Die alltägliche Diskriminierung homosexueller Jugendlicher in Frankreich

Les Liaisons Dangereuses

Frankreich will die Homo-Ehe erlauben. Das ist die gute Nachricht. Die Organisation »Le Refuge« kritisiert jedoch, dass über dem »Prestigeprojekt« der Regierung die alltägliche Diskriminierung und Verfolgung homosexueller Jugendlicher in Vergessenheit gerät. Bernhard Schmid hat eine der Zufluchsstätten für junge Menschen, die wegen ihrer Sexualität von ihren Familien verstoßen wurden, immer wieder besucht und mit Mitarbeitern und Betroffenen gesprochen.

a, ich will.« Auch Schwule und Lesben werden in Frankreich in naher Zukunft diese Worte feierlich in einem offiziellen Rahmen aussprechen dürfen. Allerdings nicht vor einem Traualtar, denn für die christlichen Kirchen kommt es ebenso enig wie für die muslimischen und die jüdischen Gemeinden in Frage, der geplanten Homosexuellenehe auch ihren kirchlichen Segen zu erteilen. Doch in Rathäusern werden sich gleichgeschlechtliche Paare künftig das Jawort geben können.
Dadurch werden sie ebenso wie heterosexuelle Paare künftig die Wahl zwischen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft, wie sie schon seit ihrer Einführung 1999 allen Paaren offen steht, und der Eheschließung haben. Die Ehe eröffnet auch homosexuellen Paaren die Möglichkeit, Kinder zu adoptieren. So sieht es der Gesetzentwurf vor, den das französische Kabinett Mitte voriger Woche angenommen hat. Im kommenden Jahr wird er dann im Parlament debattiert werden. Nicht alle rechtlichen Fragen sind bereits hinreichend geklärt. Was geschieht, wenn ein Bürgermeister sich weigern sollte, homosexuelle Paare zu trauen? Die Regierung verhandelt über diesen Punkt derzeit noch mit dem Verband französischer Bürgermeister.
Heftige Reaktionen auf die Neuregelung gibt es bereits. So verglich der konservative Bürgermeister des großbürgerlichen 8. Pariser Arrondissements, François Lebel, die homosexuelle Heirat mit der Legalisierung von Polygamie, Inzest und Pädophilie. Und der 87jährige Rüstungsindustrielle Serge Dassault, der für die konservative Oppositionspartei UMP im Senat sitzt, meinte, Frankreich werde zu einem »Land der Homos«, das in zehn Jahren »entvölkert« sei. Es drohe eine Misere genau wie in Griechenland, sei doch die Zerstörung der Familienmoral »einer der Gründe für die Dekadenz« der Griechen. Von der sozialdemokratisch-grünen Parlamentsmehrheit wurden diese Äußerungen scharf verurteilt, in den Reihen der Konservativen wurde dagegen kein Protest laut. Konservative, Rechtsextreme, katholische Fundamentalisten und andere Gruppen wollen in den kommenden Wochen teils getrennt, teils vereint gegen die Homosexuellenehe demonstrieren. Den Anfang will die rechtskatholische Gruppierung Civitas mit einem Protestmarsch am kommenden Sonntag machen.
Homophobie ist in diesen Tagen kein Rand­thema in Frankreich, sie wird Politik, Gesellschaft und Medien in den kommenden Wochen noch ausführlich beschäftigen. Mitunter kommt es dabei auch zu überraschenden Begegnungen. Die Vereinigung »Le Refuge« (Die Zuflucht), die sich seit Jahren gegen Homophobie engagiert, wurde Ende Oktober zu einem Treffen der französischen Bischofskonferenz eingeladen. Diese hatten wie alle religiösen Organisationen im Rahmen der Debatte einen Dialog angeboten. Anfänglich verlief die Diskussion eher zäh. Die Bischöfe äußerten zunächst Respekt und Verständnis für Homosexuelle. Solange es sich nur um eine »Anziehung« gegenüber Personen des gleichen Geschlechts handele, gebe es gar kein Problem. Dieses Gefühl gehöre schließlich zur »Intimsphäre« des Einzelnen, in die man sich auch gar nicht einmischen wolle. Problematisch werde es nur, wenn dann etwa auch sexu­elle Handlungen folgten. Die betroffenen Personen könnten diese schließlich unterlassen. Etwa so, wie eine Person, die in Versuchung gerate, einen Diebstahl zu begehen, von diesem doch noch ablassen könne. Dieser Vergleich kam bei den Leuten von »Le Refuge« natürlich gar nicht gut an.
