Über die Schacholympiade in Istanbul

Ich-Schwarz gegen Ich-Weiß

Bei der Schacholympiade in Istanbul fiel vor allem die Ungarin Judit Polgár auf.

Die schöne rothaarige Ungarin hat so gar nichts von Mirko Czentovic, dem fiesen Schachweltmeister in Stefan Zweigs »Schachnovelle«. Judit Polgár ist Weltrang-Erste der Frauen, spielt aber seit Jahren nur bei den Wettbewerben der Herren mit. Ihre Partie bei der Schacholympiade in Istanbul vor drei Wochen gegen den Armenier Vladimir Akopian endete zwar mit Remis und sicherte der armenischen Herren-Mannschaft die Goldmedaille – das Schachgenie konnte mit sieben von zehn gewonnen Partien jedoch seinen Platz in der Welt­spitze festigen. Enttäuscht wurden die wenigen Zuschauer bei der 40. Olympiade der Brett-Strategen. Wer den weiten Weg vom Stadtzentrum durch den dichten Istanbuler Verkehr bis zum Expo-Zentrum am Stadtrand geschafft hatte, konnte den Spielern nur von einer Besuchergalerie zuschauen – im Internet war die Weltmeisterschaft viel besser zu beobachten, denn auch die sonst üblichen Großbildschirme, auf denen man die Züge mitverfolgen kann, fehlten in Istanbul. Überraschungen gab es beim Wettbewerb kaum. Bei den Damen gewann die russische Mannschaft vor China, bei den Herren schlugen die Armenier die Russen. Auf dem dritten Platz landete bei beiden Geschlechtern die Ukraine, die deutschen Damen landeten auf Platz elf, die Herren auf Platz zwölf. Ob von der Galerie schauend oder im Internet die Videostreams verfolgend, die Welt der Zweigschen »Schachnovelle« vermochte man hier nicht wiederzufinden. Disziplin und stoische Ruhe scheinen eher die Atmosphäre des strategischen Brettspiels zu bestimmen als die menschlichen Abgründe in der Literatur.
In Zweigs »Schachnovelle« geht es nur am Rande um das Schachspiel. Der Mensch und sein Wahn, Lebensgeschichten und ihre Auswirkungen auf das Gemüt bilden den Stoff eines literarischen Psychogramms. Die Erzählung spielt an Bord eines Passagierdampfers, der sich auf dem Weg nach Buenos Aires befindet. Der Ungar Mirko Czentovic ist Sprössling einer Donauschifferfamilie und Weltmeister des Brettspiels, Zweig beschreibt ihn als introvertierten Sonderling. Die Unterentwicklung menschlicher, kommunikativer Fähigkeiten führt zu einem besonderen Konzentrationsvermögen für die strategische Planung meisterhafter Schachpartien. Der Leser verfolgt gebannt drei Partien zwischen Czentovic und Dr. B., einem eigenartigen Mitreisenden. Die erste endet mit Remis, die zweite gewinnt Dr. B, die dritte endet mit dessen psychischem Zusammenbruch. Die »Schachnovelle« schildert die Lebensgeschichte des Österreichers, nach der Annexion Österreichs durch das na­tionalsozialistische Deutschland wurde Dr. B von den Nazis in Einzelhaft gehalten und verhört, er drohte, darüber den Verstand zu verlieren. Dr. B. fängt in seiner Isolation an, die in einem Schachbuch beschriebenen Partien nachzuspielen und auswendig zu lernen. Nachdem alle Partien den Reiz des Neuen verloren haben, beginnt er, neue gegen sich selbst zu spielen. Er entwickelt dabei zwei Persönlichkeiten, das »Ich Schwarz« und das »Ich Weiß«, die beide vehement um den Sieg auf dem Brett zu kämpfen beginnen. Dies führt bei Dr. B. zu einem Zustand, den er als »Schachvergiftung« bezeichnet, er wird aggressiv und gewalttätig. In der Nazi-Haft rettet ihm der Wahn das Leben. Er wird in ein Krankenhaus eingeliefert und für unzurechnungsfähig erklärt. Auf dem Schiff scheitert er an der stoischen Langsamkeit und Geduld seines Gegners. Der, wie es in dem Buch heißt, »asoziale Charakter« des Ungarn verhilft diesem zu einer taktischen Beobachtungsgabe für die psychischen Schwächen seines Gegners.
