Über den Bürgermob von Insel, Sachsen-Anhalt

Insel des Volkszorns

In einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt finden seit rund einem Jahr Proteste der Bevölkerung gegen zwei aus der Sicherungsverwahrung entlassene Sexualstraftäter statt. Inzwischen nehmen sie pogromartige Züge an. Neonazis nutzen die ressentimentgeladene Stimmung für ihre Propaganda.

»Wir nennen unser Dorf mittlerweile Fort Knox«, sagt eine Anwohnerin, die ihren Namen nicht nennen möchte. »Als ich gestern in der Früh zur Post wollte, musste ich durch zwei Polizeikontrollen.« Sie übertreibt nicht, denn im kleinen Dorf Insel in Sachsen-Anhalt, wo rund 450 Einwohner leben, herrscht Ausnahmezustand.
Allein an diesem Freitag haben sich rund 1 000 Polizisten in Uniform und Zivil versammelt. Es kommen also zwei Polizisten auf einen »Inselaner«. Jede Einfahrt ist abgesperrt, glatzköpfige und muskelbepackte Zivilpolizisten brettern mit ihren BMW durch die kleinen Gassen. »Ich kann nach Feierabend ja nicht mal mein Bier auf der Straße trinken, ohne von der Polizei schräg angeschaut zu werden«, fügt ein Nachbar hinzu.
Ursache dieser außergewöhnlichen staatlichen Intervention waren die Reaktionen der Bewohnerinnen und Bewohner auf die Anwesenheit von zwei ehemaligen Sexualstraftätern, Hans-Peter W. und Günther G., im Dorf, die im Juli 2011 nach ihrer Entlassung aus der Sicherungsverwahrung nach Insel gezogen waren (Jungle World, 39/11).
Ein Jahr zuvor hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die nachträgliche Sicherungsverwahrung für unrechtsmäßig erklärt. Bald nach dem Zuzug der beiden Männer bildete sich in Insel eine Bürgerinitiative, die forderte, sie sollte das Dorf verlassen, auch der Bürgermeister, Alexander von Bismarck, organisierte gegen die Anwesenheit der Männer gerichtete Unterschriften Kampagne. Diese »Triebtäter« wolle man im eigenen »friedlichen« Dorf nicht haben, so der Tenor der Proteste. Schnell waren bei den wöchentlich im Ort stattfindenden Demonstrationen auch drastischere Forderungen zu hören, vom erneuten »Wegsperren« bis hin zur Todesstrafe.

