Robert Kurz ist tot

Die Krise als Weltsystem

Der linke Theoretiker Robert Kurz ist im Alter von 68 Jahren gestorben. Seine Analysen der kapitalistischen Gesellschaft gehören zu den wichtigsten Interventionen gegenwärtiger Kritischer Theorie.

Die immer neuen, gewaltigen ökonomischen Krisenerscheinungen sind kein Zwischenspiel, sondern vermutlich das letzte Stadium des sowieso auf seinen endgültigen Zusammenbruch zusteuernden kapitalistischen Weltsystems. Diesem Weltsystem ist die Krise als solche im Sinne einer des­truktiven Logik immanent. Es ist die Logik der rücksichtslosen Verwertung, die der rigiden Durchsetzung des Profitmotivs folgt. Mit gut gemeinter Umverteilung, notdürftiger Reparatur und billiger Apologie ist da nichts zu machen, die Rettung erfolgt jenseits der ökonomischen Zurichtung – oder gar nicht.
Retrospektiv erweisen sich die alten Versuche auch der radikalen Linken, das Kapitalverhältnis zu transzendieren, nicht nur als gescheitert, sondern als trügerische Unternehmungen, die den Kitt der Herrschaftsverhältnisse lieferten, nicht den Sprengstoff. Noch in den achtziger Jahren vertraute die am Marxismus und seinen Marxismus/Leninimus-Derivaten geschulte Linke weitgehend dem Proletariat als revolutionärem Subjekt, und damit einer Arbeiterbewegung, von der erwartet wurde, die Arbeit gegen das Kapital zu verteidigen. Ich erinnere mich an einige mit bierseligem Weltvertrauen geführte Kneipendebatten darüber, ob die Massen schon nächsten Monat oder doch erst in fünf Jahren auf die Barrikaden gehen würden. Trotz der Neuorientierung an den Autonomen setzte man auch Ende der achtziger Jahre die Hoffnung selbstverständlich auf den Generalstreik.
Im Dunkel des gelebten Augenblicks waren die Verhältnisse allerdings längst erodiert: Die Postmoderne verkündete das Ende der großen Erzählungen, poststrukturalistisch wurde das Subjekt in seinen sozialen Dispositiven (Rasse, Klasse, Geschlecht etc.) dezentriert, alltagskulturelle Gewissheiten wurden in ihren kanonischen Formen dekonstruiert und kontextualisiert. Etabliert wurde eine Ideologie des Hedonismus, ein Ästhetizismus der Existenz. Der Realsozialismus erlebte in diesen Jahren seinen brutalen wie trostlosen Untergang.
Wer an der emanzipatorischen Idee der Gesellschaftskritik festhielt, nämlich am Begriff der Gesellschaft selbst, fand sich in den acht­ziger Jahren mit Thesen konfrontiert, die bisher im akademischen Abseits – etwa in den Schriften Moishe Postones – kursierten: Vom Ende der Arbeitsgesellschaft war die Rede, auch von der notwendigen Abschaffung der Arbeit. Am System der Lohnarbeit, der Schufterei in den Fabriken, der Mühsal am Fließband etc. gebe es nichts zu verteidigen, nichts zu retten, proklamierte eine Gruppe marxistischer Theoretiker, die meisten aus Nürnberg, unter ihnen: Robert Kurz.