Aber das waren nicht die einzigen Dissonanzen bei dem Treffen. Als die Vertreter von »Le Refuge« fragten, ob die katholische Kirche Frankreichs denn bereit sei, den von der Organisation betreuten und beherbergten Personen, wenn diese es wünschten, etwa auch seelischen Beistand zu leisten, erklärten sich die Bischöfe zwar ausdrücklich bereit: Man lehne nie eine Bitte um Beistand ab. Als die Gesprächspartner von »Le Refuge« insistierten, ein Diskurs, der faktisch auf ein moralisches Verbot von homosexuellen Handlungen hinauslaufe, sei gerade für in ihrer eigenen Familie diskriminierte und in einer persönlichen Krise steckende junge Homosexuelle »gefährlich«, antworteten die Kirchenvertreter beschwichtigend. Es gebe seit einigen Jahren von der Kirche anerkannte Vereinigungen von Homosexuellen katholischen Glaubens. Ihnen werde man eine solche Aufgabe anvertrauen. Es war eine Einladung an Homosexuelle, die einer Ausladung gleichkam. In ihrer Presseerklärung zu dem Treffen kritisierte »Le Refuge«, dass sich die katholische Kirche »in ihren Widersprüchen« verheddere.
Seine Hauptaufgaben sieht »Le Refuge« darin, von ihren Familien verstoßene, in ihrem persönlichen Umfeld diskriminierte und oft akut von Selbstmord gefährdete junge Homosexu­elle zwischen 16 und 25 Jahren aufzunehmen. Zu diesem Zweck verfügt die Vereinigung an fünf Orten in Frankreich über Einrichtungen, in denen auch Wohnplätze angeboten werden. Die erste Einrichtung dieser Art entstand in Montpellier, dann kamen Paris und die Großstädte Marseille, Lyon und inzwischen auch Toulouse hinzu. Derzeit verfügt »Le Refuge« über insgesamt 40 Plätze in diesen Städten. Der Prä­sident und Gründer der Vereinigung, Nicolas Noguier, berichtet auf einer Warteliste stünden noch mindestens 20 weitere Personen, für die dringend eine Unterkunft gesucht werde, weil der weitere Aufenthalt in der Familie unmöglich oder gefährlich sei oder aber weil die Jugendlichen bereits als Obdachlose auf der Straße lebten. Er würde gerne auch in Deutschland eine vergleichbares Zentrum eröffnen, sagt er bei unserem Gespräch.
Für ihre Arbeit hat die Organisation längst Anerkennung erfahren, auch seitens der offiziellen Institutionen. Im Juni wurde Nicolas Noguier im Elyséepalast empfangen. 45 Minuten lang diskutierte er mit Pierre Besnard, dem Büroleiter des neu gewählten Staatspräsidenten François Hollande, und dessen Beraterin Constance Rivière. Dabei betonte er besonders die dramatisch hohe Selbstmordrate unter jungen Homosexuellen und die Notwendigkeit, für die jungen Erwachsenen Unterbringungsmöglichkeiten außerhalb ihrer Familien zu finden. Zudem regte er an, die bislang bei verschiedenen Ministerien liegenden Zuständigkeiten für die Bekämpfung der Homophobie zu bündeln und ein eigenes Amt zu schaffen. Der Kampf gegen Homophobie könne so auch offiziell zur Staatsaufgabe erklärt werden.
Ende Oktober hat nun die Ministerin für Frauenrechte, Najat Vallaud-Belkacem, einen »Aktionsplan« des Kabinetts gegen Homophobie und Transphobie angekündigt. Es soll auch dazu dienen, etwas gegen die hohe Selbstmordrate bei jungen Schwulen, Lesben sowie Bi- und Transsexuellen zu unternehnen. Dies wurde von »Le Refuge« positiv bewertet. Umso kritischer äußert sich die Vereinigung jedoch darüber, dass die Dringlichkeit, in ihrem familiären Umfeld akut bedrohten jungen homosexuellen Menschen auch Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, nicht erkannt werde. Die Vereinigung fordert eine Vervielfachung der Zahl von Notunterkünften, die Ausbildung spezialisierter Sozialarbeiter, Veranstaltungen und Aufklärungsaktionen zum Thema auch an den Schulen. Die Suizidgefährdung junger Homo- und Transsexueller soll durch zuständige Stellen überwacht werden. Schon vor zwei Monaten hat »Le Refuge« in einer Pressemitteilung anlässlich des »Tags der Selbstmordbekämpfung« davor gewarnt, dass die Regierung über ihr politisch prestigeträchtiges Projekt der Homo-Ehe die Nöte junger Menschen vergessen könnte, deren private Situation sie zwingt, ihre Homosexualität zu verheimlichen.
Die 2003 gegründete Vereinigung engagiert sich gegen die Bedrohung von junge Schwulen, Lesben oder Bi- und Transsexuellen, die von ihrem eigenen familiären und sozialen Umfeld ausgeht. Im August 2011 wurde sie für gemeinnützig erklärt. Deswegen können auch Spenden von Unterstützern von der Steuer abgesetzt werden. Seit Mitte Juni dieses Jahres ist die Vereinigung offiziell als Partnerin der Protection judiciaire de la jeunesse (PJJ) anerkannt, einer Abteilung des Justizministeriums, die sowohl für gefährdete Jugendliche, etwa Missbrauchs- und Gewaltopfer, als auch für Sozialarbeit, of­fene oder geschlossene Erziehungseinrichtungen und den Umgang mit straffälligen Jugend­lichen zuständig ist. Dazu unterzeichnete »Le Refuge« eine Vereinbarung mit dem Justizministerium in Paris. Die »junge Sektion« der Industrie- und Handelskammer verlieh Nicolas Noguier Anfang Juni eine Auszeichnung für »bemerkenswertes Engagement auf dem Gebiet der Bürgerrechte«.
