Judith Butler, Adorno und Israel

Kein Objekt, nirgends

Am 11. September erhält Judith Butler den Adorno-Preis der Stadt Frankfurt. Alex Gruber und Tjark Kunstreich erläutern aus ­diesem Anlass, warum die Queer Theory statt gegen gesellschaftliche Unterdrückung inzwischen lieber gegen Israel kämpft.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie wenig Judith Butlers Denken mit Theodor W. Adorno zu tun hat, dann wäre er mit der Verleihung des nach ihm benannten Preises erbracht: Nicht nur, dass es mit Jean-Luc Godard schon einmal einen Preisträger gab, der mit antisemitischen Ausfällen von sich Reden machte; seit Jürgen Habermas und Jacques Derrida diese Auszeichnung erhalten haben, hat sie sich endgültig als »Goldene Himbeere« der Sparte Philosophie erwiesen. Viel bezeichnender ist aber Butlers Adorno-Rezeption selbst, die sie in den 2002 gehaltenen und 2007 unter dem Titel »Kritik der ethischen Gewalt« auf Deutsch erschienen Adorno-Vorlesungen dargelegt hat.
Darin überrascht Butler mit der Erkenntnis, es sei Adorno gar nicht um eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegangen, da dies einen Maßstab von wahr und falsch impliziere, der notwendig Züge des Totalitären trage. Vielmehr habe er eine »Ethik der Anerkennung« formuliert, die die Achtung aller im Bestehenden sich äußernden Differenzen fordere und so Herrschaft und Diskriminierung verhindere. Letztlich sei es Adorno um die »Dekonstruktion des Menschlichen« gegangen, indem er versucht habe, das »Subjekt als Grund­lage der Ethik zu entfernen«. So versucht Butler, die sich in ihren Vorlesungen kaum zufällig häufiger als auf Adorno auf Michel Foucault bezieht, jenen zum Kronzeugen eines Projekts zu machen, das das Inhumane nicht als Gegensatz zum Humanen, sondern als dessen notwen­dige Grundlage ansieht, und plädiert für eine Philosophie der absoluten Immanenz, da man andernfalls gar nicht anders könne, als in »moralischen Narzissmus« zu verfallen.
Mit Adorno hat das alles natürlich nichts zu tun. Er schreibt in der »Negativen Dialektik«: »Immanente Kritik hat ihre Grenze daran, dass schließlich das Gesetz des Immanenzzusammenhangs eins ist mit der Verblendung, die zu durchschlagen wäre.« Adorno greift hier den Marxschen Gedanken auf, dass die Menschheit noch im Zustand der Vorgeschichte lebt, insofern im Stande der Herrschaft aller Fortschritt stets noch untrennbar dem Mythos verhaftet bleibt. Er schreibt über das Bilderverbot im Judentum, die Grundlage jeder Transzendenz: »Der Materialismus säkularisierte es, indem er nicht gestattete, die Utopie positiv auszumalen; das ist der Gehalt seiner Negativität. Mit der Theologie kommt er dort überein, wo er am materialistischsten ist. Seine Sehnsucht wäre die Auferstehung des Fleisches.«

Queerness und Homophobie

Heute scheint es selbstverständlich, dass queer irgendwie alles ist, was sich selbst eine Abweichung von der Norm zuschreibt. Niemand will heute mehr normal sein, also sind alle queer, denn jede sexuelle Differenz, jeder Fetisch wird zum Bestandteil einer Identität. Was im Interesse der Entpathologisierung der verschiedenen Formen sexuellen Begehrens legitim ist, wird in einem ganz anderen Zusammenhang zum Problem: dort, wo es zur repressiven Vergleichung des Unvergleichlichen unter dem Primat »queer« kommt. Trennungen und die mit ihnen geschaffenen Begriffe verschwimmen, wenn etwa sadomasochistisches und homosexuelles Begehren behandelt werden, als wären sie einfach nur gleichermaßen sexuelle Identitäten. Es dürfte sich aber herumgesprochen haben, dass es das sadomasochistische Begehren sowohl homo- wie heterosexuell gibt und dass ein Mann, der gern Frauenkleider trägt, weder trans- noch homosexuell sein muss. Historisch gibt es eine Verwandtschaft der Subkulturen, die aber mehr mit der gesellschaftlichen Unterdrückung als mit wirklichen Gemeinsamkeiten zu tun hat.
