Türkische Künstler protestieren gegen das Militär

Das Dorf der toten Kinder

Zum Jahrestag des Roboski-Massakers an jungen Kurden protestieren Künstler in Istanbul mit ihren Arbeiten gegen das Vorgehen des türkischen Militärs.

Gegen 18.30 Uhr hatte das türkische Militär die Karawane der 38 jungen Kurden auf dem Rückweg aus dem Nordirak entdeckt. Sie hatten beladene Esel dabei. Der Generalstab erklärte später, da die Gruppe einen auch von der PKK frequentierten Weg genommen habe, sei die Entscheidung gefallen, sie anzugreifen. Man habe sie für Terroristen gehalten. Zwischen 21.30 Uhr und 22.30 Uhr bombardierten türkische Kampfjets am 28. Dezember 2011 die wehrlosen Männer, 17 davon noch minderjährig. Im Bericht des Türkischen Menschenrechtsvereins sind 35 Tote und ein Schwerverletzter verzeichnet, nur drei Menschen haben das Massaker überlebt. Schnell stellte sich heraus, dass es sich bei den Toten nicht um PKK-Kämpfer, sondern um harmlose Schmuggler handelte. Die Esel waren mit Kanistern mit Benzin beladen, das die Dorfbewohner billig im Irak eingekauft hatten und in der Türkei weiterverkaufen wollten.
Der Vorfall ereignete sich kurz vor dem Neujahrsfest, das in der Türkei mit Geschenken und gutem Essen gefeiert wird. Die Bilder der 35 in bunte Decken eingewickelten toten jungen Männer schockierten die türkische Öffentlichkeit. Der Begräbniszug wirkte wie eine Szene aus einem Pasolini-Film mit Müttern, Vätern, Geschwistern und Verwandten, deren Gesichter wie versteinert waren.
Ein Jahr später ist das Ereignis noch immer im Gedächtnis der Öffentlichkeit präsent. Die Tötung der Zivilisten blieb juristisch jedoch folgenlos. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss kam zu dem Ergebnis, es habe sich bei der Bombardierung um ein »tragisches Versehen« gehandelt. Niemand verlor wegen dieses »Versehens« sein Amt, geschweige denn, dass die in großer Armut lebenden Familien der Getöteten eine Entschädigung zu erwarten hätten. Dies hätte zumindest die moralische Anerkennung des schrecklichen Unrechts bedeutet.
Am Jahrestag des Massakers berichteten die türkischen Medien entsprechend ihrer politischen Ausrichtung über den Angriff. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu tat so, als ob niemand an der Gedenkfeier in der Provinz Şırnak teilgenommen habe, zu der die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie aufgerufen hatte. Die großen Zeitungen des Landes ignorierten den Jahrestag, einzig die Kunstszene widmete sich der Aufarbeitung des Ereignisses.
So gibt es mittlerweile Fotografien und Dokumentarfilme, die dem Geschehen gerecht zu werden versuchen. Die Istanbuler Galerie Depo zeigt zum ersten Jahrestag auf zwaei Etagen Videoinstallationen des kurdischen Künstlers Taylan Mintaş und Fotografien von Caner Özkan. Ein Video beschäftigt sich mit dem Protestmarsch des Kriegsdienstverweigerers Halil Savda, der aus Solidarität mit den Opfern zu Fuß von Şırnak nach Ankara gelaufen ist. Der Fotograf Caner Özkan hat ihn nach Şırnak begleitet und blieb fünf Tage in den beiden Ortschaften, aus denen die getöteten Männer kamen. Er fotografierte die Gräber in den Dörfern Gülyazı (kurdisch Bujeh) und Ortasu (kurdisch Roboski) und die trauernden Angehörigen. Es sind Aufnahmen voller Empathie, aber ohne Pathos. Özkan ist kein Kurde, er stammt aus dem thrakischen Kırıkları. Den Besuch empfand er als intensives und zugleich sehr anstrengendes Erlebnis. »Ich habe in dem Bett eines der Getöteten geschlafen und hatte einen engen Kontakt zu den Hinterbliebenen. Obwohl die Menschen sehr tapfer sind, beherrscht eine bleierne Traurigkeit den Ort. Es ist zwar auch nicht so, dass hier alle jungen Männer ums Leben gekommen wären. Die Familien habe oft sechs bis acht Kinder. Aber jeder hat einen Bruder, Cousin oder Verlobten verloren.«
Die Provinz Şırnak im Südosten der Türkei zeichnet sich durch eine rauhe Landschaft aus. Die Berghänge und Schluchten sind im Winter von Schnee bedeckt, im Sommer leuchten sie in sattem Grün, zumindest dort, wo nach den Rodungsbränden in den neunziger Jahren das Gras nachgewachsen ist. Die Provinz Şırnak wurde damals vom türkischen Militär nahezu entvölkert. Nur Ortschaften, deren Bewohner sich als sogenannte Dorfschützer gegen die PKK stellten, blieben verschont. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt, die Infrastruktur zerstört, die Wälder gerodet, das Vieh durften die Bauern nicht mehr auf die Alm treiben, damit niemand der PKK Proviant liefern konnte. Auf einem Foto von Caner Özkan ist ein Dorfschützer zu sehen. Ein seltenes Dokument, denn die Dorfschützer lassen sich ungern ablichten, aus Angst vor Vergeltungsmorden durch die PKK. Dazu kommt die Scham, denn bei vielen Kurden gelten die Dorfschützer als Kollaborateure des türkischen Staates und Verräter an der kurdischen Sache.
