Crimethinc im Gespräch über Anarchismus in den USA, die Krise und die »Occupy«-Bewegung

»Die Aneignung der Produktionsmittel wird eine destruktive Sache sein«

Was tun mit Callcentern und Atomkraftwerken nach der Revolution? Das US-amerikanische anarchistische Netzwerk Crimethinc plant schon mal für die Zeit danach. Zwei Mitglieder des Netzwerks sprechen darüber, welche Chancen sich aus der gegenwärtigen Krise ergeben können und was von der »Occupy«-Bewegung zu lernen ist.

Ihr habt auf eurer Veranstaltungstour in verschiedenen europäischen Städten über die Entwicklung internationaler Strategien gegen den Kapitalismus gesprochen und hervorgehoben, dass die erfolgreichen Kämpfe heute weniger in der Produktion selbst stattfinden und sich Widerstand eher außerhalb der Arbeitsstätten und Arbeitszeit bildet.
N*: Wir haben es mit Prekarität zu tun, damit, dass wir keine feste Position in der Wirtschaft haben; stattdesssen sind wir heute mit unserer Instabilität im Weltkapitalismus konfrontiert. Das könnte eine neue Möglichkeit sein, damit Menschen in Zukunft zusammenkommen können. In der nordamerikanischen »Occupy«-Bewegung konnten wir den Beginn davon erleben. Sie gründet nicht in den Arbeitsstätten, nicht in den Schulen, sondern außerhalb der Wirtschaft, auf einer Sache, die wir immer noch teilen, nämlich unserer Verletzbarkeit im Kapitalismus. Die »Occupy«-Bewegung entspricht nicht unserer Vision einer idealen antikapitalistischen Bewegung, aber sie lehrt einige wichtige Lektionen darüber, auf welchen Wegen die Leute zukünftig gegen den Kapitalismus kämpfen könnten.
Eine wichtige Sache, die man im Kopf haben muss, wenn man außerhalb der Produktion angreift, ist, dass wir sie brauchen. Eines der Ziele ist die Aneignung der Produktionsmittel – oder was ist eure Meinung dazu?
B: Wenn der gegenwärtige Kampfzyklus erfolgreich ist, so wird er unserer Meinung nach damit enden, dass die Prekären und Ausgegrenzten zur Seite der Produktion zurückkehren, und zwar als eine umgestaltende Kraft. Aber wir müssen die Mittel, durch die unser Leben produziert und reproduziert wird, nicht nur ergreifen, sondern sie verändern. Das wird ganz anders aussehen als in den Phantasien der Leute vor hundert Jahren, als die Idee war, dass wir einfach die Fabriken für uns arbeiten lassen, dass wir einfach weiter Waren produzieren. Heute, da immer mehr Leute Dinge tun, die außerhalb des kapitalistischen Rahmens keinen Sinn ergeben wie beispielsweise Telefonmarketing, wird die Beschlagnahme der Produktion tatsächlich sehr viel destruktiver aussehen. Wir müssen überlegen, was wir als Gattung eigentlich grundlegend wollen, und zwar in einer Art und Weise, die viel umfassender ist als alles, was der Anarchosyndikalismus um 1910 angeboten hat.
Es gibt keine natürliche Welt, zu der man zurückkehren könnte. Es wird keine primitivistische Zukunft geben, sondern mehr eine Steampunk-Zukunft, in der all die vom Kapitalismus produzierten Trümmer irgendeinem Nutzen zugeführt werden, so dass wir überleben können. So gesehen stimme ich dir zu. Aber Werkzeug ist konkret gewordene Ideologie. Man kann nicht einfach ein Werkzeug nehmen, das gemäß den Ansprüchen eines ideologischen Systems hergestellt wurde, und glauben, dass es sich neutral in einem anderen Kontext verhalten würde. Man muss das Werkzeug immer kritisch benutzen, subversiv und auf eine Weise, die sein Potential verändert.