1943 als Kind einer Arbeiterfamilie geboren, studierte Kurz Philosophie und Geschichte. In den siebziger Jahren sympathisierte er mit dem Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands, von dem er sich bald wieder distanzierte. »Anfang der achtziger Jahre«, so Kurz in einem Interview 2004, »hatten wir das Gefühl, dass sich die Ideen der damaligen ›Neuen Linken‹ seit 1968 erschöpft hatten. Es gab einen Impuls, die eigene Geschichte kritisch aufzuarbeiten. Wir wollten den ›manisch-depressiven Zyklus‹ der politischen Kampagnen nicht mehr mitmachen. Die Theorie sollte nicht mehr unmittelbar an die politische Praxis gebunden werden, also ihren legitimatorischen Charakter verlieren und in ihrer Eigenständigkeit ernst genommen werden.«
Das bedingte eine politische oder vielmehr antipolitische Neuaneignung der Marxschen Theorie. In Abgrenzung zum sogenannten Arbeiterbewegungs-Marxismus wurde eine wertkritische Relektüre der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie unternommen. In seinem Essay »Blutige Vernunft« (2004) fasst Kurz diesen theoretischen Ansatz so zusammen: »Wertkritik bezieht sich auf die Wertform der Ware als Vergesellschaftungsform der Moderne. Aber es geht dabei keineswegs bloß um eine ökonomische Bestimmung im engen Sinne. Vielmehr ist der Begriff des Werts bzw. der Verwertung ein negativer Totalitätsbegriff des Kapitalverhältnisses oder der ›Wertvergesellschaftung‹. Nation, Staat und Politik sind nicht unmittelbar der empirischen Ökonomie subsumiert, aber sie gehören derselben vom Wert gesetzten fetischistischen Totalität an (…). Auch der abstrakte Arbeitsbegriff bildet keinen, womöglich noch transhistorisch zu fassenden, Hebel der Emanzipation. Arbeit, Nation und Politik stellen einzig Kategorien des warenproduzierenden Systems dar und verfallen als gesellschaftliche Kategorien zusammen mit diesem.«
Die deutsche Wiedervereinigung und die Pogrome Anfang der neunziger Jahre machten den Abschied vom Arbeiterbewegungs-Marxismus leicht. Wenn auch politisch isoliert, formierte sich in den neunziger Jahren eine Linke, die ihre Begriffe kritisch reflektierte. Auf Seminaren im Wendland und anderswo wurde Gesellschaftskritik neu dekliniert, Antifaschisten, Arbeitsloseninitiativen und Adorno-Anhänger debattierten zum Beispiel die Frage, ob Maschinen Mehrwert produzieren. Wichtig war das für die von Kurz anvisierte Utopie einer – mit Ironie so bezeichneten – »mikroelektronischen Naturalwirtschaft« als Keimform für eine Gesellschaft jenseits von Wert und Verwertung. Mit Verve wurden alte Parolen aktualisiert, so die situationistische Forderung »Arbeite niemals!« oder das »Recht auf Faulheit« nach Paul Lafargue. Antinationalismus war da noch kein Streitthema, sondern selbstverständlich.
Bekannt wurde Kurz 1991 auch über die kritischen Diskussionszirkel hinaus mit seiner ersten großen Studie »Der Kollaps der Modernisierung«. Zahlreiche Debatten löste das in mehrere Sprachen übersetzte »Manifest gegen die Arbeit« der Gruppe Krisis von 1999 aus, an dem Kurz maßgeblich beteiligt war. Im selben Jahr publizierte er sein monumentales, 800 Seiten starkes »Schwarzbuch Kapitalismus«. Das Buch, laut Untertitel »Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft«, war als Gegenstück zu dem von Stéphane Courtois herausgegebenen »Schwarzbuch des Kommunisimus« angelegt.
Kurz veröffentlichte zahlreiche Aufsätze und Abhandlungen in der von ihm mitbegründeten Zeitschrift Krisis. Nach einem Streit verließen Kurz und andere Autoren die Redaktion und gründeten die Zeitschrift Exit! Die Krisis-Gruppe reiste mehrmals nach Brasilien und unterhielt Kontakte zu Aktivisten der Landlosenbewegung, die versuchten, die Wertkritik in die Praxis umzusetzen.