Die Toleranz gegenüber der Homosexualität und den Homosexuellen ist also nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass heute alle queer sind. Die Betonung einer gewissen Anormalität schlägt jedoch um in Ignoranz gegenüber der Homophobie, die eben nicht in dem Maße verschwindet, wie sexuelle Differenzen scheinbar anerkannt werden. Vielmehr ist es so, dass der Hass auf Schwule keineswegs nachlässt, eben weil die Differenz des gleichgeschlechtlichen Begehrens nicht ohne weiteres überschritten oder integriert werden kann, im Gegensatz zu anderen Formen des Begehrens. Butler hat mit ihrer Weiterentwicklung der Trennung von Gender und Sex durchaus dazu beigetragen, bestimmte Verallgemeinerungen in Frage zu stellen – vor allem jene Kategorien, die mit Begriffen wie Frau, Lesbe, Schwuler verbunden sind. Ihr gelten diese Kategorien jedoch als Sprechakte und Performanzen jenseits des Begehrens, und Begehren heißt nach Freud: nicht anders und nicht ohne dieses eine Objekt zu können. Ein solch unausweichliches Begehren aber gibt es bei Butler nicht, es erscheint bei ihr stattdessen, als wäre eine Entscheidung darüber möglich, wie sich jemand zu seinem Begehren stellt. Dass es im Begehren eine Kompromissbildung gibt, die zwischen dem phantasierten und dem realen Objekt, zwischen dem Wunsch und der Wirklichkeit vermittelt, wird ignoriert – es gibt bei Butler keinen anderen Wunsch als die Wirklichkeit und die Wirklichkeit ist nichts anderes als der Wunsch, weil das Begehren nicht dem Trieb entspringt, sondern nur sprachlich, also sozial vermittelt, überhaupt existiert.
Das wird dort evident, wo Butler den Ausgangspunkt ihres philosophischen Projekts benennt: »Während der Aids-Krise (die übrigens andauert, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent) habe ich über den Skandal geschrieben, dass Homosexuelle ums Leben kommen, ohne dass explizit und öffentlich um sie getrauert wird. Es war, als hätte es ihr Leben nie gegeben und als wäre es kein wirklicher Verlust. Diese Situation hat sich geändert, doch am Anfang gab es sehr wenig öffentliche Beachtung für diesen Verlust und ich war der Meinung, dass sich Homophobie darin ausdrückt, dass man Schwule und Lesben als ›unbetrau­erbares Leben‹ ansieht«, sagte sie vor zwei Jahren in einem Interview mit der Jungle World, nachdem sie den Zi­vilcourage-Preis des Berliner CSD abgelehnt hatte. Der Skandal liegt demnach gar nicht so sehr im Tod der Schwulen selbst, sondern darin, dass nicht öffentlich um sie getrauert wurde. In Butlers Rückschau auf die Aids-Krise geht es in der Hauptsache auch nicht darum, was real geschehen ist – die explizite Todesdrohung, die in jenen Jahren für Homosexuelle bestand, wird geradezu geleugnet, wie sie heute die Vernichtungsdrohung gegen die Juden in ihrem Engagement gegen Israel leugnet. Tod und Vernichtungswunsch als solche scheinen für Butler kein Problem zu sein, weil menschlichem Sein oder Nichtsein von ihr nur noch in der Sprache Realität zugesprochen wird. Butler findet sich mit dem Tod im Vorhinein ab und will nur noch darüber reden, wie über den Tod geredet wird.
Von der queeren Bewegung, die in den USA der achtziger Jahre den Kampf mit der Gesellschaft aufnahm, um der Drohung mit Ausgrenzung bis zur Vernichtung zu begegnen, zur Queer Theory als Leugnung des Unbewussten und des Leibes, als Affirmation des gesellschaftlichen Zwangs; von der erfolgreichen Auflehnung gegen den Tod im Zeichen des Verlusts geliebter Menschen zur Leugnung der körperlichen Bedingtheit des Subjekts; von der selbstbewussten Kritik der sexuellen Minderheiten an der Infragestellung des eigenen Lebens zum Triumphdiskurs eines kollektiven Narzissmus, mittels dessen sich Heterosexuelle als »queer« identifizieren können, nur um damit die real existierenden Homosexuellen ein weiteres Mal auszugrenzen, indem sie mittels der Queer Theory den Vernichtungswunsch gegen die tatsächlich Queeren leugnen: Dieser Weg war alles andere als zwangsläufig. Wie aus dem Kampf einer Bewegung ­gegen Ausgrenzung und Aids eine Theorie entstehen konnte, deren hervorstechendster Zug eine neue Leugnung ist – die Leugnung der Vernichtungsdrohung gegen emanzipierte Frauen, Juden und Homosexuelle durch den Jihadismus –, das ist mithin erklärungsbedürftig.