In diesem dörflichen Mikrokosmos finden sich alle Ressentiments aus der bundesdeutschen Diskussion über den Umgang mit ehemaligen Straftätern wieder. Es verwundert daher kaum, dass sich die örtliche NPD und Kameradschaften die Gelegenheit nicht entgehen ließen, sich immer mehr unter die Demonstranten zu mischen, um sich der Ängste der »besorgten Bürger« anzunehmen. Erst im März dieses Jahres kam es zu Protesten von Antifaschisten aus der Region gegen die zunehmende Präsenz von Neonazis im Ort und gegen den Umgang der Dorbewohner mit den beiden ehemaligen Sexualstraftätern.
Die Situation eskalierte am ersten Wochenende im Juni, als ein Mob aus Anwohnern und angereisten Neonazis versuchte, das Haus, in dem die beiden Männer wohnen, zu stürmen. Die Polizei hatte sichtlich Mühe, die Angreifer zurückzudrängen, konnte jedoch verhindern, dass sie das Haus erreichten.
Nach diesem vorläufigen Höhepunkt haben die Landespolitker offenbar begriffen, dass aus dem »Bürgerprotest« schnell ein Pogrom werden kann. Vertreter der Landesregierung sahen sich dazu gezwungen, zumindest symbolisch in den Streit einzugreifen, und kündigten eine Protestaktion vor Ort an. Landtagspräsident Detlef Gürth reiste am Freitag voriger Woche mit rund 70 Landtagsabgeordneten nach Insel, um, wie er in einem Interview sagte, ein »Signal für die Menschenrechte« zu setzen.
Am Freitag versammeln sich die Abgeordneten auf dem zentralen Dorfplatz hinter einem Transparent mit dem Schriftzug: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. In ihren Reden erinnern die Politiker an die »Werte der Verfassung« und daran, dass sich die Grundrechte in diesem Land »durch niemanden, zu keiner Zeit, an keinem Ort, in Frage stellen« ließen, wie der Landtagspräsident betont.
Trotz der markigen Worte erscheint die Veranstaltung wie eine Farce: So sind neben den Landtagsabgeordneten und viele Journalisten nur wenige Einwohner vor Ort. Einzig die Anwesenheit von gut zwei Dutzend linken Aktivisten sorgt für etwas Unruhe. Mit dem Transparent »Gegen den Volksmob, seine Apologeten und Aufstachler« sowie mit Flugblättern versuchen sie, auf die Kooperation zwischen Innenministerium, Bürgermeister und den Organisatoren der reaktionären Proteste hinzuweisen. Doch weil auf dem Transparent auch die Konterfeis des sachsen-anhaltischen Innenministers Holger Stahlknecht sowie von Bürgermeister von Bismarck zu sehen sind, greift die Polizei wegen »Ehrbeleidigung« schnell ein – und drängt die Gruppe vom eigentlichen Demonstrationsort auf die Straßenseite.
Mitglieder der anwesenden AK Antifa Magdeburg sieht die Präsenz der Landtagsabgeordneten dennoch als notwendiges Zeichen: »Die Aktion des Landtages von Sachsen-Anhalt war richtig und notwendig. Es geht eben ja auch um ihre Wählerinnen und Wähler, und auch die häufige Präsenz von einzelnen Landtagsabgeordneten der Grünen hat geholfen, eine strikte Distanzierung zu Nazis durchzusetzen«, meinen Vertreter der Gruppe.
Die Auswirkung der Aktion der Parlamentarier schätzt die Gruppe allerdings pessimistischer ein: »Inwieweit sich damit ein mangelndes Demokratieverständnis und ein genereller Unwille der Bewohner, die Reintegration der beiden Männer zu ermöglichen, bekämpfen lässt, ist fraglich.«

Während die Landespolitiker auf dem Dorfplatz demonstrierten, stellte der Bürgermeister sein Privatgrundstück, das Schloss im Nachbarort Döbbelin, für eine Versammlung der Anwohner von Insel zur Verfügung. »Es ist ein informelles Treffen für die Inselaner, damit die mal in Ruhe über Lösungsmöglichkeiten reden können«, sagt von Bismarck, in der Einfahrt des Schlosses stehend, »dafür habe ich gerne mein Schloss geöffnet«. Presse ist beim Treffen allerdings nicht erwünscht.
Im Gespräch kritisiert der Bürgermeister die gleichzeitig stattfindende »Show« der Landtagsabgeordneten scharf: »Sie haben uns und meine Initiative die ganze Zeit ignoriert oder Lügen über uns verbreitet. Jetzt müssen die sich nicht wundern, wenn die Insulaner deren Veranstaltung boykottieren.«
Dass von Bismarck jedoch maßgeblich an der Eskalation der Lage beteiligt war und sogar eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung und Nötigung gegen ihn gestellt wurde, verschweigt er geflissentlich. Stattdessen kommt er schnell auf sein Demokratieverständnis zu sprechen: »Man hätte das alles ja ganz anders angehen müssen. Da hätten die wichtigen Abgeordneten mal vorbeischauen müssen und man hätte das Ganze bei einem Bier in einer Männerrunde oder so doch leicht klären können.«
Auch die Anwesenheit von Neonazis bei den Protesten scheint ihn nicht weiter zu stören, im Gegenteil: »Man muss ja sagen, dass durch die Anwesenheit der Rechten ja jetzt erst endlich was passiert ist.« Doch der Bürgermeister zeigt kaum Interesse daran, eine Lösung zu finden, die den beiden Männern ermöglicht, im Dorf zu bleiben: »Man könnte ja zum Beispiel die beiden für zwei Monate oder so zurück zu Herrn von Cramm schicken, damit sich die Situation erstmal beruhigt, und dann schauen wir weiter.« Edgar von Cramm, ein Tierarzt aus Freiburg, der die Wellensittiche von einem der beiden Männer während dessen Haft in der JVA Freiburg behandelte, hatte den beiden Männern sein von ihm geerbtes, leer stehendes Haus in Insel zur Verfügung gestellt, da sie in anderen Orten wegen ihrer Vorgeschichte keine Mietwohnung finden konnten.
Immer wieder betonen die wenigen Dorfbewohner, die zu einem Gespräch bereit sind, dass am Ende das Problem doch »von außen«, nämlich durch den Zuzug der beiden Männer, in den friedlichen Ort getragen worden sei. »Schauen Sie doch nur, was aus unserem schönen Ort geworden ist, seit die beiden Typen hier wohnen«, sagt ein entrüsteter Einwohner und zeigt dabei auf die Polizeiabsperrungen.
Dass es den meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Protest nicht grundsätzlich um sexuelle Gewalt als verabscheuungswürdiges Verbrechen geht, zeigt ein Vorfall, der einige Jahre zurückliegt. Damals vergewaltigte ein junger Mann aus Insel ein ebenfalls aus dem Dorf stammendes Mädchen. Da der Täter aber kein »Fremder« war, wurde er von der Dorfgemeinschaft eher in Schutz genommen und konnte sich ohne größere Probleme wieder in das Leben in Insel einfügen. Diese Möglichkeit der Resozialisierung wird den von »außen« kommenden Männern vorenthalten.