Im Januar 2000 war Robert Kurz neben Peter Glotz und Barbara Sichtermann Gast in der ZDF-Talkshow »Nachtstudio« mit Volker Panzer. Es ging um Globalisierung, Demokratie und Kommunismus. Freilich hieß das, Perlen vor die Säue zu werfen. Kurz galt als kritischer Außenseiter, der wohl auch deshalb vom bürgerlichen Feuilleton akzeptiert wurde, weil ihm Gesten der Militanz fremd waren. Seine Sprache indes war drastisch und die eines Radikalen. Seine Texte und Vorträge schloss er gerne mit der Aufforderung an sein Publikum, praktisch tätig zu werden. »Die Aufgaben, die gelöst werden müssen«, schreibt er im Epilog zum »Schwarzbuch Kapitalismus«, »sind von geradezu ergreifender Schlichtheit. Es geht erstens darum, die real und in überreichem Maße vorhandenen Ressourcen an Naturstoffen, Betriebsmitteln und nicht zuletzt menschlichen Fähigkeiten so einzusetzen, dass allen Menschen ein gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet wird (…). Zweitens gilt es, die katastrophale Fehlleitung der Ressourcen, soweit sie überhaupt kapitalistisch mobilisiert werden, in sinnlose Pyramidenprojekte und Zerstörungsproduktionen zu stoppen (…). Und drittens schließlich ist es erst recht von elementarem Interesse, den durch die Produktivkräfte der Mikroelektronik gewaltig angeschwollenen gesellschaftlichen Zeitfonds in eine ebenso große Muße für alle zu übersetzen statt in ›Massenarbeitslosigkeit‹ einerseits und verschärfte Arbeitshetze andererseits.«
Ähnlich wie Herbert Marcuse mit seiner Rede von der »Großen Weigerung« rät Kurz im »Schwarzbuch Kapitalismus« zum Aufbau »einer Art Gegengesellschaft«, um »eine Kultur der Verweigerung« zu begründen: »Unter den gegebenen Umständen kann das nur heißen, jede Mitverantwortung für ›Marktwirtschaft und Demokratie‹ zu verweigern, nur noch ›Dienst nach Vorschrift‹ zu machen und den kapitalistischen Betrieb zu sabotieren, wo immer das möglich ist.«
Wie schwer sich die Linke selbst damit tat, eine Art Gegengesellschaft auch nur im Kleinen zu schaffen, auch das gehört zu Kurz’ politischer Biographie. »Kurz war«, schreibt der linke Publizist Franz Schandl in einem Nachruf auf seinen Freund und Genossen, »einerseits der feinsinnige Denker, der ausgezeichnete Schriftsteller, andererseits aber auch ein übriggebliebener Recke finsterster K-Gruppen-Manieren, der oft Übergriff und Eingriff nicht unterscheiden konnte.« Die Geschichte der radikalen Linken, an der Kurz mitgeschrieben hat, ist auch eine Zerfallsgeschichte. Die Krise, die er als systemische diagnostizierte, erfasste die Krisentheoretiker schließlich selbst, zerschlug politische Bündnisse und zerstörte Freundschaften.
»Was jetzt noch radikale Kritik heißen will, kann sich nur mit Zorn und Ekel vom geistigen Gesamtmüll des Abendlands abwenden«, schreibt er in »Blutige Vernunft«. Zorn und Ekel waren auch Movens seines Schreibens. Das beschädigte Leben versuchte er mit Polemik zu kompensieren, in der er sich manchmal verloren hat. Gerade an jenen Texten, die Zerwürfnisse bedingten und dokumentierten, lässt sich ­eines der traurigsten Kapitel der emanzipatorischen Linken ablesen: der Umschlag der Kritik in die rücksichtlose Kritik. Kurz hinterlässt auch das als eine Erblast Kritischer Theorie, die es historisch aufzuarbeiten gilt, soll das nicht disparat zur unhintergehbaren Bedeutung der Kurzschen Krisentheorie stehen.
»Wir haben es nicht mit einem statischen, sondern mit einem dynamischen System zu tun«, kommentiert Kurz im Dezember 2011 im Neuen Deutschland die heutige Situation. »Der Kapitalismus wiederholt sich nicht (…), weil er selber ein irreversibler historischer Prozess ist.« Über dieser Irreversibilität der Krise als Weltsystem liegt allerdings der unheimliche Schein der Wiederkehr des Immergleichen, der alles im Stillstand erstarren lässt. Dagegen setzt Robert Kurz die Erkenntnis der Kritischen Theorie: Solange die Verwertungslogik die alles entscheidende Prozessdynamik bleibt, verliert das Menschliche seine Möglichkeit und steuert lediglich auf den Tod zu.
Robert Kurz starb am 18. Juli während einer Notoperation in einer Nürnberger Klinik. Eine Obduktion soll klären, ob der Tod auf einen ärztlichen Fehler zurückzuführen ist.