Der Kampf gegen den Tod

Die Queer Theory stellte zunächst eine Reflexion des gesellschaftlichen Bruchs der Aids-Krise dar, eine Möglichkeit der Rationalisierung also. Es war und ist notwendig, diesen Bruch zu rationalisieren, was ja sowohl heißt, etwas rational nachzuvollziehen, als auch das, was nicht gefühlsmäßig verstanden werden kann, abzuwehren, indem es auf die Verstandesebene gehoben wird, ohne verarbeitet worden zu sein. Der Begriff, mit dem die Situation während der Aids-Krise beschrieben wurde, die in den USA vor 25 Jahren ihren Höhepunkt erreichte, war Krieg. »Es war der Anfang vom Ende der Welt, aber nicht alle Leute merkten es sofort. Man­che starben. Manche waren beschäftigt. Manche waren beim Hausputz, während im Fernsehen der Kriegsfilm lief.« So beginnt der Roman »People in Trouble« der amerikanischen Autorin Sarah Schulman, der 1990 in den USA erschien. Schwule Männer starben, oft unter unwürdigsten Bedingungen; was die Krankheit nicht selbst vermochte, das besorgten Politik und Gesellschaft. Aids wurde in den ersten Jahren in den USA als Strafe Gottes für die Schwulen und Junkies angesehen. Krankenhäuser weigerten sich, Erkrankte aufzunehmen; Busfahrer verwehrten Leuten die Mitfahrt, von denen sie dachten, sie hätten Aids. Die gesellschaftliche Hysterie nahm immer absurdere Formen an, während immer mehr Menschen einen furchtbaren Tod starben. Der Aktivist Vito Russo erklärte auf einer Demonstration 1988: »Mit Aids zu leben, ist wie einen Krieg zu erleben, der nur die Leute betrifft, die in den Schützengräben hocken. Jedes Mal, wenn eine Granate explodiert, siehst du dich um und entdeckst, dass du wieder mehr Freunde verloren hast, aber niemand anders nimmt es zur Kenntnis.«
In dieser Situation begannen die Communities der sexuellen Minderheiten, die bis dahin nebeneinander existiert hatten, zusammenzuarbeiten, und der Begriff »queer«, der im Amerikanischen jede Form der Abweichung bezeichnet, wurde zum Synonym für dieses Bündnis. Der gemeinsame Gegner war nicht nur die Krankheit, sondern eine Gesellschaft, die Leute dahinsiechen ließ, weil sie anders waren. »Queer« war keine Theorie, sondern ein Sammelbegriff für jene Einzelnen und Gruppen, die ihrem Erschrecken über den offenen Vernichtungswunsch gegen sexuelle Minderheiten in Aktionen Ausdruck verliehen. Nach Jahren, in denen man die Freunde hatte sterben sehen und damit beschäftigt war, Orte für Trauerfeiern und Gräber für die Verstorbenen zu finden, war es genug. 1987 gründete sich die »Aids-Coali­tion to unleash power«, die unter der Abkürzung ACT UP für spektakuläre Interventionen gegen die staatliche Gesundheitsverwaltung, Pharmafirmen sowie Politik und Kirchen bekannt wurde. Kraft zu entfesseln, um mit den Mitteln der historischen Bürgerrechtsbewegung dafür zu sorgen, dass die Krankheit bekämpft wird und nicht die Kranken, darum ging es – nicht um Identitäten, die sich performativ herstellen lassen, sondern um den Kampf gegen den Tod.
Wie kann es sein, dass Sarah Schulman 20 Jahre später, im Winter 2011, in der New York Times über Israel schreibt, dass schwule Soldaten und die Offenheit Tel Avivs unzulängliche Indikatoren für Menschenrechte seien? Als prominente Vertreterin einer, wie sie es nennt, weltweiten schwullesbischen Bewegung gegen die israelische Besatzung wendet sie sich gegen das »Pink Washing« Israels. Die Rechte der Homosexuellen würden, so schreibt sie, für PR-Zwecke missbraucht, um die israelische Besatzung zu rechtfertigen.
»Silence = Death« war die Parole von ACT UP. Angesichts der Situation von Schwulen und Lesben in großen Teilen der Welt – namentlich in islamischen Staaten und Communities – scheint es widersprüchlich, weshalb das Lamento über das »Pink Washing« einhergeht mit dem beredten Schweigen über die Verfolgung und Ermordung von Schwulen. Schulman, die sich ebenso wie Butler mit der Geschichte von ACT UP schmückt, möchte die Strategien aus den achtziger Jahren gegen Israel wiederbeleben, zu diesem Zweck hielt sie im Sommer 2011 in New York einen Workshop ab. Die Verbindung zwischen dem Kampf gegen Aids und dem Hass auf Israel wird heute von ihr selbst hergestellt, aber es war ein langer Weg dorthin, denn der intellektuelle Verfall, der in dieser Parallelisierung zum Ausdruck kommt, ging einher mit dem langen Marsch durch die universitären Institutionen und mit der Entwicklung der Queer Theory, die sich des Körpers zugunsten des Diskurses und des Lebens zugunsten des Todes entledigte.
