Gespräch mit Vasile Marian Luca über die Sinti- und Roma-Politik der EU

»Der Antiziganismus wird geschürt«

In Europa leben zehn bis zwölf Millionen Roma und Sinti. Immer noch sind sie meist ökonomisch und sozial benachteiligt, Antiziganismus ist weit verbreitet. Die Jungle World sprach mit Vasile Marian Luca über die Integrationsbemühungen der EU und die Lebensbedingungen von Roma und Sinti. Luca ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg und Experte für europäische Politik.

Haben sich die Lebensbedingungen für Sinti und Roma seit der Annäherung Osteuropas an Westeuropa verbessert?
Die EU-Osterweiterung eröffnete vielen osteuropäischen Bürgern die Möglichkeit, in den westeuropäischen Ländern besser bezahlte Arbeit aufzunehmen. Die Migration der Roma aber rief in Ländern wie Spanien, Italien, Frankreich und sogar Deutschland mediale und soziale Diskriminierung hervor und führte zu Abschiebungen zurück in prekärste Verhältnisse.
Heute hat sich die Situation der Roma in Europa deutlich verschlechtert. Das hängt hauptsächlich mit den jeweiligen Nationalregierungen zusammen, die das Geld, das sie vom EU-Förderfonds erhalten, nicht wirklich für Roma einsetzen. Die Folgen des Zusammenbruchs der kommunistischen Regime waren in manchen osteuropäischen Ländern, vor allem in Rumänien, katastrophal. Schwache Zivilgesellschaften und der Kollaps der Wirtschaft waren schlichtweg nicht von heute auf morgen zu überwinden. In Sachen Demokratisierung ist vor allem Rumänien ein Negativbeispiel.
Wie gestaltet sich das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen etwa in Ungarn und Rumänien?
Die größten Minderheiten in Rumänien sind die Roma und die ungarische Minderheit. Seit dem Zerfall des Ceauşescu-Regimes in Rumänien sind die Minderheiten politisch vertreten. Die Demokratische Union der Magyaren hat ununterbrochen an der Regierungskoalition teilgenommen und die Interessen der ungarischen Angehörigen in Rumänien vertreten können – was in der Slowakei beispielsweise politisch gar nicht möglich ist. In den letzten Jahren haben sich die Außenbeziehungen zwischen Ungarn und Rumänien enorm verschlechtert und hier wie dort wird gegen Roma als Sündenböcke gehetzt, etwa von der in Rumänien etablierten nationalistischen Ungarischen Bürgerpartei. In Ungarn, wo bereits viele Roma ermordet wurden, bedroht die Ungarische Garde ihre Existenz.
Gab oder gibt es in Rumänien Pläne, die Lage der Roma langfristig zu verbessern? Im Realsozialismus arbeiteten viele Roma in der Industrie.
Ein wesentliches Problem für die Integration von Roma sind die wirtschaftlichen Verhältnisse. In Rumänien leben ungefähr 2,5 Millionen Roma, die größte Gruppe in Europa. Die sogenannte Homogenisierungspolitik des kommunistischen Regimes sah die Einbettung der Roma ins sozialistische Proletariat vor. Das heißt, die Genossen haben ihnen – unabhängig von der Ausbildung – Arbeitsplätze in der Industrie und der kooperativen Landwirtschaft verschafft. Wohnungen, die sie auch bezahlen konnten, wurden unmittelbar vom Staat gewährleistet. Der Schulbesuch war für alle Pflicht. Viele Roma hatten Zugang zu Schulen und konnten zumindest Grundkenntnisse im Lesen und Schreiben erwerben.
Der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft führte zur Auflösung der landwirtschaftlichen Kooperativen. Für Roma endete dies katas­trophal: fast hundert Prozent Arbeitslosigkeit, viele brechen die Schule ab, leben in menschenunwürdigen Armutssiedlungen und sind sozialem Hass ausgesetzt.
Integrationsbestrebungen und politische Pläne gab es und gibt es noch. Insbesondere galten Integrationsprogramme und gesetzliche Instrumente bezüglich Minderheiten als Bedingung für den EU-Beitritt Rumäniens. Die Erfahrung zeigt aber, dass diese Programme zum Großteil gescheitert sind.
Im Kosovo gibt es Pogrome gegen Roma, in Ungarn muss die Polizei sie vor Faschisten schützen, in Italien werden sie überfallen und in Frankreich geht die Polizei hart gegen sie vor. Die von Sarkozy angeordnete, populistische Massenausweisung von Roma verurteilte der Europäische Gerichtshof als Rechtsbruch. Auch die EU-Menschenrechtsagentur prangerte diese Vorfälle und die schlechten Lebensbedingungen vor kurzem an.