Dem Fotografen ist es gelungen, Nähe zu den Bewohnern von Bujeh und Roboski aufzubauen. Die Bilder zeugen von Trauer und strahlen eine schlichte Schönheit aus. Halime Encü ist die Mutter von Serhat, der nur 17 Jahre alt wurde. Sie hält eine gerahmte Fotografie des Sohnes im Arm, ihre Tochter Züleyha lehnt an ihrer Schulter. Der Junge wollte mit dem Benzinschmuggel Geld für die Ausbildung eines Bruders verdienen. Auf einem anderen Foto schluchzt die Kurdin Semire in das Hemd ihres toten Sohnes Selam, seine Schulbücher liegen verwaist herum. »Die Leute haben überhaupt keine Perspektive«, sagt Caner Özkan, »bis auf den Schmuggel gibt es dort keine Erwerbsmöglichkeit. Die Grundlagen für die Landwirtschaft wurden im Krieg zerstört, eine Industrie gibt es nicht. Also werden die Jungen in den Irak geschickt«. Ein anderes Foto zeigt Kerem Encü, den älteren Bruder von Serhat. Er reitet auf einem Esel denselben Weg in Richtung Nordirak entlang, der seinem Bruder zum Verhängnis wurde.
Die Künstlerin Taylan Mintaş präsentiert in einem schlauchförmigen Raum der Galerie ihre Videos. Es sind Aufnahmen der Toten und ihrer Dörfer sowie eine Fotomontage aus Fernsehausschnitten, in denen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan zu dem Vorfall Stellung bezieht. Besonders absurd war seine Feststellung, dass man sich angesichts der vielen Abtreibungen in der Türkei schwerlich über dieses Massaker empören könne. So viele Kinder würden schließlich im Krankenhaus getötet. Auch der Dokumentarfilm »Weine nicht Mutter, ich bin an einem schöneren Ort« von Ümit Kıvanç wurde am Jahrestag des Massakers in einer Galerie in Istanbul gezeigt. Er schildert das Massaker aus der Perspektive der Angehörigen und spiegelt es in den Kommentaren der Politiker und Militärs. Es scheint, dass immerhin in der Kunst die Tragweite des Geschehens in Şırnak erfasst worden ist.Gegen 18.30 Uhr hatte das türkische Militär die Karawane der 38 jungen Kurden auf dem Rückweg aus dem Nordirak entdeckt. Sie hatten beladene Esel dabei. Der Generalstab erklärte später, da die Gruppe einen auch von der PKK frequentierten Weg genommen habe, sei die Entscheidung gefallen, sie anzugreifen. Man habe sie für Terroristen gehalten. Zwischen 21.30 Uhr und 22.30 Uhr bombardierten türkische Kampfjets am 28. Dezember 2011 die wehrlosen Männer, 17 davon noch minderjährig. Im Bericht des Türkischen Menschenrechtsvereins sind 35 Tote und ein Schwerverletzter verzeichnet, nur drei Menschen haben das Massaker überlebt. Schnell stellte sich heraus, dass es sich bei den Toten nicht um PKK-Kämpfer, sondern um harmlose Schmuggler handelte. Die Esel waren mit Kanistern mit Benzin beladen, das die Dorfbewohner billig im Irak eingekauft hatten und in der Türkei weiterverkaufen wollten.
Der Vorfall ereignete sich kurz vor dem Neujahrsfest, das in der Türkei mit Geschenken und gutem Essen gefeiert wird. Die Bilder der 35 in bunte Decken eingewickelten toten jungen Männer schockierten die türkische Öffentlichkeit. Der Begräbniszug wirkte wie eine Szene aus einem Pasolini-Film mit Müttern, Vätern, Geschwistern und Verwandten, deren Gesichter wie versteinert waren.
Ein Jahr später ist das Ereignis noch immer im Gedächtnis der Öffentlichkeit präsent. Die Tötung der Zivilisten blieb juristisch jedoch folgenlos. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss kam zu dem Ergebnis, es habe sich bei der Bombardierung um ein »tragisches Versehen« gehandelt. Niemand verlor wegen dieses »Versehens« sein Amt, geschweige denn, dass die in großer Armut lebenden Familien der Getöteten eine Entschädigung zu erwarten hätten. Dies hätte zumindest die moralische Anerkennung des schrecklichen Unrechts bedeutet.
Am Jahrestag des Massakers berichteten die türkischen Medien entsprechend ihrer politischen Ausrichtung über den Angriff. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu tat so, als ob niemand an der Gedenkfeier in der Provinz Şırnak teilgenommen habe, zu der die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie aufgerufen hatte. Die großen Zeitungen des Landes ignorierten den Jahrestag, einzig die Kunstszene widmete sich der Aufarbeitung des Ereignisses.