Die Queer Theory dient nicht der Reflexion der Ausgrenzungserfahrung, sondern tilgt sie. Aids wurde so von einer tödlichen Krankheit, an der Menschen sterben, zu einem Diskurs, in dem die Toten zu Signifikanten gerieten. Diese Selbstentleibung begann, bevor die queere Bewegung ihr Ziel erreichte und zugrundeging. Kaum jemals ist es gelungen, in wenigen Jahren eine für Minderheiten so bedrohliche Situation zu verändern. Die relative Integration sexueller Abweichungen schaffte Raum für wirkliche Trauer und Auseinandersetzung mit dem Verlust, die gesellschaftliche Anerkennung führte aber zugleich zu einer gewissen Anpassung. Statt Erleichterung zu empfinden, waren jedoch gerade die Linken unter den Aktivistinnen und Ak­tivisten bitter enttäuscht. Ihr Traum war nicht der amerikanische Traum, sondern – zu dieser Zeit noch unbestimmt – bereits ein anderer. Die Abrechnung mit den Minderheiten, die mit der gesellschaftlichen Anerkennung zufrieden waren, begann. Wenn Queer Theory heute von »Homonationalism« und »Pink Washing« spricht und meint, weiße Schwule seien in der kapitalistischen Gesellschaft angekommen und würden nun ihre westlichen Privilegien gegen die Palästinenser verteidigen, so ist das nicht nur eine Reprise der Leninschen Theorie von der Arbeiter­aristokratie, die sich habe bestechen lassen. Queer Theory ist vielmehr Ausdruck der Selbstzerstörungstendenz, die jedem Emanzipationsprozess innewohnt; im Vergleich zu anderen historischen Tendenzen, wie etwa der jüdischen Assimilation um die letzte Jahrhundertwende, fehlt ihr jedoch die Idee des Fortschritts. Mehr noch, in der Behauptung, dass es so etwas wie Fortschritt gar nicht geben könne, sondern einzig Verschiebungen in den Effekten der Macht, wird die Idee der Emanzipation überhaupt obsolet – und so ist es nur konsequent, in Israel als der staatgewordenen Emanzipation der Juden den Hauptfeind zu entdecken.

Körper ohne Leib

Butler begreift Aids weniger als Krankheit, von der leibliche Individuen befallen sind und die – so sie ausbricht, was sich mittels moderner Medikamente zum Glück relativ gut unterdrücken lässt – in der Regel tödlich ist. Aids wird vielmehr als ein Diskurs aufgefasst, der bestimmte sexuelle Dispositionen reglementiert und diszipliniert. So spricht Butler davon, dass in »homosexuellenfeindlichen Diskursen« Aids als eine Folge von Homosexualität verstanden und Homosexualität zur Gefahr gemacht werde. Das Aufkommen der Krankheit war damit verbunden, dass bestimmte Formen der Sexualität, die gesellschaftlich als abweichend galten, in einen unmittelbaren Zusammenhang mit Aids gebracht und stigmatisiert wurden.
Wie konnte es zu dieser Verschiebung kommen? Das postmoderne Denken tritt bekanntlich als Kritik dessen auf, was ihm moderne Subjektphilosophie heißt: Es kritisiert ein Denken, dass davon ausgeht, dass es ein Subjekt gebe, das sich auf ein ihm äußerliches Objekt richten könne, ein Subjekt, das glaubt, dieses äußerliche Objekt – etwa als Natur oder Körper – erkennen und begrifflich bestimmen zu können. Dagegen setzt die Postmoderne die Vorstellung, das Subjekt sei eine von der Macht oder vom Diskurs hervorgebrachte Konstruktion, die sich materialisieren müsse, um Bestand zu haben. Das Subjekt schaffe sich so selbst ein Objekt, und es müsse dieses Objekt schaffen, um als Subjekt auftreten zu können. Es schaffe sich »performativ« einen Körper, der es umgrenzen und ihm Sicherheit geben solle und in dem es einzig als Subjekt existieren könne. Der Körper oder die Natur sollen also keine vom Denken unterschiedenen Kategorien sein, die zwar nur durch Denken erkannt werden können, aber diesem Denken eben auch äußerlich sind. Vielmehr werden sie in Denken und Sprache aufgelöst.
Die dekonstruktive Diskurstheorie kennt also keine leibhaften Körper. Sie fasst diese immer nur als Materialisierung diskursiver Praxen auf, im Laufe derer erst hervorgebracht werde, was von ihnen selbst benannt wird. Damit wird der Einzelne zur leiblosen »Identitätsmarke« des Diskurses entqualifiziert, die als solche »a-septisch« sei und »weder Fleisch noch Bein« besitze, wie der Soziologe Sven Opitz in einer affirmativen Analyse der Subjekttheorien von Michel Foucault, Giorgio Agamben und Butler konstatiert. Der Körper soll also keine Naturkategorie sein.
Die Dekonstruktion möchte erweisen, dass es vor und außerhalb der Sprache nichts gebe, worauf das Denken sich beziehen könne. Vielmehr schaffe sich jeder Versuch, auf Außersprachliches zu reflektieren, weil er in der Sprache stattfinde, selbst den Gegenstand, über den er spreche. Der Versuch, etwas über den Körper auszusagen, bringe diesen also überhaupt erst hervor. Der Körper ist als Ausformung eines spezifischen Diskurses gedacht, der mit dem Subjekt zugleich dessen Körper konstituiert. Das ist auch der Grund dafür, warum Butler gerade in Drag die Wahrheit von Sexualität sieht, liege doch hier der Charakter der Inszenierung, der mittels Naturalisierung sonst verschwiegen werde, offen zutage.