Der Antiziganismus wird geschürt. Ich habe den Eindruck, dass die Gesellschaft gar nichts aus der Vernichtung im Nationalsozialismus gelernt hat oder lernen will. Am 16. Juni erst wurden in Hurbanovo in der Slowakei drei Roma erschossen und zwei schwer verletzt. Der Täter war ein Polizist, der außerhalb seiner Dienstzeit gehandelt hat. Das ist nicht das erste Mal, dass Roma in der Slowakei, Tschechien oder Ungarn erschossen werden. Neulich wurden Roma auch in Österreich und der Ukraine vertrieben und bedroht. Heftige ethnische Konflikte gab es voriges Jahr auch in Bulgarien. Verfolgung, Ermordung und existentielle Angst sind Alltag in manchen Gegenden Osteuropas. In den Medien werden Roma immer wieder als Kriminelle dargestellt. In der anderen Hälfte Europas werden Roma in Gruppen systematisch abgeschoben und kriminalisiert. Viviane Reding, die EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, hat diese Ereignisse ­öffentlich kritisiert. Die Europäische Kommission hat gegen Frankreich ein juristisches Verfahren eingeleitet. Das blieb aber wirkungslos. Insofern bleiben die EU-Direktiven der Nicht-Diskriminierung, Gleichbehandlung und Freizügigkeit allein Texte de jure.
Die EU-Menschenrechtsagentur hat vor kurzem ein großes Aktionsprogramm zur Eingliederung der Roma in den Arbeitsmarkt gefordert. Könnten solche staatlichen Programme Erfolge erzielen?
Es passiert de facto ja viel zu wenig, die Anzahl der Armutssiedlungen und das Maß an Diskriminierung ist sogar deutlich gestiegen. Supranationale Förderprogramme und Gelder der EU-Sozialpolitik fließen eher in zahlreiche Konferenzen oder in die Mitarbeiterstäbe von Politikern. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, hat vor kurzem darauf hingewiesen, dass in vielen Ländern mittlerweile der Vorwurf erhoben wird, Millionen- und Milliardenbeträge seien von Brüssel aus für die Verbesserung der Situation von Sinti und Roma verwendet worden. Dass Roma aber noch immer oft in desolaten Verhältnissen leben müssen, liege vielmehr an deren »Lebensweise« und »Mentalität«. Dabei wird ausgeblendet, dass nur ein Bruchteil der Fördergelder aus Brüssel tatsächlich auf lokaler Ebene bei Roma angekommen ist. Der Großteil der Gelder wurde für andere Vorhaben verwendet oder verschwand durch Korruption und Inkompetenz.
Dennoch gibt es auch positive Beispiele. In Rumänien werden derzeit erfolgreich Projekte auf nationaler Ebene durchgeführt. Unter dem Titel »Eine Generation von Roma-Spezialisten in der Medizin« wird 1 000 Roma-Studenten Zugang zu akademischen und hochqualifizierten Berufen verschafft. 800 Roma-Frauen werden im Rahmen desselben Programms zu Krankenschwestern ausgebildet. Das Programm läuft bis 2014.
In der rumänischen Stadt Baia Mare ließ der Bürgermeister vor kurzem Dutzende Roma-Familien in die Nähe eines giftigen Chemiewerks umsiedeln. Muss gegen solche rassistische Politik nicht mehr unternommen werden?
Eine sofortige Reaktion ist mehr als notwendig. Dieser Fall begann bereits letztes Jahr, als der amtierende Bürgermeister, Cătălin Cherecheş, Mitglied der neu gegründeten Sozialliberalen Union, angeblich »zum Schutz der Roma« eine Mauer bauen ließ. Am 1. Juni dieses Jahres hat der Bürgermeister unter polizeilicher Aufsicht die Zwangsumsiedlung von mittellosen Roma in das stillgelegte Laborgebäude des örtlichen Chemiewerks angeordnet. 22 Kinder und zwei Erwachsene erlitten Vergiftungen durch Chemikalien. Bei den Wahlen, die im Juni stattgefunden haben, bekam der Bürgermeister die meisten Stimmen, die je ein Bürgermeister in Rumänien auf sich vereinen konnte: 86 Prozent. Das Verhalten des Bürgermeisters verstößt deutlich gegen internationale, europäische und rumänische Übereinkommen und Gesetze bezüglich der Menschenrechte. Romani CRISS, eine wichtige NGO in Rumänien, hat eine Demonstration organisiert, an der sich Roma und Nicht-Roma beteiligt haben. Die neue Regierung scheint bis zu den Parlamentswahlen im Herbst permanent in einer Wahlkampagne zu sein. Zu diesem Ereignis hat die Regierung nicht Stellung bezogen.
In Dortmund und Berlin gab es in den letzten Jahren Kampagnen auf lokalpolitischer Ebene und von Bürgerinitiativen gegen Roma, die sich dort legal aufhalten. Hat sich die Stimmung gegenüber Roma wieder verschlechtert?
Tatsächlich gibt es in vielen deutschen Städten, aber auch in den Medien, vermehrt eine ablehnende Haltung gegenüber Roma, vor allem gegenüber Flüchtlingsfamilien aus Bulgarien, Rumänien und anderen Staaten Mittel- und Südost­europas. Man muss erkennen, dass die wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Segregation der Roma in allen gesellschaftlichen Bereichen auf Praktiken der Diskriminierung zurückzuführen sind.
Hat die deutsche Regierung nach dem Massenmord während des NS nicht eine besondere Verantwortung für die heutige Situation der Roma in Europa? Welche Maßnahmen würden Sie fordern, um die Situation der Sinti und Roma generell zu verbessern?
Nicht nur die Diskriminierung muss beendet werden, auch die Akzeptanz unwürdiger Lebensbedingungen! Eine moralische Verantwortung tragen die deutschen Autoritäten für die Roma-Bürger aus dem Kosovo. Sie werden systematisch in den Kosovo abgeschoben, obwohl dort wirtschaftliche und soziale Sicherheit nicht gegeben ist. Der Kosovo gehört darüber hinaus zu den assoziierten Staaten Europas, deswegen sollen die Abschiebungen sofort gestoppt werden.