandten. Das Kollegium forderte die Auflösung der Hauptschule und berichtete von aggressiven Schülern, Attacken auf Lehrer und chaotischen Zuständen im Unterricht. Mittlerweile hat sich einiges verändert, seit 2008 gibt es das Bildungsprojekt »Campus Rütli«. Dabei handelt es sich um den modellhaften Versuch des Bezirks Neukölln, der Bildungsmisere mit einem »ganzheitlichen« Bildungsraum rund um die 1. Gemeinschaftsschule – ein Zusammenschluss aus der einst berüchtigten Rütli-Schule mit einer Real- und einer Grundschule – zu begegnen. Lehrer, Erzieher, Sozialpädagogen und andere Beteiligte sollen dort gemeinsam und gleichberechtigt darauf hinarbeiten, dass »Integration durch Bildung« gelingt.

»Zu Anfang dachten wir wirklich, jetzt bietet sich die Chance, aus der Stagnation auszubrechen, in der die Bildungssituation hier gefangen ist«, beschreibt Wolfgang Janzer, der zurzeit noch Leiter des Jugendclubs Manege auf dem Rütli-Campus ist, den anfänglichen Enthusiasmus für das Bildungsprojekt. Die Zuversicht von Martha Galvis de Janzer und Wolfgang Janzer, dem Leitungs­team der Manege und von deren Träger, dem gemeinnützigen Verein Fusion, ruhte auf der Annahme, der Bezirk würde damit auch ihr Projekt »Jugendstraße« weiterentwickeln: Bereits vor zehn Jahren hatte der Verein die Idee für einen Campus und erarbeitete ein Konzept, das er mit Unterstützung des Quartiersmanagements umsetzte – jedenfalls soweit das Bezirksamt dies zuließ. Die Umgestaltung der vom Verkehr ungenutzten Straße zu einem Sozialraum, der allen anliegenden Einrichtungen und Anwohnern zur Nutzung offensteht, lag für Martha Galvis de Janzer und Wolfgang Janzer schlichtweg »auf der Hand«, als sie den Jugendclub Manege 2002 vom Bezirk übernahmen. Fortan führte die »Jugendstraße« Schulen, Kitas und Anwohner zusammen, um auf eine Verbesserung der damals fatalen Bildungszustände im Neuköllner Reuterkiez hinzuwirken. Es war also kein Wunder, dass der Bezirk Neukölln mit dem Konzept »Campus Rütli« offene Türen einrannte. Nun aber erklärt der Verein Fusion den Ausstieg aus dem Bildungsprojekt, denn seiner Ansicht nach bedeuten die neuen Bedingungen das Ende für eine offene Jugendarbeit mit emanzipatorischem Anspruch.
Entgegen aller Erwartungen beschränken sich die Campus-Investitionen bisher auf die bauliche Anpassung der Schule an den Ganztagsbetrieb. Weder die Förderung pädagogischer Arbeit noch die Mitbestimmung durch die Bildungsakteure sind im Projekt vorgesehen. Die Hoffnung auf ein Ende der Unterfinanzierung musste der Verein Fusion ebenso aufgeben wie die Aussicht auf die Entwicklung und Erprobung innovativer Bildungsansätze »von unten«. Zwar gibt es einen Arbeitskreis zur Entwicklung pädagogischer Konzepte, doch ohne Kompetenzen und Mittel ist den Akteuren kaum mehr möglich als »viel talk, wenig action«, so Janzer.