Deshalb schreibt Butler in »Körper von Gewicht«, das »Ich« gehe »dem Prozess der Entstehung von Geschlechtsidentität weder voraus, noch folgt es ihm nach, sondern es entsteht nur innerhalb der Matrix geschlechtsspezifischer Beziehungen und als diese Matrix selbst«. Es gibt also kein Ich, kein Bewusstsein, keinen Geist, die der Natur, dem Körper, dem Geschlecht gegenübertreten könnten; es gibt kein Subjekt, dass auf seine eigene Objekthaftigkeit und damit auf die Beziehung, in der die beiden Momente zueinander stehen, reflektieren könnte, sondern es wird ein allumfassender Zusammenhang postuliert, in dem beides »gleichursprünglich zusammenwohnt« (Heidegger) und aus dem beides in einer »Tat ohne Täter« (Nietzsche) gleichursprünglich entspringt. Der Diskurs schaffe die Einzelnen als identisches Subjekt-Objekt aus sich heraus: als Ich-Subjekt bzw. als Bewusstsein, das zugleich ein Geschlechts-Objekt, ein Körper sei.
An Butlers Buch »Das Unbehagen der Geschlechter« wurde die Kritik formuliert, sie setze eine Art sprachliche Schöpfungsszene ins Werk, indem der Körper durch den Akt der Aussprache entstehe, und nehme so die Realität des Körpers nicht ernst genug. Butler widersprach dem, indem sie in »Körper von Gewicht« antwortete, dass diese Vorstellung ein sprechendes Subjekt impliziere, das durch bewusste Anrufung bewusst einen Körper konstituieren könne. Weder gebe es jedoch solch ein Subjekt, noch sei die Sprache rein ideell, vielmehr sei das Zeichen, in dem der Diskurs erscheine, stets schon materiell, und durch diese Materialität sei die Idealität der Zeichen von vornherein »verunreinigt«. Dies verweise auf etwas, »was weder materiell noch ideell ist, sondern was als der Einschreibungsraum, in dem jene Unterscheidung auftritt, weder das eine noch das andere ist. Es ist dieses Weder/Noch, das die Logik des Entweder/Oder ermöglicht, welche den Idealismus und den Materialismus zu ihren Polen macht.«

Krankheit als Diskurs

Im Denken und seinem Diskurs liegt für Butler eben doch die Materialität des Körpers beschlossen: »Es muss möglich sein, ein ganzes Arsenal von Materialitäten zuzulassen und zu bejahen, die dem Körper zukommen – das Arsenal, das mit den Bereichen der Biologie, Anatomie, Physiologie, hormonaler und chemischer Zusammensetzungen, Krankheit, Alter, Gewicht, Stoffwechsel, Leben und Tod bezeichnet ist.« Dieses Materialitäten werden aber im selben Atemzug als konstruierte erklärt: »(J)ede dieser Kate­gorien (hat) eine Geschichte (…) und (besitzt) Geschichtlichkeit«, »jede einzelne von ihnen (wird) durch die sie unterscheidenden Grenzlinien (…) von dem konstituiert, was sie ausschließt.« Der Körper sei also eine Forderung, ein Referent, der Einschreibung verlange, der sprachliche Besetzung fordere und sich materialisiere gegen das, was aus ihm ausgeschlossen wird. Er ist für Butler nichts als eine »Antizipation, ein konjunktivischer Entwurf«. Hier kann man wie in einem Brennspiegel den ihrer Gendertheorie zugrundeliegenden erkenntnistheoretischen Trick erkennen, der auf einem tautologischen Zirkel beruht: Der Köper sei die Mate­rialität des Diskurses, weshalb er sich im Diskurs materialisiere.
Weil er eben kein Äußeres sei, sondern bloße Immanenz, sei er kein Objekt, das erkannt werden könne. Es seien keine deskriptiven Aussagen über den Körper möglich, jede Aussage sei eine imperative: eine Aufforderung an den Körper, sich gemäß der Aussage zu verhalten und zur Materialisierung der Aussage zu werden. Eine Bezeichnung könne keine Beschreibung sein, sondern sei immer nur ein leeres Zeichen, als Anspruch und Vorgabe, die durch Identifikation wahr gemacht werden sollen. Und da solch eine Vorgabe immer nur negativ ins Werk gesetzt werden könne, indem ausgeschlossen werde, was nicht dazu gehört, stelle jede Aussage immer auch ein »Selektionsprinzip« dar. Diese Annahme ist als Behauptung der Unmöglichkeit, dass sich etwas über Natur und Biologie aus­sagen lasse, nicht nur die Grundlage von Butlers Geschlechtertheorie, sondern wohl auch der Grund, warum Aids bei ihr nur als diskursive Strategie vorkommt. Würde sie ihre eigene Theorie am Phänomen Aids durchbuchstabieren, wäre die Diagnose der Krankheit nichts als ein »leeres Zeichen«, ein performativer Signifikant, der die Krankheit durch ihre Benennung überhaupt erst schafft.