Auch die wenigen Bürgerinnen und Bürger, die den Mut hatten, sich hinter die beiden ehemaligen Straftäter zu stellen – auch die Mutter des im Ort vergewaltigten Mädchens hat sich mit ihnen solidarisiert –, schweigen mittlerweile gegenüber den Medien. Zu groß ist der Druck der Dorfgemeinschaft. Auf Nachfrage bestätigt ein Dorfbewohner, dass es zu Drohungen und Beschimpfungen gegen diese Unterstützerinnen und Unterstützer gekommen ist.
Über eine Reintegration von ehemaligen Straftätern wird in Deutschland kaum diskutiert, vielmehr wird einer Verschärfung des Strafrechts der Vorzug gegeben und weiter über eine nachträgliche Sicherungsverwahrung nachgedacht. So wird Geld eher in den Bau von neuen Strafanstalten investiert und weniger in Programme für ehemalige Strafgefangene.
Insbesondere bei Sexualstraftätern treffen sich dabei die Ressentiments der Bevölkerung mit der Stimmungsmache von Politikern oder von bestimmten Medien, die sich in solchen Debatten als »Tabubrecher« gerieren und etwa den neuen Wohnort der Betroffenen »outen«.
Vor allem die Hetze durch die Medien sei ein Problem, sagt Martin Singe, politischer Sekretär des Komitees für Grundrechte und Demokratie: »Die mediale Hetze gegen Sexual- und Gewaltstraftäter führt dazu, dass auch Entlassene, die für ihre Taten gebüßt haben und als ungefährlich begutachtet worden sind, unter sozialer Ausgrenzung zu leiden haben. Parolen wie Gerhard Schröders ›Wegsperren – und zwar für immer‹ sind resozialisierungsfeindlich und tragen dazu bei, Menschen, die in sozialen Kontexten, die von der Gesamtgesellschaft geschaffen werden, zu Straftätern wurden, zu Monstern abzustempeln.«
Die Zahlen, die der Rechtswissenschaftler Wolfgang Heinz von der Uni Konstanz präsentiert, bestätigen das. So hätten die Sexualdelikte zwischen 1999 und 2009 um 56 Prozent abgenommen, während die öffentliche Wahrnehmung eine entsprechende Zunahme dieser Straftaten, um 56 Prozent, zu registrieren meinte.
Auch die allgemeinen Probleme mit der Resozialisierung in Deutschland sind aus Sicht des Komitees offensichtlich: »Zunächst wird der Resozialisierungsauftrag während der Haft gar nicht oder nur rudimentär erfüllt. Für genügend Therapieangebote fehlt das Personal. Viel zu wenige Sozialarbeiter und Psychologen sind in den JVA angestellt, so dass oft genug nur Verwahrvollzug praktiziert wird. Viele Gefangene klagen darüber, dass sie sich um Therapieplätze bewerben, aber keine bekommen.«
Die Situation in Insel hätte genutzt werden können, um diese Missstände anzuprangern und vor Ort für eine Reintegration zu werben. Doch nach den Ereignissen der vergangenen Wochen haben sich die Fronten eher verhärtet. Dass es ein gutes Ende nimmt, wird immer unwahrscheinlicher.