Über den Bundesparteitag der Piratenpartei

Promi-Bashing und Shitstorm

Vor dem Bundesparteitag, der am Wochenende in Bochum stattfand, gab es in der Piratenpartei heftige Auseinandersetzungen. Von Harmonie kann auch nach dem Parteitag nicht gesprochen werden.

Über 2 000 akkreditierte Mitglieder, »somit neuer Rekord und zugleich die größte demokratische Versammlung der deutschen Geschichte!« freute sich der offizielle Twitter-Account der Piratenpartei über die Teilnehmerzahl des Bundesparteitags in Bochum am Wochenende. Abgesehen davon, dass Bundesligavereine wie Schalke 04 es bei ihren Mitgliederversammlungen auf deutlich mehr Teilnehmer bringen, war das auch schon die beste Meldung, denn wie so häufig diskreditiert sich auch dieses Mal die programmatische Arbeit umgehend durch Negativschlagzeilen.
Wie beliebig – und wie gehässig – der Piratenschwarm Entscheidungen trifft, zeigte sich gleich am ersten Tag, als während einer Aussprache der Antrag auf sofortige Beendigung der Debatte gestellt wurde. Den Statuten zufolge kann eine solche Entscheidung nach 15 Rednern getroffen werden. Als Sechzehnter hatte sich ausgerechnet der außerhalb Berlins nicht sonderlich beliebte Christopher Lauer zu Wort gemeldet. Und natürlich ließ sich die zunächst auf den Antrag noch zurückhaltend reagierende Versammlung, kaum dass sie erkannt hatte, wem sie per Akklamation das Rederecht verweigern konnte, diese Gelegenheit zum Promi-Bashing nicht entgehen.
Weit gravierendere Folgen hätte eine andere Entscheidung haben können, die nur mit viel Mühe noch rückgängig gemacht werden konnte. Kurz nachdem die anwesenden Mitglieder der Piratenpartei auf die Frage des Versammlungsleiters, ob sie denn wirklich alle zur Abstimmung stehenden Programmentwürfe gründlich gelesen hätten, mehrheitlich mit Ja geantwortet hatten, wurde über einen Antrag zum Thema Inklusion entschieden. Der letzte Passus lautete: »Globale Inklusion bedeutet Raum zu schaffen für Menschen jeglicher Herkunft mit dem Ziel, ihre gesellschaftlichen Eigenheiten und Mentalitäten, Sprache und nationalen Identitäten zu bewahren und zu pflegen. Statt Vereinheitlichung und Equalisierung unserer kulturellen Vielfalt soll eine weltoffene Gesellschaft befürwortet werden.«

Oliver Höfinghoff hatte noch kurz vor der Abstimmung in einem Redebeitrag davor gewarnt, den Antrag anzunehmen, da er die Rhetorik der Neuen Rechten übernehme. Vielleicht hatten die Parteimitglieder ihm nicht zugehört, vielleicht wollten sie dem Berliner, der als Mitglied der Pirantifa nicht bei allen Piraten beliebt ist, auch nur eins auswischen – der Entwurf wurde jedenfalls mit der erforderlichen Zweitdrittelmehrheit angenommen. »Im Programm der Piratenpartei stand also plötzlich nationalistische Kacke drin«, erinnert sich Höfinghoff gegenüber der Jungle World. »Langsam dämmerte allerdings auch anderen, was da gerade beschlossen worden war.« Ein Antrag auf erneute Abstimmung wurde gestellt, »angenommen und die Abstimmung wurde wiederholt. Zweimal, da das Ergebnis zuerst nicht eindeutig war, dann war er endlich abgelehnt. Wäre das nicht passiert, hätte ich sofort danach meinen Austritt erklärt. Mit mir hatten noch einige andere vor, auszutreten.«
Obwohl viele Anträge wie jene zur Asylpolitik aus Zeitmangel gar nicht bearbeitet werden konnten, war die Mehrheit mit den Ergebnissen des Parteitags durchaus zufrieden. Nur wenige Stunden, nachdem sich die Parteimitglieder auf den Weg nach Hause gemacht und per Twitter »Ich vermisse Euch alle jetzt schon« verkündet hatten, war es mit der Harmonie allerdings schon wieder vorbei. Einige Mitglieder hatten gegenüber dem Focus vermutlich ironisch ein »Ermächtigungsgesetz« beklagt – dahinter verbirgt sich, dass der Vorsitzende der Piratenpartei, Bernd Schlömer, in Bochum ein Meinungsbild darüber eingeholt hatte, ob auf dem nächsten Bundesparteitag über Programme oder über einen neuen Vorstand entschieden werden solle.