Wenn nämlich die Physiologie, die Anatomie, die Genetik nichts als diskursive Produkte sind, wie soll dann die Diagnose einer Krankheit jemals etwas anderes sein als eine perfomative Zuschreibung? Das Schließen von Erscheinungen auf ein Wesen, das die medizinische Diagnose charakterisiert, wäre gar nicht möglich, wo es so etwas wie ein Wesen gar nicht gibt. Vielmehr können die bei der Diagnose herangezogenen Symptome notwendig immer nur strategische Behauptungen sein, mit denen jemand zum Kranken erklärt und diese Krankheit auf eine Substanz zurückgeführt wird. »Kein Signifikant«, schreibt Butler, »kann radikal repräsentativ sein« – also auch der Signifikant Aids nicht.
Sollte er es doch sein, müsste Butler einen Maßstab angeben, in welchen Bereichen eine deskriptive Aussage möglich sein soll und in welchen nicht, in welchen Bereichen Sprache also performativ ist und in welchen nicht. Dies ist aber eine Unterscheidung, die sie gar nicht treffen kann, denn dann wäre der umfassende Erklärungsanspruch ihrer Theorie dementiert, die selbst in die Dialektik von Subjekt und Objekt hineingezogen würde, welche sie ja gerade zum Verschwinden bringen will. Dies erklärt dann auch, warum Aids bei Butler und in der Queer Theory immerzu in einer Form verhandelt wird, die zugleich eine spezifische Verleugnung impliziert. In dem Maß, in dem der Körper zu einer symbolischen Kategorie erklärt wird, wird auch die Krankheit metaphorisiert. Eine Theorie, die ihren eigenen Prämissen gemäß die Krankheit nur als Resultat performativer Prozesse fassen kann, kann zwar die Ausgrenzung von Aidskranken ins Auge fassen, die Krankheit selbst jedoch muss einer Verdrängung unterliegen, da schon deren Thematisierung einer Bestätigung der performativen Prozesse gleichkäme, die Aids als von der gesunden Gesellschaft deviantes Phänomen konstruieren.
Es gelte, so Butler in »Körper von Gewicht«, ein »Gemeinwesen zu schaffen, in dem das Über­leben mit Aids eher möglich wird, in dem queer-Leben entzifferbar, wertvoll und unterstützenwert werden«, und daher »die eigentliche Bedeutung dessen, was in der Welt als ein geschätzter und wertvoller Körper gilt, zu erweitern«. Hier wird queeres Leben mit Aids auf eine Weise kurzgeschlossen, die impliziert, dass Queerness nicht mehr negativ bestimmt ist als Kampf gegen Krankheit und Tod, sondern positiv als Identität, der Anerkennung verschafft werden soll. Wenn Butler gegen die herrschende Ausformung des Diskurses aufbegehren möchte, wenn sie den Raum des Symbolischen dahingehend resignifizieren möchte, dass Aidskranke als vorher aus diesem Raum Ausgeschlossene die Möglichkeit der Artikulation und damit der Bezeichnungs- bzw. Benennungsmacht erhalten, dann wird aus der Krankheit ein alternativer Lebensentwurf gemacht, für den Anerkennung und Respekt einzufordern sei.
Heute scheint das gar nicht so weit hergeholt, denn Aids ist in den westlichen Staaten zu einer chronischen Erkrankung geworden, mit der viele Patienten lange leben können. Das medizinische Regime jedoch, unter dem sie stehen, setzt eine Lebensweise voraus, die ganz der Medikation gehorcht, so dass es kaum eine Möglichkeit gibt, den Kampf gegen die Krankheit einmal zu vergessen. In diesem Sinne sind aber viele chronische Krankheiten mittlerweile zu Lebensweisen geworden. Dass Aids heute seinen Schrecken zumindest in einigen Teilen der Welt verloren hat, ist jedoch selbst ein Resultat gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Am Ende der queeren Bewegung und am Anfang der Queer Theory stand die Verwandlung von Lebenstatsachen in kulturelle Eigenheiten: Armut ist demnach nicht mehr Elend, sondern ein Zustand, in dem mit wenig Mitteln auszukommen ist; Diskriminierung ist nicht mehr Ausgrenzung aus der Konkurrenz, sondern wer diskriminiert wird, ist mit negativer Anerkennung geadelt; Behinderung und Krankheit sind nicht mehr furchtbare Schicksalsschläge, sondern Aspekte des Soseins der Individuen, das als solches anzuerkennen ist und über dessen Qualität nichts ausgesagt werden kann.