Was sich für den Jugendclub änderte, war die administrative Anbindung: Nicht mehr die Abteilung Jugend des Bezirksamts Neukölln, sondern die schulische Campus-Verwaltung in der Abteilung Bildung ist von nun an zuständig. Was daraus folgen kann, wenn Einrichtungen nicht mehr »nur« zusammenarbeiten, sondern ihre Autonomie an eine gemeinsame Verwaltungsstruktur abtreten, wurde für Fusion schnell deutlich: Der Einbindung in das Projekt und der erfolgreichen Bildungsarbeit ungeachtet, kündigte die Abteilung Bildung sofort an, die Manege mit Ablauf des Leistungsvertrages Ende Juni neu auszuschreiben. Wer die Einrichtung ab Juli übernimmt, verpflichtet sich nicht mehr nur dem Auftrag der Jugendarbeit, sondern auch dazu, diese in bislang ungekanntem Maße an die Interessen und Strukturen von Schule anzupassen.
Aus den Vorgaben, die der Bezirk im inzwischen eingeleiteten Interessensbekundungsverfahren darlegt, geht dies deutlich hervor: Der Einfluss der Schulverwaltung findet nicht nur in neuen Öffnungszeiten oder dem geforderten speziellen Zuschnitt der Angebote auf die Schüler und Schülerinnen der Gemeinschaftsschule Ausdruck. Auch die inhaltliche Bestimmung dessen, was Jugendarbeit zu leisten habe, trägt eine schulische Handschrift. So hat zum Beispiel die musisch-künstlerische Arbeit, die stets eine anerkannte Stärke des Trägervereins Fusion war, von nun an »komplementären Charakter« zur Schule aufzuweisen und die Unterstützung des sogenannten MINT-Bereichs, bei dem es sich um die Fachrichtungen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik handelt, sei »unabdingbar«. Eine Anpassung der finanziellen Konditionen an die neuen Aufgaben ist nicht vorgesehen, eine Klausel zur Verwendung der Personalmittel erschwert jedoch die Akquise dringend benötigter Zusatzmittel.
Die Abteilung Jugend hätte alle Rechte, diesen fachpolitischen »Übergriff« zu unterbinden, macht davon aber keinen Gebrauch. Den Mitarbeitern und Nutzern der Manege bleibt daher nichts anderes übrig, als die Unabhängigkeit der Jugendarbeit selbst zu verteidigen. Ein erster Schritt in diese Richtung war ein Besuch mit 20 Personen beim Jugendhilfeausschuss, durch den sie die Beteiligung an der Auswahl des neuen Trägers erreichten. Um den hohen Wert unabhängiger Jugendarbeit zu vermitteln und die Tragweite der bezirklichen Entscheidung aufzuzeigen, laden sie am 9. Juni zum Fest »JugendTür Auf!« in die Rütlistraße.

Da mit einer flächendeckenden Einrichtung ähnlicher »Bildungslandschaften« zu rechnen ist, ist der Kampf der jungen Neuköllner und Neuköllnerinnen um Mitbestimmung und eine unabhängige Jugendarbeit über den Jugendclub Manege und den Campus hinaus von Bedeutung. Obwohl die Verfechter kommunaler Bildungspolitik nicht müde werden zu betonen, dass Bildung »mehr als Schule« sei, zeichnet sich ab, dass die Kinder- und Jugendarbeit zur Dienstleisterin der Schule degradiert wird. Dabei besteht der progressive Wert von Jugendarbeit gerade darin, dass sie außerhalb von Regelsystemen und -strukturen steht. Zumal die Bereitstellung kreativer und emanzipativer Angebote zu dem nach wie vor selektierenden Pflichtsystem der Schule in Zeiten einer humankapital- und wettbewerbsfixierten Bildungspolitik eine unverzichtbare Ergänzung darstellt. Will sich Jugendarbeit nicht vereinnahmen lassen, muss sie sich ihre gesellschaftspolitische Relevanz bewusster machen denn je. Das bedeutet auch, »Kooperationsangebote« auszuschlagen, die diesen Anspruch untergraben.
Wolfgang Janzer und Martha Galvis de Janzer haben mit der »Jugendstraße« die Zusammenarbeit zwischen Anwohnern, Schulen, Kitas und Ini­tiativen auf den Weg gebracht, um bessere Bedingungen für die jungen Menschen im Kiez zu schaffen. Im Rahmen des Campus Rütli beenden sie nun ihre Arbeit, da die Fortführung weder mit ihrem professionellen Selbstverständnis vereinbar noch finanzierbar wäre. »Auf der strukturellen Ebene«, so Janzer, »verschwindet dieses kleine Segelboot Manege gegen diesen riesigen Dampfer Schule, der da irgendwo in die falsche Richtung tuckert und riesige Wellen macht.«