Protest von iranischen Flüchtlingen in Würzburg

13 Kilogramm für eine Entscheidung

Seit über 100 Tagen protestieren iranische Flüchtlinge in Würzburg. Ihre Mittel sind drastisch. Doch ihre Hartnäckigkeit zeitigt Erfolg.

Mittlerweile herrscht vorsichtiger Optimismus im Protestzelt. Es ist mit Transparenten und Fotos behangen, Texte und Aufschriften richten sich gegen die deutsche Asylpolitik und die iranische Despotie. Seit mehr als 100 Tagen streiken iranische Flüchtlinge in dem Zelt in der Innenstadt von Würzburg (Bayern) nun schon aus Protest gegen ihre Unterbringung in einer ehemaligen Kaserne am Rand der Stadt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat nun die Asylanträge von fünf Flüchtlingen endlich bearbeitet – wobei jedoch bisher nicht klar ist, ob das Amt die Anträge bewilligt hat oder nicht. Die Bearbeitung gehörte neben der Forderung nach Änderungen in der Asylpolitik zu den Kernforderungen der streikenden Iranerinnen und Iraner.

Vor kurzem sah die Lage noch ganz anders aus. Anfang Juni radikalisierte sich der Protest, der Tag und Nacht mitten in der Würzburger Innenstadt zu sehen ist. Mehrere Iranerinnen und Iraner traten erneut, bereits zum dritten Mal, in den verschärften Hungerstreik und vernähten zusätzlich nacheinander ihre Münder. »Es gibt nichts mehr zu sagen, es wurde bereits alles gesagt«, lautete ihr Vorwurf an die Behörden. Mohammad Kalali trat nach einigen Tagen sogar kurzzeitig in einen Durststreik, beendete ihn aber als Zeichen des Entgegenkommens, nachdem bekannt geworden war, dass sich das Auswärtige Amt mit seinem Fall befassen würde.
Kalali, dessen Antrag bereits einmal abgelehnt wurde, sind die Strapazen der insgesamt über 50 Tage im Hungerstreik deutlich anzusehen. Etwa 13 Kilogramm Körpergewicht hat er seitdem verloren. Auch er freut sich nun für seine Freunde. Zu seinem Entschluss, vorübergehend keine Flüssigkeit mehr aufzunehmen, sagt er: »Ich wollte diese Bürokratie brechen, weil das Gericht in dieser Zeit nichts unternommen hat. Zu diesem Zeitpunkt war ich mehr als 100 Tage auf der Straße und mehr als 50 Tage im Hungerstreik. Ich wollte endlich eine Entscheidung.« Von seiner Anwältin erfuhr er, dass das Gericht eine Anfrage an das Auswärtige Amt gestellt hatte, ob in seinem Fall sogenannte Nachfluchtgründe vorlägen. Bis zur endgültigen Entscheidung will er am Zelt bleiben. Dass die Iraner sich nun mit Ausnahme vom Kalali dazu entschlossen haben, den Hungerstreik vorerst auszusetzen und sich die Fäden zu entfernen, hat viele Freunde und Unterstützer erleichtert. Die Iraner wollen mit diesem Schritt die Bearbeitung der fünf bereits erwähnten Fälle durch das BAMF würdigen und signalisieren, dass eine Eskalation nicht in ihrem Sinne ist. Doch vier der Iraner, die den Protest begonnen haben, sind immer noch im Ungewissen über den Ausgang ihrer Asylverfahren.

Auch das immer härtere Vorgehen der Stadtverwaltung dürfte für den Entschluss gesorgt haben, Anfang Juni den Protest zu radikalisieren. Mit verschärften Auflagen, Klagen, Reglementierungen und Verboten versuchten die Behörden, den Streik der Flüchtlinge zu unterbinden und sie aus dem Stadtbild zu entfernen. Dass dies jedoch keineswegs so einfach ist, musste mittlerweile auch die Stadtverwaltung feststellen. Etliche Konflikte wurden vor dem Verwaltungsgericht Würzburg oder dem Verwaltungsgerichtshof in München ausgetragen, zuletzt gipfelten die Auseinandersetzungen in einer fünfstündigen Verhandlung in München. Deshalb sitzen die Iranerinnen und Iraner nun auf Anwalts- und Gerichtskosten in vierstelliger Höhe.
Dass Flüchtlinge sich mit derartiger Ausdauer juristisch erfolgreich gegen ihre Vertreibung von der Straße wehren, ist ein Novum in Deutschland. Das Vorbild scheint inzwischen Schule zu machen. Der Protest greift auf andere Orte in der Bundesrepublik über. So befinden sich nach Würzburger Vorbild unter anderem im Zentrum von Bamberg und der Kleinstadt Aub Protestzelte von Flüchtlingen, die ihre Unterbringung in Sammellagern bestreiken. »Wir wollen nicht mehr in unseren Zimmern schlafen«, steht auf den Transparenten. Mit ihren Forderungen schließen sie sich den Streikenden in Würzburg an. Auch Flüchtlinge in Berlin, Leipzig, Regensburg, Sinsheim und anderen Städten solidarisierten sich mit den Iranern.
Welchen Respekt manche inzwischen vor dem Würzburger Protest haben, zeigt sich beispielsweise in den Worten Andreas Starkes (SPD), des Oberbürgermeisters von Bamberg. Er sagte jüngst in einem Zeitungsinterview, er lege angesichts des Beispiels aus Würzburg »keinen Wert auf eine juristische Auseinandersetzung«. Die Flüchtlinge in Bamberg haben sich dennoch auf die Suche nach Anwälten begeben. Denn die Erfahrungen aus Würzburg zeigen, dass sie sich auf den guten Willen der Behörden besser nicht verlassen sollten.
Schließlich hatten sich dort bereits Anfang April Vertreter des BAMF, des bayerischen Sozialministeriums und der Stadt Würzburg aufgrund des großen öffentlichen Drucks zu einem Runden Tisch im Rathaus getroffen. Das BAMF verpflichtete sich damals zu einer raschen Entscheidung, die Flüchtlinge setzten daraufhin zum ersten Mal ihren Hungerstreik aus. Doch es musste ein zweiter Hungerstreik folgen, bis das Bundesamt zumindest über einige Asylfälle entschied.

Am Montag fand in Würzburg eine Podiumsdiskussion mit dem Titel »Bietet Asylrecht Schutz vor Verfolgung?« statt. Ein Diskutant war der Präsident des BAMF, Manfred Schmidt. In einem offenen Brief hatten ihn die iranischen Flüchtlinge bereits eingeladen, sich persönlich am Zelt kennenzulernen. Das BAMF äußerte sich jedoch nicht zu der Einladung. Auch Pro Asyl nahm an der Diskussion teil. Die Organisation war von Beginn an über das Geschehen vor Ort informiert, bekundete bislang aber in keiner Weise Solidarität. Die Flüchtlinge am Protestzelt wurden nicht zur Diskussion eingeladen. Unter Behörden und professionellen Hilfsorganisationen besteht offenbar Einigkeit darüber, dass die bloß zu verwaltende Masse der Flüchtlinge zu ihrem Leben in Deutschland selbst nichts zu sagen hat.