Diese Aufrechnung von »Unterdrückungsmechanismen« zielte ursprünglich auf den weißen, heterosexuellen Mann, der in dieser Logik die meisten Privilegien genießt. Zu den weißen Männern zählten jedoch auch die schwulen weißen Männer, die nicht nur in großer Zahl an Aids gestorben, sondern vor allem Zielscheibe des Hasses gewesen sind. Ihnen, denen die Schuld an der »Schwulenseuche« gegeben wurde, die aber glücklicherweise die ökonomischen und publizistischen Mittel besaßen, sich dagegen zur Wehr zu setzen, wurde nun vor­geworfen, die anderen Opfer unsichtbar zu machen. Dass das erstens nicht stimmte – schließlich waren es schwule Männer, die als erstes den Spritzentausch in New York und San Francisco organisierten – und sie sich das zweitens gar nicht aussuchen konnten, weil ihnen die Rolle des Brunnenvergifters gesellschaftlich auferlegt wurde, zeugte schon Anfang der neunziger Jahre von der Problematik dieser Kulturalisierung. Dass die Homophobie zumindest insofern ähnlich wie der Antisemitismus funktioniert, als sie an den scheinbar Privilegierten ­ihren Hass auf das zugleich Ersehnte wie Gefürchtete ausagiert, musste verdrängt werden.

Die totale Immanenz

Homophobie wurde so zu einem Gemeinplatz, der die spezifische Erfahrung der Aids-Krise, in der der Vernichtungswunsch gegen jene, die anders sind, zur handfesten Drohung geworden war, wieder zum Verschwinden brachte. In der queeren Geschichtsschreibung wird die Diver­sität der Bewegung betont, aber nur, um den weißen schwulen Männern den Ehrenplatz zu verweigern, den sie verdient hätten – darunter zahllose Unbekannte, aber auch Berühmtheiten wie Vito Russo oder der Filmstar Rock Hudson, dessen Bekenntnis zu seiner Homosexu­alität und zu seiner Erkrankung 1985 das erste Mal eine Welle der Unterstützung hervorrief. Zum einen geht es der Queer Theory also um Bezeichnungen, die eine wirkliche gesellschaftliche Anerkennung herstellen sollten. Die richtige Bezeichnung im Sprechen galt als gleichbedeutend mit einer im sozialen Kampf errungenen Anerkennung, als wenn sich die Bürgerrechts­bewegung der fünfziger und sechziger Jahre ausschließlich um die Frage gedreht hätte, ob man »Neger« oder »Schwarzer« sagt. Auf der anderen Seite dienten und dienen diese Sprachregelungen der Nichtanerkennung der Wirklichkeit, als könne per Sprache die Ideologie ausgeschaltet werden, die zwar immer sprachlich vermittelt ist, aber auf Denkinhalte zielt, die gesellschaft­liche Verhältnisse repräsentieren. Wer also behauptet, die weißen schwulen Männer seien privilegiert, weil sie weiß und Männer seien, braucht nicht zur Kenntnis zu nehmen, warum denn ausgerechnet die weißen schwulen Männer im Fadenkreuz der Homohasser standen und stehen.
Butlers Anspruch an ihre Theorie ist, eine »dynamische Landkarte der Macht zu zeichnen, in der Identitäten gebildet und/oder ausgelöscht, eingesetzt und/oder lahmgelegt werden«, um zu einer Politik zu gelangen, »in der die Identität dynamisch im Dienste eines größeren kulturellen Kampfes für die Neuartikulation und Ermächtigung von Gruppen steht«. Dies sei, wie sie in »Körper von Gewicht« postuliert, durch die Auffassung von Bestimmungen wie Geschlecht als Performativität zu leisten. Sie betont ausdrücklich, dass nur, indem man Bestimmung als performativen Auftrag statt als Zustandsbeschreibung begreife, Veränderung möglich sei. Nur, wenn etwas nicht feststehe, sondern erst durch Zitieren und Wiederholen eines gegebenen Signifikanten materialisiert werden müsse, bestehe die Möglichkeit der Dekonstruktion. Abgesehen davon, dass die Erkenntnis von etwas in seinem An-Sich natürlich keineswegs dessen Veränderbarkeit ausschließt, degradiert Butler den Wahrheitsbegriff damit zu einer bloßen Funktion politischer Strategie. Wahr ist für sie nicht eine Aussage, die die Beziehung eines Subjekts zu einem Objekt auf den Begriff zu bringen trachtet, sondern vielmehr, was im von ihr stets schon vorausgesetzten politischen Kampf der Dekonstruktion Erfolg verspricht: »Die offenhaltende und performative Funktion scheint mir ganz wesentlich zu sein für einen radikaldemokratischen Begriff von Zukünftigkeit.«
Der Begriff der Performativität reflektiere, dass der Diskurs das Objekt überhaupt erst konstituiere, womit diesem Objekt außerhalb des Diskurses keine eigenständige Existenz zukomme. Die Beschreibung hingegen, die sich auf ein außerhalb der Sprache liegendes Objekt bezieht, geriere sich, als ob das Objekt spreche und demjenigen, der beschreibt, erzähle, wie es sei. Das sei jedoch nur eine diskursive Strategie des Beschreibenden, der damit die auf ewig unabgeschlossene Wahrheitsproduktion autoritär stillstellen wolle. Darin verhalte er sich, so sagt Butler in einer bezeichnenden Formulierung, wie einer, »der das Wort vom Felsen entgegennimmt und uns vom Berg hinab überbringt«. In dieser Invektive gegen das Mosaische Gesetz liegt der antisemitische Affekt bereits beschlossen. Die Performativiät der Begriffe und damit die Möglichkeit zur Resignifizierung im Sinne eines »falschen Zitierens«, all das wird von Butler als »Organisationsprinzip zur Formierung politischer Gruppen« eingeführt und damit der Begriff ausschließlich als Kampfbegriff, als Begriff des Kampfes um Hegemonie bestimmt.
