Über Kulturrelativismus und Antisemitismus in der Debatte

Das Häute-Journal

Von Ivo Bozic

Die linke israelsolidarische Szene streitet um ein kleines Hautfältchen. Zu Recht, denn es geht dabei um zwei wichtige Themen: Kulturrelativismus und Antisemi­tismus. Die anderen Aspekte der Debatte kann man hingegen vergessen.

Die Sexualität
In der Debatte heißt es zuweilen, bei der Vorhaut handele es sich um ein »eigenständiges Organ«, um »das wichtigste Sexualorgan des Mannes«, seine Beschneidung komme einer »Amputation« gleich, sei eine »Verstümmelung«. Nur nicht beschnittene Männer seien »vollständige Menschen«. Damit werden alle jüdischen Männer seit 4 000 Jahren, alle Muslime, der Großteil der US-Amerikaner, kurz: ein Drittel der männlichen Weltbevölkerung als unvollständige, verstümmelte Menschen bezeichnet, die nicht in der Lage seien, ordentlichen Sex zu haben. Allein diese Vorstellung ist so hanebüchen, dass man Rassismus und Antisemitismus vermuten kann, Potenzphanta­sien oder andere Komplexe hinsichtlich der eigenen Sexualität. Irgendetwas Irrationales. Nun gibt es aber durchaus Studien, die nahelegen, dass die Vorhautbeschneidung negative psychische und physische Auswirkungen haben kann. Während weibliche Genitalverstümmelung darauf abzielt, Mädchen die Lust am Sex zu nehmen, ist dies nicht das Motiv der männlichen Beschneidung. Hat sie trotzdem negative Auswirkungen auf den Sex?
Die eine Hälfte der Studien, die das behaupten, weist nach, wie viele Nervenenden mit der Vorhaut entfernt werden und wie sehr dies die sexuelle Stimulanz mindere, während die andere Hälfte das Gegenteil belegt, nämlich dass die Eichel der sensibelste Teil des Penis sei, weshalb die Beschneidung der schützenden Vorhaut eine zu große Stimulanz zur Folge habe. Es gibt tatsächlich Betroffene, die klagen, ohne Vorhaut zu schnell zum Orgasmus zu kommen, während andere sagen, es dauere viel zu lange. Im Internet kursiert ein Interview mit einem Aktivisten der Piratenpartei, der seine Sexualprobleme schildert. Die hängen jedoch offensichtlich nicht alle mit seiner fehlenden Vorhaut zusammen, was klar wird, wenn er etwa erklärt, dass er als Schwuler nur Safer Sex mit Kondom praktiziere, allerdings mit Kondomen überhaupt nichts empfinde und daher der Sex für ihn immer unbefriedigend sei. Unter Schwulen gibt es unterschiedliche Ansichten zum Thema. Auf queer.de ist von einem »richtigen Fetisch« um die »Pelle« und ihre Entfernung die Rede. Es gibt auf schwulen Pornoseiten eigens eine Kategorie »Beschnitten«. Das Internetforum »Cuttingclub« hat über 5 200 Mitglieder.
Floris Biskamp hat im Jungle World-Blog resümiert: »Nimmt man die auf beiden Seiten präsentierten Ergebnisse zusammen, bleibt festzuhalten: Es kann nicht als wissenschaftlich erwiesen gelten, dass eine medizinisch fachgerecht vorgenommene Beschneidung schwere Beeinträchtigungen oder große Risiken mit sich bringt, ähn­liches gilt für die oft zitierten positiven Effekte.« Für die Vorhaut-Debatte sollte man also das ganze Sex-Thema besser beiseite lassen.
Das Archaische
»Seinerzeit, als unsere menschlichen Vorfahren noch über Bäume kletterten oder leicht beschürzt durchs Gebüsch jagten, konnten die Fortpflanzungsorgane durch die Vorhaut vor Verletzung und Verunreinigungen besser geschützt werden. Da wir heute nicht nur aufrecht gehen, sondern auch in Städten leben und in der Regel Kleidung tragen, ist dieser Schutz nicht mehr zwingend nötig«, schreibt Carsten Weidemann auf queer.de. Völlig unabhängig davon, ob diese Aussage korrekt ist, zeigt sie doch: Was archaisch und was fortschrittlich ist, ist nicht immer so eindeutig zu bestimmen. Den Körper möglichst im Naturzustand zu belassen und alles andere als Eingriff in die Schöpfung oder als widernatürlich zu brandmarken, ist jedenfalls nicht unbedingt fortschrittlich.
Es gibt durchaus medizinische Gründe für die Beschneidung. Die Weltgesundheitsorganisation etwa befürwortet sie, weil sie das Risiko einer HIV-Infektion um 60 Prozent senke. Mehr als acht Prozent aller Männer weltweit leiden unter einer Phimose, einer krankhaften Vorhautverengung. Unter welchen Voraussetzungen die Beschneidung eine notwendige Maßnahme zur Behandlung ist, darüber gehen die Meinungen zwar auseinander, und in letzter Zeit wird seltener zum Messer gegriffen als früher. Aber fest steht: Beschnittene Männer haben diese Sorge nicht. Wenn man einem Kind durch einen einfachen Eingriff im Säuglingsalter später eine schmerzhafte Phimose ersparen kann, warum nicht?
Allerdings werden Beschneidungen in der Regel aus religiösen Motiven in einem rituellen Rahmen durchgeführt. Und religiöse Riten und Religionen insgesamt sind – von Scientology vielleicht abgesehen – per se archaisch. Aber warum soll die jüdische Beschneidung archaischer sein als das katholische Kondomverbot?

