Die 13. Documenta in Kassel

Mit Hund und Hitler

»Wahlrecht für Tiere und Obst!« Mit Gaga-Sprüchen wurde die 13. Documenta von ihrer Kuratorin medienwirksam beworben. Vor Ort entpuppt sich die Riesenaussstellung als so vielfältig und verwirrend wie eh und je.

Kamerazoom auf eine Tomate: »Wussten Sie schon, dass das hier Kunst ist, und dass eine ganz normale Erdbeere politische Absichten hat? Ja, bei dieser 13. Documenta ist alles ganz anders.« Natürlich, jede Documenta ist anders als die andere, und so hat auch der Berichterstatter des 3Sat-Kulturmagazins selbstverständlich Recht.
Viel war schon vor der Eröffnung zu hören über das antianthropozentristische Weltbild der Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev, über ihr Eintreten für einen Ökofeminismus und eine »objektorientierte Philosophie«, über ihre Zuneigung zu ihrem Hündchen Darsi sowie zu allen Hunden, Pflanzen und Mineralien dieser Welt. Aussagen mit hohem Gaga-Faktor – »Wir sind auch Tiere! Aus diesem Grund plädiere ich für das Wahlrecht für Hunde«, oder: »Der Grund, warum ich mich mit Tieren beschäftige, ist der Feminismus. Die Frauen wurden über viele Jahrhunderte hin nicht wirklich als Menschen betrachtet. Deshalb ist mein Einsatz für das Hunde­stimmrecht eine Fortsetzung des feministischen Projekts.« – brachten der italienisch-bulgarisch-amerikanischen Kuratorin mit der wuchtigen Lockenmähne viel Häme ein. Aber durch ihre überspitzten, zumeist später wieder abgemilderten Provokationen, die an die Theorien der in der Schau mit einem sogenannten »Wordly House« gewürdigten feministischen Theoretikerin Donna Haraway erinnern, die sich nach ihren Überlegungen zu Cyborgs der »Companion Species« der Hunde zuwandte, bescherten der Kuratorin auch viel Aufmerksamkeit. So viel, dass manche schon murrten, bei dieser Documenta (gerne auch »Dogumenta« genannt), gehe es zu viel um die Kuratorin und zu wenig um die Kunst. Hinzu kam noch der Wirbel um ihr »Konzept der Konzeptlosigkeit« sowie die vehemente Weigerung, im Vorhinein die Namen der Beteiligten bekanntzugeben.
Der Gang durch Kassel, treppab vom Hauptbahnhof, der auch »Kulturbahnhof« ist, durch die Fußgängerzone der deprimierend westdeutschen Stadt in die immer wieder überraschend prächtige, großzügige Parklandschaft der Karls­aue, zeigt schnell: Alles ist anders als erwartet und doch wie immer. Es dauert sehr lange, bis einem der erste Hund begegnet, man kann dem Getier sogar leicht aus dem Weg gehen. Schülerinnen und Studentinnen laufen mit Sandwich-Schildern vor Brust und Rücken durch die Stadt, auf denen tendenziell übergriffige Slogans wie »What are blue balls? They’re lovely«, »I wet my pants« oder »I’ll masturbate later, darling« stehen, die sich bald darauf als Sätze aus den verstörenden privaten Aufzeichnungen der betagten New Yorker Künstlerin Ida Applebroog entpuppen, die im Fridericianum ausgestellt werden. Hinter der Orangerie steigt knatternd ein Hubschrauber kerzengerade in die Luft, um kurz darauf wieder ebenso kerzengerade herabzusinken, das Critical Art Ensemble lässt Besucher im Minutentakt mit dem Hubschrauber abheben, um sie einmal den Blick von oben auf die 99 Prozent da unten einnehmen zu lassen.
Der Eintritt ins Fridericianum, erster Anlaufpunkt und so etwas wie die Zentrale der Documenta, das auch den »The Brain« genannten Raum beherbergt, funktioniert wie eine Schleuse: Dem Regime der permanenten Überforderung durch die Beballerung mit Kunst wird die Wellness der Leere entgegengesetzt. Die Kuratorin hat die großen Hallen im Erdgeschoss fast leer räumen lassen und stattet sie, zu beiden Seiten gespiegelt, mit immateriellen Werken aus, die einen dazu auffordern, die pure Ästhetik des White Cube zu genießen: Ein kühler Lufthauch, inszeniert vom britischen Künstler Ryan Gander, weht durch die Säle links und rechts des Eingangs, in den beiden dahinter liegenden Räumen lässt der Künstler uns das sanfte Rauschen von Laub im Wind hören, und daneben erklingt ein von Ceal Floyer zerschnipselter, sehnsüchtiger Tammy-Wynette-Refrain, von dem nur noch »I’ll just keep on/’til I get it right« als Loop bleibt.