N: In den USA befindet sich heute die Mehrzahl der Jobs, in denen Menschen arbeiten, nicht mehr in der Produktion, sondern im Dienstleistungssektor. Wenn ein so großer Teil der Wirtschaftsleistung nicht in den Fabriken oder der Landwirtschaft erbracht wird, sondern in Cafés, Callcentern, Immobilienbüros oder im Einzelhandel, dann sieht die Aneignung der Produktionsmittel wirklich anders aus. Wir können nicht einfach mit denselben aus dem Kapitalismus stammenden Funktionen weitermachen, nur dass wir statt für den Profit der Chefs für das Wohl der Gemeinschaft arbeiten. Tatsächlich ist heute der Großteil der wirtschaftlichen Aktivität in den USA nutzlos, sie hat keinen Wert außer den Tauschwert. Natürlich brauchen wir die materiellen Hilfsmittel, um unsere Welt neu hervorzubringen: Ländereien, Güter, Rohstoffe. Und es wird viele Kämpfe brauchen, um dieses Territorium zu erobern und zu verteidigen. Aber das bedeutet nicht einfach, dass die Arbeiter ihre Arbeitsstätten besetzen und die Maschinen für ein proletarisches Utopia benutzen, sondern vielmehr die Demontage eines großen Teils der Wirtschaft, die nie auf menschlichen Bedürfnissen gründete. Außerdem müssen wir im Blick behalten, wie das Leben aufrechtzuerhalten ist, nachdem die kapitalistische Wirtschaft den Globus an seine Grenze gebracht hat. Daher sind wir nicht daran interessiert, das volle Level der Ausnutzung der industriellen Ökonomie aufrechtzuerhalten und einfach zu versuchen, den gegenwärtigen Lebensstandard möglichst gleichmäßig unter unseren sieben Milliarden Menschen aufzuteilen. Es werden einige wirklich radikale Veränderungen in unserem Alltagsleben entwickelt werden müssen.
Zurück zur Realität. Die US-amerikanische »Occupy«-Bewegung mit ihrem Slogan gegen das eine Prozent schien mir nicht unbedingt in diese Richtung zu gehen?
N: Die Hinterlassenschaft der »Occupy«-Bewegung ist natürlich nicht einheitlich, aber sie hat eine Menge unterschiedliche Leute zusammengebracht, von denen viele vorher nie in eine soziale Bewegung involviert waren oder nicht einmal wussten, was sie überhaupt denken, die aber jetzt bemerken, dass einige grundlegende Dinge verändert werden müssen, damit wir in einer freien Welt leben können. Aber zu der Sache mit dem einen Prozent und den 99 Prozent: Einerseits bewerte ich es insbesondere in den USA als positiv, dass sie die Leute dazu gebracht hat, über Klasse zu reden und die Ungleichheit des Reichtums in der Struktur der Wirtschaft zu suchen. Das passiert in den USA wirklich nicht besonders oft. Aber natürlich gibt es mit diesem Bezugssystem auch viele, viele Probleme. Es ist einfach ein wenig zu simpel. Die Phrase vom »einen Prozent« vermittelt den Eindruck, dass der Kapitalismus deshalb ein schlechtes System sei, weil die Leute an seiner Spitze gemein und gierig sind, und wenn wir sie nur loswerden und ersetzen könnten, würde der Rest von uns das schon machen. Aber so funktioniert das nicht. Kapitalismus ist eine Struktur, die Wohlstand nach oben hin verteilt und die an ihrer Spitze Macht konzentriert. Es geht nicht um eine geheime, gierige Elite an der Spitze, die unser Leben kontrolliert.
Was ist mit den 99 Prozent? Eigentlich denke ich, dass ich niemals Teil der Mehrheit sein will.