In der französischen Öffentlichkeit wurde »Le Refuge« vor allem durch eine Plakatkampagne im Jahr 2010 bekannt. Die Tafeln zeigten Fotos junger Menschen, die ihr Gesicht mit Händen verdeckten: »Romain, 18 Jahre alt. Von zu Hause verjagt, weil er homosexuell ist«, stand da zu lesen, oder: »Thierry, 16 alt. Sündenbock seines Gymnasiums. Weil er homosexuell ist.« Daraufhin meldeten sich viele junge Opfer von Mobbing, Gewalt oder Diskriminierung in Familie und sozialem Umfeld bei der Vereinigung. Gleichzeitig wurden Petitionen gegen Homophobie verfasst.
In mehreren Gesprächen mit den Jugendlichen und den Mitarbeitern der Organisation in Paris bestätigte sich, was mir der damals zuständige Leiter der Einrichtung, Olivier Keime, bereits bei meinem ersten Besuch im Jahr 2011 erzählt hat: Die jungen Erwachsenen kommen aus unterschiedlichen sozialen, kulturellen und konfessionellen Milieus. »Das geht wirklich quer durch alle Gruppen«, berichtete er, »es gibt zum Beispiel nicht eine besonders über- oder unterrepräsentierte Religion. Es reicht von strenggläubigen Muslimen über Juden bis zu christlichen Familien. Von der oberen Bourgeoisie bis zu Unterklassenhaushalten. Migrantische Familien sind ebenso dabei, wie urfranzösische.« Es sei zum Teil für Außenstehende unvorstellbar, was in manchen Familien – oft aus religiösen Gründen – mit homosexuellen Kindern und Jugendlichen angestellt werde. »Wir treffen etwa junge Menschen, an denen Exorzismusübungen veranstaltet wurden, um ihnen vermeintlich den Teufel auszutreiben.«
Nicht alle Zufluchtsuchenden werden in den Gemeinschaftsunterkünften von Le Refuge untergebracht. »Wir suchen ihnen beispielsweise auch Hotelzimmer«, erzählte Olivier Keime, »in denen sie so lange bleiben können, bis sie sich beruflich orientiert oder stabilisiert haben und dann eine Wohnung finden können. Wir bieten dabei auch Orientierungshilfen. Aber das ist nicht alles: Die jungen Menschen bleiben vor allem nicht allein. Wir organisieren Gruppenaktivitäten, zu denen sie zusammenkommen. Es gibt einmal in der Woche Beratungstreffen, zu denen hilfesuchenende Personen kommen, aber auch die, die bereits an der Gruppe teilnehmen. Wir bieten auf freiwilliger Basis gemeinsame Ausflüge an: Theaterabende, Kulturveranstaltungen. Niemand soll auf sich allein gestellt bleiben.«
Bei meinen Besuchen fällt mir die Vielfalt und Fröhlichkeit in der Gruppe auf. Kulturelle Unterschiede, die andernorts zu Konflikten führen, scheint man hier zu akzeptierten. Man sitzt gemeinsam am Tisch und isst Pizza. »Nein, die Pizza mit Schinken esse ich nicht, denn ich bin immer noch Muslim«, sagt ein junger Mann und fragt sein Gegenüber: »Aber du, was ist mit dir? Ich dachte, als Jude fasst du auch keinen Schinken an?« – »Ja«, gibt der Angesprochene zur Antwort, »das war auch so, bis vor 14 Tagen. Vergangene Woche habe mich anders entschieden.«
Die entspannte Atmosphäre in der Gruppe kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Jugendlichen entwürdigende Erfahrungen gemacht haben. »Ein wichtiges Problem, mit dem wir konfrontiert sind«, sagt Olivier Keime, »ist die Prostitution von jungen Leuten. Die, die bei uns unterkommen, haben oft von ihrer Umgebung signalisiert bekommen, dass sie und ihr Körper nichts wert seien. Deshalb haben sie nicht gelernt, sich selbst zu respektieren. Prostitution in unterschiedlichen Formen und Abstufungen ist generell in der jungen Generation, auch bei Studierenden, verbreiteter, als man denkt. Aber zumeist handelt es sich nur um Gelegenheitsprostitution. Bei Leuten, die sich selbst entwertet fühlten, ist das Risiko größer. Deshalb versuchen wir, die jungen Menschen zu beraten, ihnen mehr Selbstwertgefühl zu geben. Ohne uns in ihr Privatleben einzumischen.« Den Opfern von Homophobie mehr Selbstwertgefühl zu geben, das dürfte auch bedeuten, der Flut von verletzenden Äußerungen aus der Politik und dem Establishment etwas entgegenzusetzen. Homophobie findet sich in allen Milieus wieder, auch im politischen Diskurs wird der Hass auf die »Anderen« geschürt.