Im »Brain«, das in der Rotunde untergebracht ist, tummeln sich die Kunstwerke, dialogisieren miteinander und treten sich dabei fast auf die Füße. Judith Hopf hat aus Verpackungen Masken gebastelt, die sie zusammen mit Masken ausstellt, die im Mädchenheim des ehemaligen Klosters Breitenau gefertigt wurden. Breitenau, 15 Kilometer südlich von Kassel gelegen, ist ein weiterer Schauplatz der Documenta. Dort befand sich seit Ende des 19. Jahrhunderts eine »Besserungsanstalt« für »Arbeitsscheue«, später diente es als KZ und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wiederum als geschlossenes Heim für »schwer erziehbare Mädchen«. Auf die katastrophalen Zustände dort hatte unter anderem Ulrike Meinhof aufmerksam gemacht.
Neben dieser visuell dezenten Arbeit stehen die spektakulären Fotografien der Amerikanerin Lee Miller, die als »embedded journalist« ins nationalsozialistische Deutschland kam und am Tag von Hitlers Selbstmord ein Bad in der Wanne in seiner verlassenen Münchner Wohnung genommen hat. Das, was die Journalistin am Vormittag in Dachau ansehen musste, hatte sie schwer traumatisiert. Das berühmte Foto von David Sherman zeigt Lee Miller mit unlesbarem Gesichtsausdruck nackt in Hitlers Badewanne, vor der Wanne stehen schwere Schnürstiefel, am Wannenrand lehnt ein Bild Hitlers. Das Bild wirkt auf unheimliche Weise faszinierend, man fragt sich jedoch, was man davon halten soll, dass dieses Foto neben einer Puderdose von Eva Braun sowie einem Handtuch mit den Initialen »A.H.« platziert wurde und welche Bedeutung die Kuratorin diesem Arrangement in der Reihe von Arbeiten zum Thema Gewalt und Zerstörung zukommen lassen will. Die Kuratorin hat sich bekanntlich immer wieder mit den Themen »Konflikt und Kunst, Trauma und die Kunst des Heilens« auseinandergesetzt.
So warnen die bis dato kaum bekannten Wandteppiche der schwedischen Kommunistin Hannah Ryggen aus den dreißiger Jahren in scheinbar naivem Expressionismus vor dem Aufstieg des Faschismus. Sanja Iveković zeigt das Foto eines in Kassel von den Nazis anstelle von »widerständigen Staatsbürgern« eingesperrten und verhöhnten Esels, das die Künstlerin mit Stofftier­eseln mit Namen wie Antonio Gramsci, Mirabal Sisters, Steve Biko oder Paul Celan umgibt. Emily Jacir beschäftigt sich in seiner Arbeit »ex libris« mit 1949 von »Israel in palästinensischen Wohnungen geplünderten Büchern«. Rabih Mroué aus Beirut zeigt unscharfe Fotos, die syrische Demonstranten kurz vor ihrem Tod mit ihren Mobiltelefonen von ihren Mördern aufgenommen haben. Der kambodschanische Künstler Sopheap Pich zeigt in seinem Gemälde ein Verhör seines inzwischen verstorbenen Landsmanns Vann Nath, der im Folterknast der Roten Khmer nur überlebt hatte, weil er Bilder von Pol Pot malen konnte. Michael Rakowitz bringt die Zerstörung von Büchern des Fridericianum durch die Bombardierung des Gebäudes 1941 mit der Zerstörung der afghanischen Buddha-Statuen durch die Taliban 2001 in Verbindung.
Auch wenn es grundsätzlich ehrenhaft ist, die Auswirkungen verschiedenster Formen gewaltsamer Konflikte künstlerisch zu thematisieren, stellt sich doch bald ein Gefühl der Nivellierung ein: Dass alle irgendwie Opfer sind und daher auch alles irgendwie gleich schlimm ist, und dass mit der Kunst wirklich allen zu ihrem Recht verholfen werden könne.
Christov-Bakargiev hat zu Recht betont, sie sei keine Politikerin und habe keine konkreten Lösungsangebote. Doch ein paar Therapieangebote hat sie doch im Programm: In der Neuen Galerie bietet die Amerikanerin Susan Hiller in der »Die Gedanken sind frei« betitelten Jukebox 100 Protestlieder, der Australier Stuart Ringholt gibt mit »Anger Workshops« die Möglichkeit, sich in einem abgeschlossenen Raum zu aggressiver Technomusik den Frust von der Seele zu schreien, um sich danach bei Mozart in die Arme zu fallen, und der Mexikaner Pedro Reyes befreit in einem Pavillon in der Karlsaue mit seinen Studenten geplagte Städter »ganz unkonventionell« von Krankheiten wie Stress, Einsamkeit oder Angst.
Da steht also die spektakulär spaßige Kunst neben der diskursiv dokumentarischen, und auch ganz simpel Spektakuläres wird gezeigt, wie Thomas Bayrles zweckfreie Brumm-Brumm-Motoren, die nach Gebeten benannt sind, oder schlicht schöne Bilder wie die bunten Interpretationen des kalifornischen Berges Mount Tamalpaïs von Etel Adnan. Und natürlich eine Vielzahl von spannenden Arbeiten, die dank der Konzeptlosigkeit des Konzeptes sich allen Kategorien entziehen dürfen. Denn ob mit oder ohne Hund: In der Wundertüte ist am Ende für alle was drin.