Kreuzberg Bowery

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William Blake lag falsch. Berlin ist das Neue Jerusalem. Jedes Jahr strömen Juden in Scharen hierher, hauptsächlich aus Russland und Israel, aber auch aus Amerika, wo ich herkomme. Als Jude in der Diaspora – und Autor eines Buches über die jüdischen Wurzeln des Punk – finde ich das faszinierend und beängstigend zugleich.
Der Punk in mir bestaunt das Berliner Nachtleben und die Clubs voller kleiner Bowies, Iggys und Reeds. Der Amerikaner in mir bewundert unterdessen die Kultiviertheit und die Art, wie sich Multikulturalismus und Hochkultur, Ehrgeiz und Gemeinsinn verbinden.
Meine jüdische Seite fühlt sich trotzdem unbehaglich, zwar im Bewusstsein, dass sich die Zeiten geändert haben, aber dennoch aufgewühlt von der Vergangenheit. Ich ertappe mich dabei, wie ich über meine Schulter blicke und mich nach unsichtbaren Schatten umsehe, wenn ich auf Stolpersteine stoße, die an diejenigen ­erinnern sollen, mit denen ich damals im Zug gesessen hätte.
Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich bin nicht wütend. Sie sind nicht schuld! Nicht mehr als ich an George W. Bush, am Kapitalismus oder an McDonald’s. Zur Hölle, nehmen wir Katy Perry, Katie Holmes und Katie Couric noch dazu, wenn wir schon dabei sind. Ich entschuldige mich für diese Personen und empfinde sie genauso als Strafe, wie Sie es zweifellos bei der deutschen Vergangenheit tun. Stimmt’s? Wir können hier ehrlich reden, oder? Das hoffe ich zumindest.
Als Autor der Jungle World – als ihr Resident Jew Punk – werde ich mich an dieser Stelle regelmäßig mit allem Möglichen beschäftigen, von den Beziehungen der Bundesrepublik zu Israel bis hin zu den persönlichen Beziehungen von Deutschen zu einem amerikanischen Juden wie mir. Da ich das Buch »Die Heebie-Jeebies im CBGB’s« geschrieben habe, habe ich lang und intensiv über die Auswirkungen des Holocaust auf unsere beiden Welten nachgedacht, ich tauche unaufhörlich in die Geschichte ein beim Versuch, die Gegenwart zu verstehen, indem ich mir die Vergangenheit ansehe. Wie Joey Ramone, Jonathan Richman, Lou Reed, Alan Vega, Richard Hell, Handsome Dick Manitoba, Adam »MCA« Yauch und viele andere bin ich ein Produkt dieser Geschichte.
Bleiben Sie also dran, wenn ich Sie in Zukunft in die Lower East Side meiner Gedanken mitnehme, wo die Kreuzbergstraße die Bowery kreuzt und Groucho mit Karl auf Adolfs Grab tanzt. Wir stecken gemeinsam in dieser Sache, auch wenn wir uns ihr aus entgegengesetzten Richtungen nähern. Oder, um das allzu abgedroschene Sprichwort, das nach 9/11 geprägt wurde, neu zu formulieren: Wir sind jetzt alle jüdische Punks! Besonders hier in Berlin, dem Neuen Jerusalem, wo die Hügel aus den Schuttbergen entstanden, welche die Trümmerfrauen hinterlassen haben.