Die Mehrheit der Anwesenden möchte bei der für das kommende Frühjahr geplanten Veranstaltung lieber programmatisch arbeiten, womit sich die Kritiker des Parteivorstands allerdings nicht abfinden wollen. Im parteieigenen Wiki wurde am Montag im Bereich des Landesverbands Hessen eine eigene Seite eingerichtet, auf der die Bemühungen um eine Neuwahl koordiniert werden sollen. Zu den ersten Unterstützern gehörte Bodo Thiesen, dessen Holocaustrelativierungen eine der ersten Krisen der Partei hervorgerufen hatten. Nach jahrelangen Diskussionen durfte Thiesen Parteimitglied bleiben. Vorstandmitglied Klaus Peukert sagte dazu gegenüber Jungle World: »In dieser Partei kann und darf sich jeder so zum Obst machen, wie er möchte. Dass in dem Zusammenhang auch ausgerechnet Bodo Thiesen wieder Raum gegeben wird, irritiert mich deutlich.«
Ausführlich widmeten sich die Parteimitglieder nach dem Parteitag einem anderen Thema. Anlass war ein Interview, das Philip Brechler und Stephan Urbach dem politischen Monatsmagazin Cicero gegeben hatten. Dort thematisierten beide ausführlich ihr derzeitiges Unbehagen an der Partei und dem Parteitag. Brechler und Urbach waren als Wahl- respektive Versammlungsleiter tätig gewesen, sie hatten die Bochumer Veranstaltung jedoch noch vor deren Beendigung entnervt verlassen. Brechler konstatierte unter anderem: »Vielen Piraten fehlt die politische Bildung – und sie sind extrem obrigkeitshörig.« Umgehend begann ein ausgewachsener Shitstorm, in dessen Verlauf Urbach nach heftigen persönlichen Angriffen seinen Twitter-Account vorübergehend stilllegte.

Aber es gibt auch Piraten, die nach dem Parteitag nicht in persönliches Gezänk verfielen, sondern über Basisdemokratie zu streiten begannen. Dass ausgerechnet bei der selbsternannten Mitmachpartei nur diejenigen über das Programm entscheiden können, die über genügend Zeit und Geld verfügen, um zu Parteitagen zu reisen, wollen viele Mitglieder ändern. »Piraten, die die Möglichkeit haben, auf den Bundesparteitag zu fahren, entscheiden darüber, ob alle anderen, die dieses Privileg nicht haben, Partizipationsmöglichkeiten an Entscheidungen der Partei haben«, beschreibt die Berliner Piratin Mareike Peters das Problem. Nicht einmal zehn Prozent der Mitglieder bestimmen derzeit über das Programm, eine Alternative könnte die Ständige Mitgliederversammlung (SMV) sein. Verbindliche Entscheidungen könnten Mitglieder dann bequem am Computer treffen. »Der Bochumer Parteitag hat die Grenzen unserer bisherigen Prozesse aufgezeigt. 2 000 Piraten, die über 800 Anträge debattieren, das funktioniert nicht mehr«, sagt auch Peukert. »Wir brauchen Möglichkeiten, auch außerhalb und gestützt durch das Internet, Entscheidungen zu treffen und die Bundesparteitage so sinnvoll zu ergänzen.« Andere Alternativen wie ein klassisches Delegiertensystem oder die Aufwertung von Arbeitsgemeinschaften seien dagegen »nicht zielführend«.
Ein Problem könnte aber auch eine SMV nicht lösen: In der Vergangenheit hatten sich gerade Mitglieder der Piratenpartei immer wieder darüber mokiert, dass Bundestagsabgeordnete bei Entscheidungen zwar formal nur ihrem Gewissen verpflichtet sind, in der Praxis jedoch von der Parteivorgabe abweichendes Stimmverhalten kaum vorkommt. Eine nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete der Piratenpartei, Birgit Rydlewski, kündigte nun an, aus Gewissensgründen für das Nichtraucherschutzgesetz zu votieren. In einem Positionspapier hatte sich ihre Partei jedoch gegen diese Vorlage ausgesprochen und vor allem kritisiert, dass E-Zigaretten normalen Tabakprodukten gleichgestellt würden. Rydlewskis angekündigte Gewissensentscheidung können anscheinend nicht alle Parteimitglieder tolerieren. Vor zwei Tagen beklagte die Landtagsabgeordnete auf Twitter, sie werde gemobbt.