N: Genau. Als Anarchist frustriert mich an der Rede von den 99 Prozent, dass sie vorgibt, unsere Forderungen seien nur berechtigt, wenn sie von der Kraft der Mehrheit abgedeckt werden. Dabei wird eine Menge von Konflikten, Differenzen und Unterdrückung innerhalb der 99 Prozent verschleiert und versteckt: die Trennungen der Menschen anhand von Geschlecht, Rasse, Staatsbürgerschaft und Klasse. In vielen Fällen war der Ruf nach Einigkeit, wie der der 99 Prozent, tatsächlich ein repressiver Ruf. De­finitiv ist dieser Begriff nicht geeignet, um zu verstehen, was passiert, oder einen effektiven Weg zu finden, wie man dagegen kämpft. Aber hoffentlich können die dort involvierten Leute, die mit der Wahrnehmung anfingen, dass wir in einem grundsätzlich ungerechten und grundsätzlich ungleichen System leben, auch bemerken, dass wir darüber hinausgehen müssen. Und hoffentlich werden sie dazu fähig sein, neue Formen des Kampfes zu entwickeln, Formen, die manchmal auf Konsens beruhen und darauf, dass große Gruppen transparent zusammenarbeiten, die aber auch das Bedürfnis nach Autonomie berücksichtigen, unsere Fähigkeit, unabhängig zu agieren und die von uns gewünschten Welten direkt einzufordern, ohne dabei vom Mehrheitsgesetz, von den demokratischen Strukturen in ihrer formellen Bedeutung genommen, abzuhängen.
Glaubt ihr ein an irgendeine Art von Revolution, einen Punkt, an dem sich alles wendet, eine Art revolutionäre, visionäre Katastrophe? Oder eher an einen evolutionären Prozess kontinuierlicher Kämpfe?
B: Ich denke, dass grundsätzliche Brüche mit einer kontrollierten Gesellschaft absolut notwendig sind. Es geht nicht darum, die Angelegenheit innerhalb eines auf Kontrolle beruhenden Systems zu reformieren, sondern vielmehr darum, mit dieser Kontrolle zu brechen. Eine Revolution wird wahrscheinlich nicht genug sein, um all die von uns verlangten Änderungen einzuführen, wir reden eher von einer Reihe von revolutionären Kämpfen.
N: Die Schönheit der von Anarchisten vertretenen Werte und ihre Schwierigkeit liegt darin, dass wir gegen jede Form der Hierarchie sind, dass wir das Patriarchat, den Heterosexismus und die Vorherrschaft der Weißen oder die Zerstörung der Umwelt und die Ausbeutung der Tiere nicht einfach für Konsequenzen des Kapitalismus halten. Sie stehen zu ihm im Verhältnis und sind auf wichtige Weise mit ihm verschränkt, aber man kann nicht einfach den Kapitalismus umstürzen, und danach verschwinden alle anderen Formen der Hierarchie einfach so, über Nacht, und wir haben das Utopia, nach dem wir uns immer gesehnt hatten. Es wird vielmehr ein konstanter, die ganze menschliche Geschichte umfassender Prozess sein, in dem mehr und mehr herausgebracht wird, wie wir uns mit den Teilen unserer selbst identifizieren können, die Richtung Freiheit streben, die auf Befreiung abzielen. Das ist ein Prozess, eine Revolution, die in jedem menschlichem Herzen vonstatten gehen muss, in jedem menschlichen Leben.
Vielleicht ist es aber auch umgekehrt. Wenn wir nicht von vornherein mit allen Unterdrückungsformen brechen, werden wir niemals den Kapitalismus besiegen, so dass es nicht zuerst um den Kapitalismus geht und dann in der nächsten Revolution um die Geschlechterfrage, sondern darum, das alles zusammen zu besiegen.
B: Ein Kampf, der nicht mit dem Patriarchat und anderen Formen der Unterdrückung in den eigenen Reihen fertig wird, wird nicht stark genug sein und ist zum Scheitern verurteilt. Nächste Frage.