Die Religionskritik
Thierry Chervel hat völlig recht, wenn er auf Perlentaucher schreibt: »Wir sind nicht umstellt von finsteren Laizisten, sondern von Zumutungen des Religiösen, die immer mehr Raum gewinnen.« Daher tut aus linker, emanzipatorischer Sicht die Kritik der Religion not – und ebenso die Verteidigung der Religionsfreiheit! Nur die Religionsfreiheit ermöglicht auch die Freiheit von der Religion. Das beweisen die Gesellschafen, in denen keine Religionsfreiheit besteht, wie etwa im Iran oder in Saudi-Arabien.
Ginge es in der Vorhaut-Debatte wirklich um Religionskritik, würde man auch über die Taufe reden oder den konfessionellen Religionsunterricht. Die Taufe mit der Beschneidung zu vergleichen, halten manche Beschneidungsgegner für eine Verharmlosung der Beschneidung. Man kann es auch andersherum sehen. Dass durch eine Beschneidung im Säuglingsalter eine religiöse Indoktrination stattfindet, darf bezweifelt werden. Erwiesenermaßen kann man problemlos auch ohne Vorhaut Atheist werden. Als Getaufter hingegen ist man in Deutschland automatisch Mitglied der Kirche – und kirchensteuerpflichtig. Einem Freund wollte das Finanzamt eine astronomische Summe Geld abknöpfen, weil er den Zettel nicht aufgehoben hatte, der seinen Kirchenaustritt dokumentierte. Die Beweispflicht liegt im Streitfall nämlich beim – unfreiwillig – Getauften. Das ist Deutschland 2012.
Dass Eltern ihre Kinder religiös indoktrinieren, sollte man kritisieren, es lässt sich aber nicht verhindern, wenn man nicht gleich die Taufe, die Bar Mitzwa, den Konfirmationsunterricht und die Messdienerei verbietet und Synagogen-, Kirchen- und Moscheebesuche sowie das Studium der Heiligen Schriften erst ab 18 Jahren erlaubt. Kurz: Im Rahmen der Vorhaut-Debatte könnte durchaus sinnvoll Religionskritik geübt werden, das geschieht aber nicht.

Die Vernunft
Einige Diskutanten haben vor einer Religionskritik gewarnt, die den »Kult der Vernunft« zur »Ersatzreligion« werden lasse (Matthias Küntzel). Dass die Vernunft auch Böses hervorbringen kann, ist keine Neuigkeit – aber auch kein Argument gegen die Vernunft. Und dass die Beschneidungsgegner quasi natürlicherweise die Vernunft vertreten, kann man wirklich nicht behaupten. Elke Wittich hat an dieser Stelle (32/12) einen kleinen Eindruck davon vermittelt, wie wahnhaft die Debatte weitgehend ist. Auch vermeintliche Mobilfunkstrahlenopfer haben ungezählte Stu­dien auf ihrer Seite und berufen sich auf die Wissenschaft. Dass sie im Großen und Ganzen alle ein Rad ab haben, ist dennoch die schlichte Wahrheit. Vieles, was man in der Vorhaut-Debatte hört, sind Ängste und Ressentiments, vieles erinnert an Verschwörungstheorien. Die Vernunft soll zur Rationalisierung des Wahns dienen.
Die religiöse Begründung der Beschneidung ist selbstverständlich unvernünftig, sonst wäre es keine religiöse Begründung. Als Religionskritiker darf man dies kritisieren. Nur: Die Kritik der Beschneidung ist nicht automatisch vernünftig. Daher bringt auch dieser Aspekt die Diskussion nicht weiter.