So gibt es mittlerweile Fotografien und Dokumentarfilme, die dem Geschehen gerecht zu werden versuchen. Die Istanbuler Galerie Depo zeigt zum ersten Jahrestag auf zwaei Etagen Videoinstallationen des kurdischen Künstlers Taylan Mintaş und Fotografien von Caner Özkan. Ein Video beschäftigt sich mit dem Protestmarsch des Kriegsdienstverweigerers Halil Savda, der aus Solidarität mit den Opfern zu Fuß von Şırnak nach Ankara gelaufen ist. Der Fotograf Caner Özkan hat ihn nach Şırnak begleitet und blieb fünf Tage in den beiden Ortschaften, aus denen die getöteten Männer kamen. Er fotografierte die Gräber in den Dörfern Gülyazı (kurdisch Bujeh) und Ortasu (kurdisch Roboski) und die trauernden Angehörigen. Es sind Aufnahmen voller Empathie, aber ohne Pathos. Özkan ist kein Kurde, er stammt aus dem thrakischen Kırıkları. Den Besuch empfand er als intensives und zugleich sehr anstrengendes Erlebnis. »Ich habe in dem Bett eines der Getöteten geschlafen und hatte einen engen Kontakt zu den Hinterbliebenen. Obwohl die Menschen sehr tapfer sind, beherrscht eine bleierne Traurigkeit den Ort. Es ist zwar auch nicht so, dass hier alle jungen Männer ums Leben gekommen wären. Die Familien habe oft sechs bis acht Kinder. Aber jeder hat einen Bruder, Cousin oder Verlobten verloren.«
Die Provinz Şırnak im Südosten der Türkei zeichnet sich durch eine rauhe Landschaft aus. Die Berghänge und Schluchten sind im Winter von Schnee bedeckt, im Sommer leuchten sie in sattem Grün, zumindest dort, wo nach den Rodungsbränden in den neunziger Jahren das Gras nachgewachsen ist. Die Provinz Şırnak wurde damals vom türkischen Militär nahezu entvölkert. Nur Ortschaften, deren Bewohner sich als sogenannte Dorfschützer gegen die PKK stellten, blieben verschont. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt, die Infrastruktur zerstört, die Wälder gerodet, das Vieh durften die Bauern nicht mehr auf die Alm treiben, damit niemand der PKK Proviant liefern konnte. Auf einem Foto von Caner Özkan ist ein Dorfschützer zu sehen. Ein seltenes Dokument, denn die Dorfschützer lassen sich ungern ablichten, aus Angst vor Vergeltungsmorden durch die PKK. Dazu kommt die Scham, denn bei vielen Kurden gelten die Dorfschützer als Kollaborateure des türkischen Staates und Verräter an der kurdischen Sache.
Dem Fotografen ist es gelungen, Nähe zu den Bewohnern von Bujeh und Roboski aufzubauen. Die Bilder zeugen von Trauer und strahlen eine schlichte Schönheit aus. Halime Encü ist die Mutter von Serhat, der nur 17 Jahre alt wurde. Sie hält eine gerahmte Fotografie des Sohnes im Arm, ihre Tochter Züleyha lehnt an ihrer Schulter. Der Junge wollte mit dem Benzinschmuggel Geld für die Ausbildung eines Bruders verdienen. Auf einem anderen Foto schluchzt die Kurdin Semire in das Hemd ihres toten Sohnes Selam, seine Schulbücher liegen verwaist herum. »Die Leute haben überhaupt keine Perspektive«, sagt Caner Özkan, »bis auf den Schmuggel gibt es dort keine Erwerbsmöglichkeit. Die Grundlagen für die Landwirtschaft wurden im Krieg zerstört, eine Industrie gibt es nicht. Also werden die Jungen in den Irak geschickt«. Ein anderes Foto zeigt Kerem Encü, den älteren Bruder von Serhat. Er reitet auf einem Esel denselben Weg in Richtung Nordirak entlang, der seinem Bruder zum Verhängnis wurde.
Die Künstlerin Taylan Mintaş präsentiert in einem schlauchförmigen Raum der Galerie ihre Videos. Es sind Aufnahmen der Toten und ihrer Dörfer sowie eine Fotomontage aus Fernsehausschnitten, in denen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan zu dem Vorfall Stellung bezieht. Besonders absurd war seine Feststellung, dass man sich angesichts der vielen Abtreibungen in der Türkei schwerlich über dieses Massaker empören könne. So viele Kinder würden schließlich im Krankenhaus getötet. Auch der Dokumentarfilm »Weine nicht Mutter, ich bin an einem schöneren Ort« von Ümit Kıvanç wurde am Jahrestag des Massakers in einer Galerie in Istanbul gezeigt. Er schildert das Massaker aus der Perspektive der Angehörigen und spiegelt es in den Kommentaren der Politiker und Militärs. Es scheint, dass immerhin in der Kunst die Tragweite des Geschehens in Şırnak erfasst worden ist.