Nervenstärke ist auch in der realen Welt sicher ein Vorteil bei jedem Wettkampf. Wenn jedoch die Weltbesten um Titel streiten, geht es vor allem um Erfahrung und Training. Judit Polgárs Vater Lazlo Polgár trainierte seine drei Töchter bereits als Dreikäsehochs. Judit Polgár gewann mit ihren Schwestern Zsusa und Zsofia sowie Ildikó Mádl zweimal Mannschaftsgold bei der Schacholympiade der Frauen – in Thessaloniki 1988 und in Novi Sad 1990. In Istanbul stellte sie ihr Buch »How I Bet Fischer’s Record« vor. Sympathisch und bescheiden wirkt die 36jährige. Sie spricht ein perfektes amerikanisches Englisch und hält etwas schüchtern das Buch in den Händen, in dem sie vor allem die Strategien ihrer wichtigsten Partien verrät. Die Budapesterin begeisterte als Teenagerin die Schachwelt. Den Titel eines Großmeisters der Männer erreichte sie 1992 im Alter von 15 Jahren und vier Monaten und übertraf damit den Rekord von Bobby Fischer. Fischer war von 1972 bis 1975 Schachweltmeister und hatte als 16jähriger den Titel gegen den Russen Boris Spasski gewonnen.
Auch die deutsche Damen-Mannschaft hat eine Schachgröße. Großmeisterin Elisabeth Pähtz steht auf Platz 18 der Weltrangliste. Die schmale, brünette 27jährige spricht schon ein wenig Türkisch. Seit Anfang des Jahres trainiert die Erfurterin in Ankara die türkische Mädchen-Mannschaft. Die türkischen Damen schafften es bei dieser Olympiade immerhin schon auf Platz 42 von 127 angetretenen Damen-Mannschaften. Der umtriebige Präsident des türkischen Schachverbands, Ali Nihat Yazici, hat durch gezielte Schachspiel-Förderprogramme an türkischen Schulen das Interesse am Brettspiel in den vergangenen zehn Jahren enorm gesteigert. Eine viertel Million Türken spielen im Schachverband. Ein großer Teil sind junge Nachwuchsspieler. »Die Bedingungen hier sind schon paradiesisch«, schwärmt Elisabeth Pähtz. Sie selbst habe eine Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondentin für Englisch und Französisch gemacht, weil es in Deutschland für sie keine Bedingungen gegeben habe, als Profispielerin ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Möglichkeit hat sie jetzt in der Türkei.
Ursprünglich ist das Schachspiel keine Erfindung des Abendlandes. Als Ur-Schachspiel wird das Chaturanga aus Indien angesehen. Chaturanga wird etwa seit dem sechsten Jahrhundert gespielt. Seine persische Version Chatrang ist der direkte Vorläufer des arabischen Schatrandsch, der Form, in der Schach ins mittelalterliche Europa gelangte. Im 13. Jahrhundert hatte sich das Schachspiel in Europa fest etabliert. Es gehörte neben Reiten, Jagen, Lanzengang, Fechten, Schwimmen und der Dichtkunst zu den sieben Tugenden der Ritter. Im 15. Jahrhundert kam es, vermutlich in Spanien, zu einer großen Reform der Spielregeln, bei denen die heute gültigen Züge für Dame und Bauer sowie die Rochaderegel erfunden wurden. In den folgenden Jahrhunderten trugen vor allem europäische Schachmeister zur Weiterentwicklung des Spiels bei. Im 18. Jahrhundert wurde das Schachspiel ein Teil der bürgerlichen Kultur. Es war auch die Zeit der großen Schachcafés, deren berühmtestes das Pariser Café de la Régence war. Ungarn gehörten bereits damals zu den passioniertesten Fans des Brettspiels. 1769 baute der ungarisch-österreichische Baron Wolfgang von Kempelen den ersten Schachroboter, der pikanterweise auch noch »Schachtürke« genannt wurde. Eine osmanisch gekleidete Puppe mit Schnurrbart und Turban saß an einem Schachtisch und schlug immer wieder berühmte Gegner, im Jahr 1785 etwa Friedrich den Großen. Tatsächlich steckte ein echter Spieler in der Puppe, dessen Identität bis heute nicht geklärt ist. Klar ist jedoch, dass er oder sie ausgezeichnet Schach spielte.