Der Kulturrelativismus
Thomas von der Osten-Sacken hat, vor allem im Jungle World-Blog, vehement die Position vertreten, eine Toleranz der Vorhautbeschneidung öffne die »Büchse der Pandora« und führe dazu, dass religiöse Minderheiten auch andere Rechte fordern. So komme man schnell von der Beschneidung zur Burka und zur weiblichen Genitalverstümmelung. Tatsächlich ist das eine der großen Gefahren dieser Zeit, jedem sichtbar spätestens seit dem Streit um die Mohammed-Karikaturen 2005. Religionsvertreter, zuvörderst im Islam, aber auch Katholiken äußern sich zuweilen ähnlich, wollen den Schutz der Religion über die Meinungsfreiheit, über die Menschenrechte stellen – ein Angriff auf den säkularen Staat.
Darauf aufmerksam zu machen, ist selbstverständlich notwendig. Auch um klar zu machen, dass das Gegenmodell zum Kulturrelativismus der Universalismus ist und nicht die »Leitkultur«. Die Leitkultur, also die Durchsetzung der Mehrheitskultur, ist eine nationalistische Spielart des Kulturrelativismus. In der Debatte um Beschneidung wird beides jedoch oft vermischt, weshalb sich auch Nazis, Rassisten und Hardcore-Christen gegen Beschneidung engagieren.

Der Antisemitismus
Es hat mich schockiert, dass viele, die ich als engagierte Israel-Unterstützer kenne, plötzlich abgestumpft zu sein schienen, als eine derbe antisemitische Welle durch Deutschland schwappte. Natürlich sind nicht alle Motive und Argumente antisemitisch, aber insgesamt hat diese Debatte, wenn auch ungewollt, vor allem eines bewirkt, nämlich die meist unkompliziert folgenlos verlaufende Vorhautbeschneidung zu einem monströsen, bluttriefenden Gewaltakt aufzubauschen, der jene, die ihn praktizieren, als archaische, grausame Täter erscheinen lässt. Nicht zufällig wurden das Schächten und die Beschneidung schon immer besonders gerne von Antisemiten aufgegriffen, sie fanden so Anschluss an Tier- und Menschenrechtler. Das Verbot des Schächtens war eines der ersten Gesetze, die die Nazis 1933 erließen. Um Juden als Täter bezeichnen zu können, muss der gemeine Antisemit heutzutage auf Israel verweisen. Beim Schächten und Beschneiden jedoch kann er auch den nichtisraelischen Juden aus seiner Opferrolle reißen und ihn der Barbarei überführen.
Man kann die Beschneiderei für Hokuspokus halten und religiöse und ethnische Identitätshuberei rundweg ablehnen, aber dass es Juden nach der Shoa wichtig ist, sich durch die Beschneidung zu ihrem Jüdischsein – was immer das für den Einzelnen auch bedeutet – zu bekennen, das lässt sich doch nicht einfach so beiseite wischen! Es lassen eben nicht nur religiöse Juden ihre Söhne beschneiden. Das als archaisch zu diffamieren, ist perfide. Matthias Küntzel hat dies auf Perlentaucher ausführlich dargelegt. Der Aspekt des Antisemitismus muss bei der Debatte unbedingt mitdiskutiert werden.

Das Fazit
Nur zwei Themen der Debatte sind relevant: die Kritik des Kulturrelativismus und des Antisemitismus. Gerade sie offenbaren jedoch ein Problem der linken israelsolidarischen Szene: Judentum und Universalismus sind nur begrenzt kompa­tibel. Vielleicht ist das kosmopolitische, nicht missionierende Judentum leichter mit universalistischen Vorstellungen vereinbar als andere Religionen. Es ist aber letztlich doch – zumindest auch – eine Religion, eine ethnisch aufgeladene noch dazu. Das scheinen einige wackere Antisemitismusgegner glatt vergessen oder verdrängt zu haben.