Wie habt ihr auf eurer Reise Europa wahrgenommen?
B: Es hängt davon ab, in welchem Land man sich befindet. Wir waren hauptsächlich in Zentral- und Nordeuropa unterwegs, also in Ländern, die immer noch Inseln wirtschaftlicher Stabilität sind, während Europa von Süden her verbrennt.
N: Auf unserer Reise durch Europa haben wir oft gehört, dass Radikale sagen, die Leute hier würden sich sehr sicher fühlen und sich mit dem Staat identifizieren, hätten daher keine Lust zu rebellieren und wären für anarchistische Botschaften unempfänglich. Müssen wir daher warten, bis die Krise alles schlechter macht, um dann für eine revolutionäre Situation zu kämpfen? Ich glaube nicht, dass es schlimmer werden muss, damit es besser wird. Der Grund dafür, dass Leute revoltieren, liegt eher im Gegensatz zwischen dem, was empfunden, beansprucht oder erwartet wird, dem, was man sich vorstellen kann einerseits, und andererseits dem, was erfahren wird, so wie die Sache gerade läuft. Wenn in einigen dieser Sozialdemokratien die Sozialdemokratie nachzulassen beginnt und sich die Krise intensiviert, dann könnten diejenigen, die meinen, einen Anspruch auf die Vorzüge ihrer Gesellschaft zu haben, sogar sehr heftig gegen die Beeinträchtigungen ihrer Pri­vilegien rebellieren. Die Frage wird eher darin bestehen, herauszubekommen, wie man das revolutionäre Projekt so aufbaut, dass es nicht auf Kosten des Rests der Welt die Privilegien einer isolierten Gruppe schützt, indem man eine gesicherte Grenze um Norwegen oder die Schweiz aufrechterhält, um all die wütenden armen Leute draußen zu halten, auf dass die Wohlhabenden weiter auf dem gegenwärtigen Level konsumieren und vorgeben können, alles sei in Ordnung.
Aber was ist mit der Gefahr einer autoritären Antwort auf die gegenwärtigen Probleme?
N: Was wir an allen Orten bemerkt haben, ist, dass immer dann, wenn die Konflikte näher kommen und die Sozialdemokratie an ihren Rändern ein wenig zu bröckeln beginnt, faschistische Einstellungen zunehmen. Eine Sprache, die den Einwanderern die Schuld gibt und rassistische Ideen aufrechterhält, wird breiter akzeptiert. Das ist einer der Trends, die sich verschärfen werden, wenn die Wirtschaftskrise um sich greift. Das ist einer der Gründe, warum Anarchisten sich besonders darauf konzentrieren sollten, die Grenzen und die Legitimität des Staates, den Rassismus und den Hass auf Einwanderer in Frage zu stellen. Die wirkliche Frage wird darin bestehen, herauszufinden, wie man die revolutionären Umbrüche und Veränderungen in der ganzen Welt damit verbinden kann, dass alle befähigt werden, sich frei über alle Grenzen hinweg zu bewegen, und damit, dass die Güter für alle frei verfügbar werden.
B: Die Instabilität eröffnet neue Möglichkeiten. Wenn Anarchisten sich weiterhin in einer kleinen Nische einrichten, dann werden wir die sich in einer destabilisierten Gesellschaft bietenden Chancen verpassen und die Faschisten werden sie ergreifen. Also müssen wir auf die Möglichkeit vorbereitet sein, dass unsere Ideen und Vorschläge plötzlich für andere Menschen interessant werden könnten. Wir dürfen uns nicht einfach vor dem Rest der Gesellschaft verstecken, sondern müssen uns einbringen, damit wir die Chance haben, uns mit anderen Menschen zu verbinden. Wenn wir das nicht tun, werden es die Faschisten sicher tun.

* Die Interviewten gehören zum Netzwerk Crimethink und möchten anonym bleiben.