Insofern der Körper eine Forderung in der Sprache und an die Sprache sei, insofern menschliches Leben ohne performative Benennung nicht möglich sei, könne der Einzelne seiner Inanspruchnahme durch die Einschreibung niemals entgehen. Die Gewaltsamkeit der Benennung ist demnach nicht abzuschaffen – ihr ist lediglich abzuhelfen, indem sie anders gestaltet wird. Die Beherrschung der Einzelnen durch den Diskurs ist für Butler ein unaufhebbares Moment sozialen Lebens, weshalb auch die Begriffe der Beherrschung nicht aufhebbar seien, sondern bloß anzueignen in einer Form, die sie »auf eine Zukunft hinlenkt, die mehr ermöglicht«. Gesellschaftliche Herrschaft wird zur unaufhebbaren Vorgängigkeit der Sprache bzw. des Diskurses und damit zu einem ewigen Existenzial erklärt, in das man sich einzufühlen habe: als Gemeinschaft, die sich in einem ewigen Zirkel von Erringung und Zerstörung der Benennungsmacht befinde – in einem Kampf gegen das Denken also.
Indem sie jedes über diese absolute Immanenz hinausgehende Denken als Ausdruck moderner Subjektherrschaft und Selbstzurichtung denunziert, gerät fast wie von selbst der Zionismus in Butlers Blickfeld: als jene politische Bewegung, die sich mit der Opferrolle der Juden nicht abfinden wollte, sondern diese durch die Schaffung eines verteidigungsfähigen Staates beenden oder zumindest eindämmen will. Indem er den jüdischen Staat schaffe, spalte der Zionismus »die im Herzen unserer selbst« liegende »Ununterscheidbarkeit zwischen dem anderen und uns« auf und entfliehe so, wie Butler in ihren Adorno-Vorlesungen, aber auch in ihren »Politischen Essays« ausführt, der irreduziblen Gemeinsamkeit menschlichen Lebens, um seine Souveränität durch die Verfolgung und Vernichtung des gewaltsam ausgeschlossenen Anderen zu errichten. Die radikale Verpflichtung aufs Bestehende, die sich in ihrer Rationalisierung gesellschaftlicher Herrschaft als uneinholbare Vorgängigkeit des diskursiven Zusammenhangs reflektiert, bricht sich im altbekannten Ressentiment Bahn: Die Juden zerstören die eigentlich stets schon gegebene Einheit und gehen ihren auf Unterdrückung gegründeten Sonderweg.
Wenn man sich vor Augen führt, dass die Queer Theory während des Kampfes gegen Aids entstand – »Das Unbehagen der Geschlechter« erschien im US-amerkanischen Original 1990 –, erweist sie sich als Versuch einer Abspaltung des Unerträglichen: Die Frage von realem Sein oder Nicht-Sein, der Kampf gegen reale Verfolgung und Bedrohung des Lebens, wird in die Frage von diskursiver Anerkennung oder Nicht­anerkennung überführt. Heute kann Butler diesen voluntaristischen Trick an den heterosexuellen Mainstream verkaufen, der ebenfalls etwas zu leugnen hat und dafür dringend die ­geeigneten Zauberformeln braucht. Die Queer Theory nahm Zuflucht in der Leugnung des ­Todes und des Leidens, weshalb sie keinen Begriff von Trauer hat, die dem wirklichen psychosomatischen Prozess entspräche. Vielmehr sind die weißen schwulen Männer, die sich am Strand von Tel Aviv sonnen, ihr zum Stein des Anstoßes geworden: Sie richteten sich in der Welt nach der Aids-Krise ein, so gut es ging, um zu leben, und verteidigen ganz unpathetisch die erkämpften Privilegien – Trauer und Kompromissbildung sind eng miteinander verbunden. Und sie sind es, die die Queer Theory, ohne es zu wollen, daran erinnern, dass die theo­retische Leugnung des Leiblichen nur ein Trick gewesen ist.

Der Text ist die überarbeitete, redaktionell gekürzte Fassung eines Vortrags, der 2011/12 im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Queerograd« in Graz und Wien ­gehalten wurde.