Korsika und der französische Staat

Korsika: autonomer Sumpf

Frühere Separatisten haben sich heute in Korsika ins politische und ökonomische System integriert.

Lange Zeit wurde Korsika von einigen seiner Politiker als eine Kolonie Frankreichs betrachtet. Vor allem von den politischen Kräften, die sich als »autonomistisch« beziehungsweise »nationalistisch« definieren. Ab 1975 ging ein Teil von ihnen zum bewaffneten Kampf über und gründete die »Nationale Befreiungsfront Korsikas«, den FLNC. Ihre Aktivitäten begannen mit der Besetzung des Weinguts eines Großgrundbesitzers im Osten der Insel.
Für die Ansicht, die Mittelmeerinsel werde von Frankreich als eine Art Kolonie behandelt, spricht in der Tat historisch so manches. Napoléon Bonaparte errichtete etwa Zollschranken für alle Produkte, die aus Korsika aufs Festland gebracht wurden, und begünstigte umgekehrt die Einfuhr aller Waren aus Frankreich nach Korsika, was die Ökonomie der Insel auf Dauer ruinierte.
Daraufhin wurde 150 Jahre lang den Bewohnerinnen und Bewohnern der Aufstieg im Staatsapparat ermöglicht. So machten viele Korsen Karriere als Polizisten und beim Militär, Charles Pasqua schaffte es sogar bis zum Innenminister. Auf Korsika wurden »Wohltaten« in Gestalt von Sozialleistungen verteilt, als handele sich um private Geschenke, und zwar durch die regierenden Großfamilien, die man auch als Clans beschreiben könnte. Diese waren die politische Hauptstütze der französischen Republik auf der Insel.
So sah das politische System aus, das die frühen Separatisten auf Korsika bekämpften. Ihre Aura der edlen Kämpfer gegen die lokalen Mächtigen haben sie allerdings längst verloren. Denn auch sie sind heute Bestandteil eines undurchsichtigen politischen Machtgeflechts. Begünstigt hat diese Entwicklung die Autonomieregelung, die von der sozialdemokratischen Regierung unter Lionel Jospin mit den konservativen Rechten auf Korsika 1999 ausgehandelt wurde. Durch die erweiterte Autonomie wurde unter anderem ein rechtlicher Rahmen für Investitionen auf der Insel geschaffen, seitdem wird auf Korsika mehr investiert: Vor allem im Luxustourismus, in Spielcasinos – was schon immer eine Spezialität der Korsen im französischsprachigen Afrika war – sowie im Waffengeschäft und im Security-Gewerbe. In diesen Bereichen sind frühere Aktivisten der Autonomiebewegung eifrig mit dabei, die hier eine berufliche Perspektive oder jedenfalls ein Auskommen gefunden haben.

Mitte November wurde in Ajaccio der Chef der korsischen Industrie- und Handelskammer, Jacques Nacer, ermordet. Es habe sich um einen Fehler gehandelt, meinen viele Beobachter. Die wirkliche Zielscheibe sei sein Begleiter gewesen, der mit ihm befreundete Alain Orsoni. Der erfolgreiche Geschäftsmann und Chef eines bekannten Fußballclubs war früher ein wichtiger Vetreter der Nationalisten. Innenminister Manuels Valls und Justizministerin Christine Taubira, die politisch sonst eher selten einer Meinung sind, eilten nach dem Mord gemeinsam auf die Insel. Valls sprach von einer Mafia, die auf der Insel mächtig sei, womit er tendenziell Recht hatte. Die Enthüllungszeitung Le Canard enchaîné lieferte aufschlussreiche Details darüber, wie Polizei und Innenministerium seit Jahren jegliche Ermittlungsarbeit gegen »Interessen« aus dem nationalistischen Milieu systematisch verhinderten. Straffreiheit sei den Betreffenden quasi garantiert. Und so wird der Sumpf, in den auch frühere korsische »Befreiungshelden« gesunken sind, immer tiefer.